Wie jedes gesellschaftliche Gebilde weist die Kirche unterschiedliche Interessengruppen auf; die daraus resultierenden internen Streitigkeiten sind wir alle schon gewohnt. Dass sich manche dieser Konflikte jedoch derart zuspitzen lassen, dass alte Einheitsgrundsätze plötzlich zur Disposition stehen, konnte im letzten Jahr während des Unionsstreites zur Asylpolitik öffentlichkeitswirksam mit vollzogen werden. Max Schultes fragt, ob uns ein ähnliches Szenario innerhalb des deutschen Katholizismus erwartet?

Bestandsaufnahme des deutschen Katholizismus

Nach langer Pause – die letzte Bestandsaufnahme im „Trendmonitor Religiöse Kommunikation“ datiert von 2010 – wurde im vergangenen Jahr im Auftrag des Erzbistums München und Freising wieder ein breit angelegtes innerkatholisches Stimmungsbild erhoben. Diese durch das Sinus-Institut erarbeitete soziologische Studie mit dem sprechenden Titel „Kirchenmitglied bleiben?“ fokussiert sich dabei v.a. auf eine detaillierte Erhebung der Motivation deutscher Katholik*innen zum Verbleib in der Kirche – und legt ganz nebenbei die bunte Vielfalt werthaltungsbezogener Strömungen innerhalb derselben frei.[1] Auch wenn die Zahlen noch vor der heißen Phase des kircheninternen Missbrauchsskandales erhoben wurden, hält Andreas Püttmann es für „falsch anzunehmen, man arbeite nun mit völlig veraltetem Datenmaterial“[2]; nach dem Bekanntwerden der ersten Missbrauchsfälle 2010 in der breiten Öffentlichkeit, habe sich die Vertrauensdelle schon nach einem knappen Jahr bereits wieder einigermaßen regeneriert.

Bemerkenswertes Ergebnis der Studie ist dabei der Umstand, dass „phänotypische Kirchennähe […] offenbar genotypisch verschieden qualifiziert werden“[3] muss. D.h. unter den kirchennahen Katholik*innen-Typen lassen sich teilweise erhebliche Unterschiede hinsichtlich ihrer Verweil-Motivation und wertbezogener Grundorientierung feststellen: Während unter den sog. Kompromisslos-Beharrenden 84% angeben Kirchenmitglied zu sein, „weil ich Angst vor der Islamisierung unserer Gesellschaft habe“, teilen diese Aussage in den Gruppen der Bekennenden bzw. Gemeindeverwurzelten nur 9% respektive 16%. Auch die übrigen Gruppen der Sozialfokussierten, Dienstleistungsorientierten, Religiösen Freigeister und Entfremdeten lassen sich in den für sie kennzeichnenden Orientierungen deutlich voneinander abgrenzen.[4] Diese Vielfalt schlägt sich auch in der Frage nach dem Stellenwert einzelner Gründe für das eigene Verweilen in der Kirche nieder: Nur 70% geben hierzu den Glauben an Jesus Christus und 68% das caritativ-soziale Engagement der Kirche an; für immerhin 18% ist die moralisch-konservative Werthaltung der Kirche ein ausschlaggebender Grund. Setzt man dies in Verbindung zu dem Umstand, dass hier noch 48% den kirchlichen Einsatz für Geflüchtete nennen, zeigt sich, analog zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, eine ernstzunehmende innerkirchlich-wertbezogene Frontenbildung.

Globaler Zukunftstrend „evangelikaler Katholizismus“

Glaubt man den historischen Betrachtungen des US-amerikanischen Journalisten und Autors John L. Allen, so ist diese Frontenbildung für den orts- wie weltkirchlichen Katholizismus keine außerordentliche Neuerung – nein, diese habe es in der Kirchengeschichte immer wieder gegeben. Allerdings prognostiziert er in seinem bereits 2009 in den USA erschienen Buch zur „Zukunft des Katholizismus“ für den Katholizismus des 21. Jahrhunderts massive Identitätsängste: In einem immer enger werdenden religiösen Markt werde die Sorge um das eigene Profil, um das im Vergleich zu anderen religiösen Gruppierungen spezifisch-unterscheidend Katholische eine wesentliche Handlungstriebfeder sein.[5] Diese Betonung der unique-selling-proposition werde schließlich in einen „evangelikalen Katholizismus“ führen, dessen Hauptkennzeichen die Herausstellung äußerer Identitätsmerkmale, wie dem priesterlichen Zölibat oder die Ablehnung der Frauenordination, ist.[6] „So wird sich für die katholischen Reformer also das 21. Jahrhundert als Zeit erweisen, in der sie innerlich in die Katakomben gehen müssen, äußerlich jedoch [aufgrund ihres sozialen Engagements und der hohen Kompatibilität zur säkularisierten Rest-Gesellschaft] als schick gelten.“[7]

