Postfaktizität – im Sinne der Lüge – gilt als ein großes Problem unserer Zeit. Paula Schütze setzt einen Schritt weiter vorne an: Was ist unter heutigen Denkbedingungen überhaupt Wahrheit? Und wie können Religionen postfaktisches Reden vermeiden?

Aus der medialen Berichterstattung ist es mittlerweile beinahe wieder verschwunden: das Adjektiv „postfaktisch“, das von den Oxford Dictionaries und der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres 2016 ernannt worden war. Damals war es zeitdiagnostisch en vogue, aber irgendwie nicht griffig genug, als dass es dann in den alltäglichen Sprachgebrauch übergegangen wäre. Interessant und auch bleibend relevant hingegen sind einige Aspekte aus der Diskussion um den Begriff und aus den Versuchen zu bestimmen, was genau das „Postfaktische“ überhaupt ist.

Ein zu diskutierender Aspekt ist der starke Wahrheitsbezug, den das Wort hat, betrachtet man es genauer. „Fakt“ oder auch „Tatsache“ werden gemeinhin verstanden als nachweisbar wahrer Sachverhalt. Der Bezug auf Fakten kann eine Aussage also wahr machen, was wiederum begründet liegt in der Korrespondenz von Fakten mit Wahrheit. Wer „postfaktisch“ redet, bezieht sich demnach nicht mehr auf wahre Tatsachen. So intuitiv – so problematisch. Denn was genau „wahr“ bedeutet, ist bei näherer Reflexion gar nicht mehr so eingängig.

Unser Alltagsverständnis von Wahrheit („Eine Annahme oder Aussage ist dann wahr, wenn sie der Wirklichkeit entspricht.“) findet seine wahrheitstheoretische Entsprechung in der sogenannten Korrespondenztheorie. Sie bestimmt „Wahrheit“ als Entsprechung von Sache und Intellekt. Was eine Aussage oder Annahme also wahr macht, ist die Relation zwischen ihr und der Tatsache, auf die sie Bezug nimmt. Nun stellt sich die Frage, mit welchen Mitteln der Erkenntnis nachzuvollziehen sein soll, ob diese Übereinstimmung von Aussage und Wirklichkeit gegeben ist. Spätestens seit Kants „Umänderung der Denkart“ ist ein solcher erkenntnistheoretischer Realismus, der annimmt, wir hätten Zugriff auf das, was man wohl „die Wirklichkeit“ nennt, umstritten bis verworfen. Ist es nicht vielmehr so, dass das erkennende, wahrnehmende Subjekt einen wesentlichen Teil zur Erzeugung dessen beiträgt, was wir „Wirklichkeit“ nennen?

Aufruf zur wahrheitstheoretischen Bescheidenheit

Hilfreich im Diskurs um die Bestimmung von Wahrheit ist eine gewisse wahrheitstheoretische Bescheidenheit: Es ist anzuerkennen, dass wir mit den begrenzten Mitteln menschlicher Erkenntnis nie ein absolutes Urteil über die Wahrheit oder Unwahrheit einer Annahme oder Aussage treffen können. Lediglich können wir feststellen, was eine bestimmte Diskursgemeinschaft in einem bestimmten Kontext für wahr hält.

Mit Jürgen Habermas lässt sich das, was innerhalb menschlicher Kommunikation „Wahrheit“ am nächsten kommt, als „gerechtfertigte Behauptbarkeit“ bezeichnen:1 Nach Habermas ist „Wahrheit“ einer der vier Geltungsansprüche, die jede*r Sprecher*in mit jedem Sprechakt erhebt. Wird der Wahrheitsanspruch einer Aussage nun von einem*einer Diskursteilnehmer*in als problematisch eingestuft, gilt es, die mit dem Geltungsanspruch auf Wahrheit gemachte Aussage im prozeduralen Modus des Rechtfertigens als rational akzeptabel auszuweisen. Rational akzeptabel ist sie dann, wenn sie hinreichend mit Gründen belegt ist und von der Diskursgemeinschaft nicht mehr angefochten wird – es entsteht ein begründeter Konsens.

Der begründete Konsens ist zwar kein Wahrheitskriterium, denn es bleibt dabei: Was eine Aussage „wahr“ macht, ist ihre übereinstimmende Relation zur Wirklichkeit. Doch die einzige Möglichkeit, diese Relation als vorhanden auszuweisen, ist der Konsens.

