Der Umgang mit Menschen, die durch ein Trauma geprägt sind, das oftmals sogar auf Gewalt und Missbrauch im kirchlichen Rahmen zurückzuführen ist, muss Kirche und Theologie umdenken lassen. Dr. Andreas Stahl gibt Einblicke in seine Dissertation.
Was kirchengeschichtlich vom 21. Jahrhundert bleiben wird, sind mit großer Wahrscheinlichkeit die Missbrauchsskandale. Im Zentrum christlicher Kirchen wurden Taten verübt, die dem Wesen des christlichen Glaubens zutiefst widersprechen. Die historische Liste kirchlicher Sünden ist lang, aber was hier passiert ist, geht tiefer. Massenhafte sexuelle Gewalt gegen Schutzbefohlene. Was könnte perfider sein? Gerne weisen Verantwortungsträger deswegen auf Gewalt und Missbrauch außerhalb der Kirchen hin: vor allem in Familien, aber auch Vereinen und sozialen Einrichtungen geschehe ähnliches. Die absolute Zahl der Betroffenen sei dort ungleich höher.1
Das stimmt statistisch. Und dennoch werden die falschen Schlussfolgerungen gezogen. Der Blick auf die weite Verbreitung von Missbrauch kann theologisch durchdacht nicht zur Feststellung führen, dass die Kirchen doch so viel schlechter gar nicht seien; sondern eigentlich nur zu der Erkenntnis, dass das Problem noch sehr viel größer ist, als gedacht. Denn wenn Missbrauch in solch großen Zahlen in Familien, Vereinen und sozialen Einrichtungen geschieht, bedeutet das zusätzlich zur innerkirchlichen Krisensituation, dass die Kirchen eine elementare gesellschaftliche Problematik über Jahrhunderte nicht erkannt haben. Die Studie von Stadler, Bieneck et al mit einer Stichprobe von über 9000 Befragten, weist auf etwa 4,4% Betroffenheit von sexuellem Kindsmissbrauch in der bundesdeutschen Gesamtbevölkerung hin.2 Legt man dies auf die Zahlen von Mitarbeiter*innen, Theolog*innen, Gottesdienstbesucher*innen oder schlicht Kirchenmitglieder um, werden die Ausmaße deutlich. Da geschah und geschieht unsägliches Leid in Kirche und Gesellschaft und die Kirchen haben es nicht gesehen – oder sie wollten es nicht sehen.
Wie damit umgehen? Ich habe keine Antworten, möchte aber einen Ansatz vorstellen, den ich für weiterführend halte: die Suche nach einer traumasensiblen Theologie.
Die Verletzung der Seele
Der Begriff Trauma leitet sich vom griechischen „τὸ τραῦμα“ ab und bedeutet „Wunde“, „Verletzung“ oder übertragen „Verlust“.3 Er wurde medizinhistorisch vor allem in der Chirurgie zur Beschreibung schwerer physischer Wunden verwendet. Von dort wurde er in der Neuzeit auf die Psyche übertragen. Anfangs infolge von Eisenbahnunfällen, später vor allem durch die beiden Weltkriege bedingt, entwickelte sich nach und nach ein Verständnis für „psychische Wunden“. Es wurde immer klarer gesehen, dass die menschliche Psyche nicht grenzenlos ausgleichsfähig ist: es gibt Ereignisse im Leben von Menschen, die tiefe Wunden hinterlassen, ja Menschen brechen können. Wie eine körperliche Verwundung einen Menschen verändern oder umformen kann, so kann das auch eine seelische Verletzung.
Das Wort „Verletzung“ hat dabei wie das Wort „Trauma“ einen Doppelsinn. Es kann sowohl ein Ereignis als auch dessen Folgen bezeichnen. Und genau in diesem Doppelsinn konserviert sich ein zentrales Bedeutungselement der Konzeption „Trauma“. Es ist eben das Spezifische an einem Trauma, dass das Ereignis und die Folgen des Ereignisses zusammenfallen. Das Ereignis geht nicht einfach vorüber. Seine Folge ist, dass das Ereignis ständig gegenwärtig bleibt. Ein Trauma ist ein Schrecken, der nicht weiß, dass er vergangen ist.