Verschärfter Wettbewerb religiöser Sinnanbieter

Inwiefern lässt sich dieser global erwartete Trend nun auf die soeben skizzierte Situation der katholischen Kirche in Deutschland beziehen? Zunächst scheint eine Zusammenführung beider Befunde wenig gerechtfertigt: Während das Sinus-Institut in der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen die Weite des Katholischen herausgearbeitet hat, erwartet Allen einen auf „Identität durch Abgrenzung besorgten Katholizismus“, dem das „urkatholische et – et“ fremd (geworden) ist.[8]

Doch die weitere Entwicklung wird auch Ergebnis gewollter Kirchenpolitik sein. Denn insofern der deutsche Katholizismus sich in Zeiten steigender Kirchenaustritte und schwindender Kirchensteuereinnahmen um Bestandssicherung bemühen wird, wird er genau diese Profilierung der Eigenidentität vornehmen: Weil sich anhand der Entwicklungen in den USA klar rekonstruieren lässt, dass im verschärften Wettbewerb religiöser Sinnanbieter v.a. die je eigene Bedürfnisbefriedigung der Glaubenden für die Aufrechterhaltung einer Bindung zur Kirche im Fokus steht, verliert besonders der*diejenige Marktanteile, der*die „im Namen der Religion die soziale Frage stellt oder ein bestimmtes politisches oder ökologisches Programm fordert […]. Es zeigt sich vielmehr: Wer durch Erlebnisqualitäten wie liturgische Ästhetik und spirituelle Komfortzonen oder durch Orientierungs-Branding wie klare moralische Codes sein eigenes Wettbewerbsprofil schärft, bleibt im Spiel der Marktkräfte weiterhin attraktiv.“[9] Auf diese Weise ergibt sich die paradoxe Situation, dass die eigentlich von einer liberalen Mehrheit getragene deutsche Kirche sich aufgrund zunehmenden Drucks an vielen Fronten „durch die Ausbildung evangelikaler und pfingstlicher Charakteristika verändern“[10] wird – und zwar so weit, dass die „katholische Weite und Tiefe dabei verloren gehen“[11].

Hoffnung auf einen katholischen Aufbruch?

Betrachten wir nun die kirchenpolitischen Entwicklungen der jüngsten Zeit, so zeigt sich beispielsweise in der Debatte um die Pastorale Handreichung und die Zulassung konfessionsverschiedener Ehepartner zur Kommunion im vergangenen Jahr, wie weit die Situation gediehen ist. Nachdem an Einstimmigkeit nicht zu denken war, gelang es der Minderheit der Bischöfe im Zusammenspiel mit Rom, den Mehrheitsbeschluss auszubremsen. Das harte Ringen um den „synodalen Weg“ auf der diesjährigen Frühjahrsvollversammlung der Bischofskonferenz in Lingen führt abermals vor Augen, wie gespalten die DBK ist.[12] Noch ist offen, wie genau der „synodale Weg“ beschaffen sein wird und wie ein wirklicher Interessensausgleich zwischen den verschiedenen kirchenpolitischen Gruppierungen aussehen kann. So betrachtet, erweist sich die „Dramatik der Gegenwart als höchst risikoreiches Unternehmen für die Einheit der Kirche, weil in diesen Veränderungsprozessen selbst die Leitungsautoritäten Getrieben sind, denen eigentlich wenig Gestaltungsspielraum bleibt.“[13] Inwiefern ist vor diesem Hintergrund nun also die „Hoffnung auf einen katholischen Aufbruch“[14] gerechtfertigt?

Lagerbildung unvermeidbar

Den Verlauf der Geschichte nur in die Hände der Hierarchie zu legen, greift freilich zu kurz und ist kaum mit der Verantwortung eines*r mündigen Christen*in für seine*ihre Kirche zu vereinbaren. Maßgeblich, hier sei auf die aufsehenerregende Aktion „Maria 2.0“ verwiesen, wird es auch künftig darauf ankommen, wie sich Laien und Unterrepräsentierte in den öffentlichen Diskurs einschalten – die verbandlichen Strukturen in Deutschland stellen hierfür eine beispiellos gute Ausgangslage dar. Hinsichtlich des synodalen Weges wurde deshalb vorgeschlagen, ihm die Form eines sog. „Plenarkonzils“ zu geben, um so die unterschiedlichen kirchlichen Gruppen Bischöfe, Laien, Ordensleute und Theolog*innen an der „Sorge für das gemeinsame Haus“ gleichermaßen zu beteiligen.[15]

