Das Streben nach Inklusion berührt ein Kernanliegen von Theologie und kirchlichem Handeln, in dem es auf die unveräußerliche Würde jedes Menschen verweist. Henrik Heinicke fasst die aktuellen Entwicklungen zusammen.

Wer vor einiger Zeit mit offenen Augen durch Hildesheim gegangen ist, der*die konnte an vielen Orten goldfarbene Kronen aus Holz bewundern. Die Kindertagesstätte der evangelisch-lutherischen Markuskirchengemeinde hat sie angefertigt. Die kleinen Kunstwerke sollten im Rahmen des Projektes „Gemeinde inklusiv“ darauf hinweisen, dass jeder Mensch einzigartig, von Gott geschaffen und geliebt und mit einer unveräußerlichen Würde ausgestattet ist. Der Mensch ist, so wie er ist also mit allen „Gegebenheiten“1, wie der evangelische Theologie Ulf Liedke Behinderungen definiert, Ebenbild Gottes. Inklusion bekommt auf diese spielerische Art und Weise ein Gesicht, wird im Stadtteil sichtbar und bringt Menschen miteinander ins Gespräch, die sich auf dem Weg zu einer inklusiven kirchlichen Arbeit machen.

Es geht um das Kirche-Sein der Kirche

Inklusion stellt für alle gesellschaftlichen Akteur*innen eine große Herausforderung dar – auch für Theologie und Kirche. Zum einen wird Inklusion u.a. durch die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) aus dem Jahr 2006 von außen an Kirche und ihr diakonisches Handeln herangetragen, zum anderen lässt sich Inklusion theologisch als ihr ureigenstes Interesse verstehen. So heißt es pointiert in der Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zum Thema:

Inklusion ist nicht ein weiteres Thema, das sich auf die ohnehin schon volle Agenda drängt. Es geht um das Kirche-Sein der Kirche, es geht um eine Gesellschaft, die Partnerschaft und Gemeinschaft auf Augenhöhe verwirklicht2.

Eben darauf zielt Inklusion ab: Auf eine Gesellschaft, in der es normal ist, verschieden zu sein. So sagte es schon der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker bei der Eröffnungsveranstaltung der Tagung der Bundesarbeitsgemeinschaft „Hilfe für Behinderte“ am 1. Juli 1993 in Bonn.

Auf dem Weg zu „Caring Communities“

Inzwischen haben sich die Paradigmen verschoben. Im Fokus steht nun nicht mehr die Behindertenhilfe, also die Integration von Menschen mit Behinderungen oftmals durch professionelle Hilfe in das gesellschaftliche Leben, sondern die umfassende Befähigung der betroffenen Personen, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Die bereits zitierte Orientierungshilfe der EKD bringt den Inklusionsgedanken auf folgende Kurzformel:

Separierungen sollen überwunden, Teilhabe für alle gleichberechtigt ermöglicht, Vielfalt wertgeschätzt werden3.

Hinter dem Inklusionsparadigma steht die wegweisende Überzeugung, dass marginalisierte Personengruppen nicht außerhalb der Gesellschaft stehen und gleichsam integriert werden müssen, sondern dass sie von vornherein zur Gesellschaft dazugehören und miteinzubeziehen, also zu inkludieren sind. Menschenrechtlichen Charakter hat diese Überlegung in Gestalt der UN-BRK gewonnen. Sie konkretisiert den „Kern des menschenrechtlichen Universalismus“ im Blick auf die spezifische Lebenssituation von Menschen mit Behinderung, indem sie die grundlegenden Leitprinzipien der Menschenwürde (Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit) neu interpretiert.4

Inklusion stellt folglich auch kirchliches Handeln vor Herausforderungen – bietet jedoch zugleich eine Chance, Kirche und ihr diakonisches Handeln qualitativ weiterzuentwickeln. In diesem Zusammenhang benennt die Orientierungshilfe der EKD besonders die Gemeinwesendiakonie als einen zentralen Baustein, um Vielfalt des Lebens vor Ort zu sehen und mitzugestalten.

