Als Lehrerin unterrichtet Stephanie Müller u.a. katholische Religion. Hier berichtet sie über die täglichen Herausforderungen im Spannungsfeld von Schule, kirchlicher Lehre und persönlichem Glauben.

„Empört euch!“, so forderte Janik Hollaender hier vor einigen Wochen angesichts des Eklats um die Äußerungen von P. Romano Christen zum Thema Homosexualität. Und er forderte es vor allem von den Haupt- und Ehrenamtlichen in der Katholischen Kirche.

Zum Empört-Sein über meine Kirche brauche ich derzeit keine Aufforderung. Ich bin es eigentlich im Dauerzustand. Worüber ich empört bin? Es ist ein Konglomerat aus vielem: Die aalglatte Sprache, mit der sinkende Mitgliederzahlen und der Priestermangel der Kirche in Euphemismen à la „Sendungsraum“1 verpackt werden; die verständnislose Distanz, mit der den Frauen begegnet wird, die bei Maria 2.0 ihre Enttäuschung und Wut äußern2; die medizinisch-psychologisch uninformierten und theologisch unterkomplexen neuen Äußerungen des Vatikans zum Umgang mit jenen Phänomenen, die gern vereinfachend unter dem Kampfbegriff „Genderideologie“ subsumiert werden. Und schließlich die unerträglichen Fakten des Missbrauchs sowie die bestenfalls hilflosen, schlimmstenfalls dummdreisten Reaktionen darauf – die Liste ließe sich fortsetzen.

Dabei ist Empörung eine denkbar schlechte Voraussetzung für das, was ich als Religionslehrerin eigentlich tagtäglich tun soll und auch will: Eine Person sein, für die

Religiosität und Glaube nicht nur ein Gegenstand, sondern auch ein Standort

ist, bereit „die Sache des Evangeliums zu [m]einer eigenen zu machen.“3

Der Standort als Religionslehrer*in

Der Würzburger Synode war schon 1974 klar, dass diese Ansprüche nicht ohne sind, und sie formuliert daher weiter:

Die Bindung des Religionslehrers an die Kirche erfordert gleichzeitig ein waches Bewußtsein für Fehler und Schwächen sowie die Bereitschaft zu Veränderungen und Reformen. Darin liegt Konfliktstoff. Die Bindung kann daher nicht die Verpflichtung auf ein verklärtes, theologisch überhöhtes Idealbild der Kirche beinhalten. Die Spannung zwischen Anspruch und Realität, zwischen der Botschaft Jesu Christi und der tatsächlichen Erscheinungsweise seiner Kirche, zwischen Ursprung und Gegenwart, darf nicht verharmlost und schon gar nicht ausgeklammert werden. Liebe zur Kirche und kritische Distanz müssen einander nicht ausschließen. Sie stehen zueinander in einem ausgewogenen Verhältnis, wenn mit der Kritikfähigkeit Hörbereitschaft und selbstloses Engagement wachsen.

Mit der Haltung, die diese Formulierungen nahelegen, habe ich lange gut leben und unterrichten können, weil hier anerkannt wird, dass ich mich mit der Erteilung meiner missio canonica nicht zu kopfloser Gefolgschaft verpflichte und dass Raum bleibt für Fragen und Dissens. Im Gegenzug war ich dann auch willens „Hörbereitschaft und selbstloses Engagement“ an den Tag zu legen. Doch im Moment ist das Band der kritischen Distanz zwischen mir und meiner Kirche zum Zerreißen gespannt, weil eben das, was ich von meiner Kirche zu hören bekomme, so oft nur noch Empörung auslöst. Wie unterrichtet es sich in diesem Zustand?

Manchmal so, dass die Empörung für eine ganze Weile in den Hintergrund treten kann: Denn da sind zum Beispiel meine religiös und kulturell bunt gemischten Fünftklässler*innen, die sich an meiner katholischen Schule alle im katholischen Religionsunterricht versammeln. Wir informieren uns über die religiösen Feste, die wir feiern, wir trauern gemeinsam über unsere verstorbenen Verwandten und sprechen über unsere Hoffnungen und wir diskutieren über das Bilderverbot und darüber, ob wir uns trotzdem ein Bild von Gott machen können. Hier fällt es mir leicht, nicht nur einen „Gegenstand“ zu unterrichten, sondern einen „Standort“ einzunehmen und meine eigene Glaubenspraxis und meine Überzeugungen lebendig werden zu lassen. Das gelingt, weil die Fragen der Kinder auch meine Fragen sind und sie meinen Antwortversuchen anmerken, dass sie authentisch sind.

Was denken Sie persönlich denn darüber?