Geht man nun also davon aus, dass 1.) eine Erkenntnis gegebener Tatsachen objektiv nicht möglich ist (sondern nur subjektiv) und dass 2.) die größtmögliche Annäherung an die Qualität der Wahrheit die auf rechtfertigenden Gründen basierende Annahme einer Aussage als wahr ist, muss die Definition des „Postfaktischen“ modifiziert werden. „Postfaktische“ Kommunikation ist dann eine solche, die sich schlicht und einfach dem Zwang des besseren Arguments widersetzt. Es werden solche Aussagen in den Diskurs eingebracht, die nicht als rational gerechtfertigt ausgewiesen wurden.

So zum Beispiel, wenn jemand „alternative facts“ in den Diskurs einbringt: Alternative Fakten sind zunächst mal Behauptungen mit Wahrheitsanspruch – insofern verdient der Begriff den Hohn, mit dem er medial bedacht wird, vielleicht gar nicht. Nicht vernünftig hingegen ist es, nach der Erhebung eines solchen Wahrheitsanspruchs einfach vom Spielfeld der rationalen Rechtfertigung zu verschwinden, sich „Fake news!“ rufend hinter Vorwürfen der Parteilichkeit „der Medien“ zu verschanzen und sich so vor jeder Forderung nach Begründung zu verschließen. Wer einen Wahrheitsanspruch erhebt, sollte ihn auch rational rechtfertigen (können).

Rechtfertigungsresistenz gibt es auch religiös

Was bedeuten die Überlegungen zum „Postfaktischen“ nun für religiöse Menschen oder Glaubensgemeinschaften? Zunächst einmal gilt, dass auch religiöse Überzeugungen nicht davor gefeit sind, „postfaktisch“ im Sinne von rechtfertigungsresistent zu werden. Denn möchte man religiöse Überzeugungen als mehr verstehen denn als rein emotive Ausdrücke einer Erfahrung, spricht man ihnen also einen intellektuellen, kognitiven Gehalt zu, dann zählen auch sie zu denjenigen Annahmen, die rational gerechtfertigt werden müssen. Zumal religiöse Überzeugungen natürlich mit den Behauptungen, die sie aufstellen, auch Geltungsansprüche erheben. Aussagen des Glaubens sind folglich zwar nicht per se „postfaktisch“, können sich aber auch nicht von Vornherein der ganzen Debatte entziehen.

Die Rechtfertigungspflicht, von der auch religiöse Überzeugungen nicht entbunden sind, kommt für religiöse Menschen und Gemeinschaften mit einer doppelten Verantwortung: Zum einen muss eine Rechtfertigung nach außen geleistet werden. Gegenüber Anfragen von anderen Wissenschaften oder einfach von nicht-religiösen Menschen müssen Theolog*innen und gläubige Menschen ausweisen können, warum es rational gerechtfertigt sein kann, eine bestimmte religiöse Überzeugung zu vertreten. Zum anderen handelt es sich auch bei einer Glaubensgemeinschaft wie zum Beispiel der katholischen Kirche als einer institutionell verfassten religiösen Gemeinschaft um eine Diskursgemeinschaft. Auch hier müssen Geltungsansprüche, wenn sie erhoben werden, rechtfertigt werden.

Das gilt auch für Geltungsansprüche, die seit langer Zeit bestehen und tradiert wurden bis in die Gegenwart: Werden kritische Anfragen an einen Geltungsanspruch gestellt, gilt es für dessen Vertreter*innen, Begründungen zu liefern. Nicht jeder Grund ist dabei ein guter Grund. Auch innerhalb einer Glaubensgemeinschaft sollten die Minimalansprüche gelten, die an jede Behauptung gestellt werden, nämlich die auf Konsistenz und Kohärenz. Gute Gründe sollten genau das ausweisen. So sollte die Rechtfertigung einer innerhalb eines religiösen Deutungssystems aufgestellten Behauptung einerseits aufweisen, dass die Behauptung widerspruchsfrei neben den anderen anerkannten Annahmen des religiösen Deutungssystems stehen kann. Außerdem sollte dargelegt werden, dass die Behauptung nicht im Widerspruch zu anderem Wissen steht, das wir über die Welt haben, beispielsweise aus den Sozial- oder Humanwissenschaften.

Keine guten Begründungen jedenfalls sind Rechtfertigungen, die auf Offenbarung oder Tradition allein rekurrieren. Offenbarung an sich ist ja eine höchst auslegungsbedürftige und selbst zu rechtfertigende Angelegenheit und nicht ein objektiver Gehalt, mit dem sich irgendetwas einwandfrei belegen ließe. Und – ehrlich gesagt – dem guten alten „Das haben wir schon immer so gemacht!“ mangelt es auch ein wenig an Esprit.