Auf diese Weise werden sie [die Kirchengemeinden, H.H.] in einer bunten, aber auch älter werdenden Gesellschaft, in der der Zusammenhalt manchen Zerreißproben ausgesetzt ist, zu ,Caring Communities‘, zu Plattformen der Beteiligung, offenen Netzen und Herbergen auf dem Weg.5

Darüber hinaus sind kirchliche Akteur*innen dazu aufgefordert, ihre kirchliche Praxis u.a. im Gottesdienst, in der Seelsorge und im Unterricht daraufhin zu hinterfragen, ob und inwiefern sie Barrieren aufbauen, die Menschen von einer gleichberechtigten Teilhabe ausschließen. Eine Möglichkeit, diese sichtbaren oder unsichtbaren Stufen in der kirchlichen Praxis zu erkunden, bietet eine Fragenbox, die auf der Grundlage des Index für Inklusion vom Netzwerk Kirche inklusiv entwickelt wurde. Als Schlüsselkonzept kann für diese inklusiven Veränderungsprozesse der erste Indikator des Index für Inklusion, „Jede*r fühlt sich willkommen“, dienen.6

Nun scheint es noch ein weiter Weg zu sein, bis in unserer Gesellschaft gilt: Es ist normal, verschieden zu sein. Doch das sollte uns nicht entmutigen, erste Schritte auf dem Weg zu einer inklusiven kirchlichen Praxis zu wagen. Im Gegenteil: Als Christ*innen leben wir in dem eschatologischen Spannungsfeld, das noch nicht erschienen ist, was wir sein werden und zugleich wissen wir uns von Gott angesehen und zu einer lebendigen Gemeinschaft gerufen, in der alle Glieder an dem einem Leib Christi teilhaben sollen. Da kann ja jede*r kommen?, mag der eine oder die andere skeptisch im Blick auf eine inklusive Gemeinde fragen. Unbedingt!, möchte ich da antworten.

Hashtag der Woche: #ohnestufen


(Beitragsbild @sharonmccutcheon )

1 Ulf Liedke, Inklusion in theologischer Perspektive, in: Ulf Liedke / Ralph Kunz (Hg.), Handbuch Inklusion in der Kirchengemeinde, Göttingen 2013, S. 31– 52, hier S. 37.

2 Es ist normal, verschieden zu sein. Inklusion leben in Kirche und Gesellschaft. Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloh 2014, S. 186.

3 A.a.O., S. 17.

4 Vgl. Heiner Bielefeldt, Inklusion als Menschenrechtsprinzip. Die UN-Behindertenrechtskonvention, in: Johannes Eurich / Andreas Lob-Hüdepohl (Hg.), Inklusive Kirche (Behinderung – Theologie – Kirche; Bd. 1), Stuttgart 2011, S. 64–79, hier S. 71.

5 Es ist normal, verschieden zu sein (siehe Anm. 2), S. 155.

6 Der Index für Inklusion wurde ursprünglich im angelsächsischen Raum als Werkzeug für die inklusive Schulentwicklung konzipiert und in mehreren Sprachen übersetzt, vgl. Tony Booth, Mel Ainscow, Index für Inklusion. Ein Leitfaden für Schulentwicklung, hg. v. Bruno Achermann et. al., Weinheim 22019. Die Pragmatik des Index für Inklusion wurde auf andere Handlungsfelder adaptiert, u.a. auch auf kirchliches Handeln: Da kann ja jede(r) kommen. Inklusion und kirchliche Praxis. Eine Orientierungshilfe der Evangelischen Kirche im Rheinland, hg. v. der Abteilung Bildung im Landeskirchenamt und dem Pädagogisch-Theologischen Institut der EKiR, Düsseldorf 22013.

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henrik heinicke

ist Pfarrer der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck. Er hat evangelische Theologie in Wuppertal, Erlangen und Jerusalem studiert. In seiner Examensarbeit beschäftigte er sich mit Inklusion als Herausforderung für Kirche und Diakonie.

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