Die ständige Gegenwart des Traumas
Im Jahr 1980 wurde die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) als offizielle Diagnose in das DSM III – dem maßgeblichen US-amerikanischen Diagnosemanual – aufgenommen. Was nach zwei Weltkriegen immer klarer hervortrat, war nach dem Vietnamkrieg – fachlich und gesamtgesellschaftlich bedingt – unabweisbar: Rückkehrende Soldaten erlebten die Schrecken des Krieges auch in der räumlichen Sicherheit der Heimat weiter. Die Ereignisse waren zwar zeitlich vergangen, aber immer noch so gegenwärtig, als würden sie im Hier und Jetzt geschehen. Entsprechend beschreibt auch die Posttraumatische Belastungsstörung jene Folgen, die in einer unmittelbaren Gefahrensituation notwendig und hilfreich, im gewöhnlichen Alltag aber hinderlich sind. Traumaforscherinnen aus den Reihen der Frauenbewegung wiesen immer wieder darauf hin, dass Traumafolgen auch noch tiefer als eine PTBS sein können. Autorinnen wie Judith Herman hatten sich vor allem mit Patientinnen befasst, die in der Kindheit Opfer sexueller Gewalt geworden sind. In solch komplexen Fällen bleibt das Trauma in der Weise gegenwärtig, dass es sich tief in Selbstbild, Emotionsregulation und Beziehungsverhalten einzeichnen kann. In jüngerer Zeit tragen die Neurowissenschaften viel zum Verständnis von Traumata bei. Situationen extremer Belastung verändern die Arbeitsweise des Gehirns. Diese Veränderungen sind für die Opfer von Gewalt nicht willentlich steuerbar.4
Die hermeneutische Priorität der Verletzten und Marginalisierten
Was kann nun die Theologie von der Traumaforschung lernen? Ich denke sehr viel. Denn menschliche Erfahrung ist eine zentrale Quelle theologischen Denkens. Dies schließt die Erfahrungswelt von Menschen mit Traumageschichten dezidiert mit ein. Für eine christliche Theologie, in deren Zentrum der Gekreuzigte steht, gilt sogar, dass der Perspektive der Verletzten und Marginalisierten eine hermeneutische Priorität zukommt. Traumasensibel ist eine Theologie dann, wenn sie diese hermeneutische Priorität ernst nimmt und den Erfahrungen traumatisierter Menschen einen zentralen Stellenwert einräumt.5
An einem Beispiel soll der Ansatz verdeutlicht werden. In vielen Studien geben Betroffene von Gewalt an, mit der christlichen Rede von Vergebung große Schwierigkeiten zu haben.6 Aus psychotraumatologischer Sicht ist das vollkommen nachvollziehbar. Denn Vergebung impliziert, dass etwas Geschehenes für Gegenwart und Zukunft an Bedeutung verliert. Es wird in die Vergangenheit gestellt. Die Formulierung „vergeben und vergessen“ stammt zwar von Shakespeare und nicht aus der Bibel, ist aber griffiger Ausdruck für ein Vergebungsverständnis, das auch in christlichen Kreisen weit verbreitet ist. Auch die Forderung zu vergeben, ist in der christlichen Frömmigkeitspraxis prominent bis in das Vater Unser hinein vertreten.
Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern?
Warum ist das bei einem oberflächlichen Vergebungsverständnis ein Problem? Weil traumatisierte Menschen berichten, was sich mit psychotraumatologischer Forschung auch klar belegen lässt: Der Schrecken ist eben nicht Vergangenheit, der Schrecken ist Gegenwart, auch wenn er zeitlich längst vergangen ist. Das Trauma hat sich in den Menschen bis in die Gehirnphysiologie hinein eingezeichnet. Daran lässt sich auch mit noch so viel Willenskraft nichts ändern, geschweige denn mit Vergebungsforderungen von außen oder irgendwelchen Vergebungs-Idealgeschichten. Diese führen nur dazu, dass Menschen, denen schwere Verletzungen zugefügt wurden, diese Verletzungen dann auch noch vorgeworfen werden.
Traumasensible Theologie fragt deswegen z.B. nach einem angemesseneren und tieferen Verständnis von Vergebung. Vergebung ist nichts, was durch Willenskraft erzwungen werden kann. Sie kann höchstens eine Frucht, ein Geschenk am Ende eines inneren Heilungsweges sein. Sie kann sich einstellen, sie muss es aber nicht. Vergebung ist nie Werk, sondern kann nur Gnade sein. Sie kann also von niemandem eingefordert werden. Auch Jesus hat seinen Folterern nicht vergeben. Er hat nach dem Lukasevangelium am Kreuz ein Gebet für sie gesprochen. Nicht weniger, aber eben auch nicht mehr. Wer kann sich also anmaßen, von Opfern von Gewalt mehr zu verlangen, als Jesus selbst getan hat?
Hashtag der Woche: #theologieundtrauma
(Beitragsbild @Christian Sterk)
1 So zum Beispiel auch der Papst in seiner Abschlussrede zur Kinderschutzkonferenz: Vgl. https://www.vaticannews.va/de/papst/news/2019-02/kinderschutzkonferenz-rede-papst-franziskus-missbrauch-vatiab.html(abgerufen am 23. Mai 2019)
2 Stadler, Lena; Bieneck, Steffen u.a. (2012): Repräsentativbefragung Sexueller Missbrauch 2011, Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen: Hannover, 19f.
3 Gemoll (2006): Griechisch-deutsches Schul- und Handwörterbuch, 10. Aufl., Oldenbourg Schulbuchverlag: München, 799.
4 Vgl. zum Thema Traumata: Stahl, Andreas (2019): Traumasensible Seelsorge: Grundlinien für die Arbeit mit Gewaltbetroffenen, Kohlhammer: Stuttgart, 75–142.
5 Zu den Grundlagen traumasensibler Theologie siehe näher: Stahl (2019):Traumasensible Seelsorge, 205–210.
6 Vgl.Stahl (2019): Traumasensible Seelsorge, 181–200.240–245.
Anm.: Für eine ausführlichere Behandlung der Thematik verweisen wir auf das Werk „Traumasensible Seelsorge. Grundlinien für die Arbeit mit Gewaltbetroffenen“ von Dr. Andreas Stahl.
Der Link zur Arbeit funktioniert (bei mir?) leider nicht.
Liebe Ellen, https://www.kohlhammer.de/wms/instances/KOB/appDE/Neuerscheinungen/Traumasensible-Seelsorge-978-3-17-037456-0/ – so müsste es hoffentlich funktionieren. Ansonsten findest Du das Buch unter Andreas Stahl, Traumasensible Seelsorge; erschienen bei Kohlhammer in der Reihe ‚Praktische Theologie heute‘ (Bd. 163).