Schwieriger wird es, wenn eine empörte Religionslehrerin auf kritisch denkende und sehr genau hinhörende Oberstufenschüler*innen trifft:

„Sie sagen bei manchen Themen immer ‚Die katholische Kirche sagt…‘“, merkte eine*r kürzlich an. „Was denken Sie persönlich denn darüber?“

Und dann stehe ich da und spreche einerseits über einen „Gegenstand“, zum Beispiel die Haltung „der Kirche“ zur Homosexualität, zur Abtreibung, zur Wiederheirat Geschiedener und versuche gleichzeitig deutlich werden zu lassen, was in „kritischer Distanz“ mein „Standort“ ist.

Ich tue das in dem Bewusstsein, dass da vor mir nicht einfach leere Köpfe aufgereiht sind, die ich nur mit glasklarer kirchlicher Lehre füllen muss (dieses Idealbild eines katechetischen Religionsunterrichts lebt immer noch in vielen Köpfe), sondern dass da junge Menschen vor mir sitzen, die mich dezidiert als katholische Persönlichkeit herausfordern, indem sie sich über ein ganzes Sortiment von Regenbogen-Utensilien offensiv als queer outen (und ebenso welche, die sich das nicht trauen). Ich weiß darum, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit Leute im Kurs sind, die selbst oder in nächster Nähe Erfahrungen mit ungewollten Schwangerschaften und Abtreibungen gemacht haben („Hat der Papst das mit dem Auftragsmord wirklich gesagt?“4) und ich fühle mit den Jugendlichen, die im Religionsunterricht plötzlich mit der für sie völlig unbegreiflichen Formulierung konfrontiert werden, dass ihre Eltern in einer „irregulären Situation“ leben.

Es geht um Authentizität. Und um das Evangelium.

Wie kann ich als Religionslehrerin unter diesen Voraussetzungen „die Sache des Evangeliums zu [m]einer eigenen“ machen? Auch wenn es eine viel strapazierte Floskel ist: Ich kann es nur, indem ich authentisch bleibe. In meinem Hadern mit meiner Kirche, aber eben auch in meiner Überzeugung, dass diese Kirche die Sachwalterin Jesu Christi und seiner befreienden Botschaft ist und sein muss.

Und das heißt in den angesprochenen Fällen: Dass ich den Spagat versuche, theologisch reflektiert und persönlich fundiert zu erläutern, wieso ich das Eintreten für den Schutz des ungeborenen Lebens für zentral halte und dennoch der Meinung bin, dass keine Institution der Welt eine Frau dazu zwingen darf, eine ungewollte Schwangerschaft auszutragen. Dass ich erläutere, wieso die Ehe zwischen Mann und Frau für Katholik*innen ein Sakrament ist, und wieso man trotzdem auf der Grundlage katholischer Anthropologie und Moraltheologie zumindest diskutieren kann, ob sich diese Sakramentalität nicht auch in sogenannten „irregulären Beziehungen“, wie denen zwischen wiederverheirateten Geschiedenen und Homosexuellen, widerspiegeln kann.

***

Es hat übrigens Monate gedauert, bis nach dem Erscheinen der MHG-Studie jemand in meinem Oberstufenkurs zaghaft nachfragte, ob wir denn nicht auch mal über den Missbrauchsskandal sprechen könnten. Die Reaktion der Mitschüler*innen war für mich unerwartet: Ja, wenn es unbedingt sein müsse, aber eigentlich habe das doch mit dem Glauben nichts zu tun. Und es war nicht Ignoranz, die aus diesen Äußerungen sprach, sondern offensichtlich der Wunsch nach einem Religionsunterricht, in dem nicht immer nur Problemthemen gewälzt werden, sondern in dem es um lebendigen Glauben geht, um das, was uns Frohe Botschaft ist und um den, der uns diese Botschaft in seiner Person vermittelt hat. Ich will die Hoffnung noch nicht aufgeben, dass (ich greife noch einmal die Formulierungen der Würzburger Synode auf) die „tatsächliche Erscheinungsweise“ der aktuellen Kirche sich irgendwann wieder stärker an das Ideal der Kirche Jesu Christi annähert und die empörten Problemdiskussionen in den Hintergrund treten können.

Hashtag der Woche: #relichat


(Beitragsbild @Jelleke Vanooteghem)

1 Der Begriff stammt aus dem Konzept zum „Pastoralen Zukunftsweg“ des Erzbistums Köln.

2 So zum Beispiel durch Kardinal Woelki.

3 Aus dem Beschlusspapier der Würzburger Synode, hier konkret aus den Abschnitten 2.8.2 und 2.8.3. 

4 Ja, hat er – hier nachzulesen.

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stephanie müller

hat in Köln und Bonn studiert. Sie unterrichtet Deutsch, Katholische Religionslehre und Geschichte an einem Gymnasium in Bonn. Ihr Lieblingswort war schon immer „Warum?“, daher fühlt sie sich trotz ihrer Zugehörigkeit zur Generation X der Generation Y innerlich sehr verbunden.

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