Woran mag es liegen, dass in letzter Zeit den unheilverkündenden Prophezeiungen über das „postfaktische Zeitalter“ nicht mehr dieselbe Aufmerksamkeit geschenkt wird wie 2016 – ist der Begriff doch zu unhandlich? Oder gewöhnt man sich doch irgendwie an alles? Es lohnt sich dennoch immer, darüber nachzudenken, wie gelingende Kommunikation und öffentlicher Diskurs aussehen sollen. Hält man es mit dem Spiel der rationalen Rechtfertigung, so bleibt anzumerken: Dazu gehört immer ein Verlangen von Gründen und ein Geben von Gründen. Damit es klappt, müssen immer mindestens zwei Teams mitspielen – nicht mitzuspielen und zu schmollen, egal in welchem Team, ist albern.

Hashtag der Woche: #rechtfertigedich


(Beitragsbild: @julianamalta)

1 Ich beziehe mich hier in erster Linie auf: J. Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 1999 sowie ders., Wahrheitstheorien, in: Fahrenbach, Helmut (Hg.), Wirklichkeit und Reflexion (FS Walter Schulz), Pfullingen 1973, 211-266.

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paula schütze

hat Deutsch und Katholische Religionslehre (Lehramt) in Köln studiert, wo sie ebenfalls promoviert hat mit einer Arbeit über Adorno, Metaphern und Gottesrede. Seit 2022 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Dortmund.

2 Replies to “Die halbe Wahrheit – „Postfaktizität“ und Rechtfertigung

  1. Habermas‘ „gerechtfertigte Behauptbarkeit“ ist sicher ein guter allgemeiner Ansatz.

    Mein Eindruck ist aber, dass Kirche und Religion überhaupt nicht soweit mit Menschen ins Gespräch kommt, dass man auf dieser Basis nach einem Konsens suchen könnte.

    Vielen Menschen, gerade in technischen Berufen, ist z. B. die Existenz von Naturgesetzen in Fleisch und Blut übergegangen. Sie empfinden sie als wahr, überprüfbar und belastbar. Kirchen, die einen Wunderglauben vertreten, der mit der Existenz von ausnahmefreien Naturgesetzen nicht vereinbar ist, werden von solchen modernen Mensch kaum noch ernst genommen.

    1. Zunächst einmal vielen Dank für Ihren Kommentar.
      Ich teile Ihren Eindruck, dass insbesondere die Kirche das Gespräch mit den Menschen noch deutlich stärker suchen kann. Mir geht es aber nicht darum, dass Religion gegenüber dem „modernen Menschen“, dem, wie Sie sagen, die Existenz von Naturgesetzen – mit guten Gründen – in Fleisch und Blut übergegangen ist, ausweisen sollte, die besseren Argumente zu haben. Religion steht meiner Meinung nach nicht in Konkurrenz zu naturwissenschaftlicher Welterklärung, sondern stellt ein Weltdeutungssystem dar, mit dem der oder die Einzelne das Leben deuten kann – aber eben nicht muss. Religiös zu sein ist nicht besser oder schlechter, als nicht-religiös zu sein. Was Religion jedoch aufweisen muss, ist ihre Vernunftgemäßheit: Sie muss zeigen, dass sie eben nicht im Widerspruch zu Naturwissenschaften und, wie ich hinzufügen möchte, zu Human- und Sozialwissenschaften steht. Und damit wird umso wichtiger, was ich als Verantwortung nach innen bezeichnet habe: Eine Religionsgemeinschaft muss mit ihren Mitgliedern klären, was sie eigentlich glaubt und ob das vernunftgemäß ist. Und das sollte meiner Ansicht nach im Diskurs und durch Argumentation geschehen, um nicht einfach Behauptungen aufzustellen, die dann von allen geglaubt werden müssen. Nehmen wir Ihr Beispiel des Wunderglaubens. Es gibt ja nicht das eine Verständnis des Begriffs „Wunder“, sondern man kann ihn auf verschiedene Weisen auslegen, im wörtlichen Sinne als Unterbrechung von Naturgesetzen oder aber im übertragenen Sinn als Ausdruck einer Erfahrung oder Hoffnung. Jede Position muss Argumente für ihre Behauptbarkeit vorlegen. So könnte innerhalb einer Religionsgemeinschaft ein Konsens darüber entstehen, was da eigentlich geglaubt wird. Damit könnte ja vielleicht auch der Dialog zwischen Kirche und „modernen Menschen“ gefördert werden.
      Herzliche Grüße
      Paula Schütze

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