Solange die Kirche jedoch keine reine Milieuorganisation ist, sondern unterschiedliche sozio-kulturelle Gruppen vereint, wird sich eine durch die unterschiedlichen Werthaltungen provozierte Lagerbildung sowie ein damit zusammenhängendes Stammesdenken nicht vermeiden lassen. Ja, durch die gesellschaftliche Großwetterlage der sich verschärfenden öffentlich-politischen Polarisierung wird dies möglicherweise sogar weiter verstärkt. Da die Kirche sich, egal ob als Volk Gottes, Leib Christi oder communio, jedoch als Einheit in Verschiedenheit denkt (vgl. LG 13), kann sie einen langfristigen und fundamentalen Dissens deutlich leichter als andere gesellschaftliche Institutionen in ihr Selbstbild integrieren – schließlich existiert die Gewissheit, dass diese von Christus her immer schon versöhnt sind.

Eine neue Unversöhnlichkeit?

Es bleibt allerdings die Frage, ob diese essayistisch-theologische Einschätzung der existentiellen Dichte des Schreis nach Veränderungen vieler Gläubiger wirklich gerecht wird – was durchaus bezweifelt werden darf: Im Hinblick auf die oben aufgedeckte soziologische Vielgestaltigkeit der Gläubigen, die steigende Individualisierung und den die Identitätspolitik noch befeuernden Trend zum evangelikalen Katholizismus muss eher mit einer neuen Unversöhnlichkeit zwischen den Lagern gerechnet werden. Statt eines glücklichen Zusammenfalls der Gegensätze steht wohl eher ein neuer Kampf der Kulturen ins Haus. Hoffen wir, dass es nicht so kommt und sich „das stille Schisma, in dem wir leben, [… nicht] in ein offenes entwickeln wird“[16].

Hashtag der Woche: #clashofclans


(Beitragsbild: @philinit)

[1] Calmbach, Marc / Flaig, Bodo B. / Möller-Slawinski, Heide: Kirchenmitglied bleiben? Ergebnisse einer repräsentativen Befragung des Sinus-Instituts unter deutschen Katholiken. 2018.

[2] Püttmann, Andreas: Schwacher Puls, große Mission. Was die neue Studie des Erzbistums München über Deutschlands Katholiken sagt, in: HK 73 (3/2019), 26-28, 26.

[3] Ebd., 28.

[4] Eine knappe Übersicht, die die Ergebnisse der Studie prägnant zusammenfasst, findet sich auf: https://fowid.de/meldung/katholiken-und-kirchenmitgliedschaft-2018 (zuletzt am 19.05.2019).

[5] Vgl. Allen, John L.: Das neue Gesicht der Kirche. Die Zukunft des Katholizismus. Gütersloh 2010, 486-488.

[6] Vgl. ebd., 83f.89.

[7] Ebd., 92. Vgl. 86-88.97f.

[8] Beide bei: Siebenrock, Roman A.: Evangelikaler Katholizismus: Ein hölzernes Eisen oder die künftige Einheit der Gegensätze?, in: ThPQ 160 (2/2012), 192-195, 194.

[9] Schärtl, Thomas: Amerikanisierter Katholizismus? Ein Blick aus den USA zurück nach Deutschland, in: StdZ 137 (2012), 459-471; hier: 465.

[10] Ebd., 470.

[11] Ebd.

[12] Vgl. Klask, Fabian / Löbbert, Raoul: Wer ist dieser Mann?, in: Christ&Welt 18 (25.04.2019), 3f; hier: 3.

[13] Siebenrock: Evangelikaler Katholizismus, 192.

[14] Klask / Löbbert: Wer ist dieser Mann?, 4.

[15] Vgl. ebd.

[16] Siebenrock, Evangelikaler Katholizismus, 195.

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maximilian schultes

hat in Würzburg und Freiburg i.Br. Theologie studiert, arbeitet zurzeit als Referent für dialogische Pastoral in Kirche und Gesellschaft im Erzbistum Paderborn und an einer Promotion zum Glaubenssinn der Gläubigen. Vorher war er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Dogmatik, Dogmengeschichte und fundamentaltheologische Fragen der Universität Vechta beschäftigt. Einen Wandel vom Katholizismus zur Katholizität hält er für möglich.

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