Die aktuelle gesellschaftspolitische Lage in Österreich nimmt Thomas Sojer zum Anlass, um mit Simone Weil einen Blick auf die Konstruktionen von politischen Parteien und die damit verbundenen Schwierigkeiten zu werfen.
Hallo aus Österreich! Wir haben es wieder in die europaweiten Schlagzeilen geschafft. Eine ‚zivilgesellschaftlich motivierte‘ Neuauflage der Versteckten Kamera entlockt dem Ex-Vizekanzler auf Ibiza totalitäre Staatsfantasien. Der Ex-‚Kinderkanzler‘, wie ihn Jan Böhmermann liebevoll nennt, verkündet als Messiasgestalt nach einem 25 Stunden andauernden Cliffhanger mit tausenden Demonstrant*innen vor seinem Bürofenster dann doch Neuwahlen. Die (eigentlich) politischen Todfeinde SPÖ und FPÖ nützen das daraus entstandene Machtvakuum und stehen, in Furcht vor dem Kanzlerbonus, beim Misstrauensvotum gemeinsam auf. In Österreich herrscht das Parteikalkül. Man könnte bald meinen, unterschiedliche Meinungen dürfe es nur so viele geben wie es Parteien im Parteienverzeichnis des Innenministeriums gibt.
Simone Weil – ‚Rezo‘ der politischen Theologie
Eine dazu sich verblüffend aktuell lesende Diagnose von Parteipolitik kommt aus der Feder Simone Weils. Am Höhepunkt der Gräuel des 2. Weltkrieges erinnert sich die jüdisch-französische Philosophin geradezu zynisch daran
wie viele Male wohl im Deutschland des Jahres 1932 einem Kommunisten und einem Nazi, die sich auf der Straße unterhielten, im Geiste schwindlig [wurde], weil sie feststellten, dass sie sich in allen Punkten einig waren! (30)
Trotzdem wurden ein Jahr später die einen von den anderen alle erschossen. Die Ursache für Hitlers Machtergreifung sieht Weil in der verkollektivierenden Logik von Parteipolitik: Die individuelle Verantwortung der*des einzelnen Abgeordneten werde ausgeschaltet. Daraus folge, dass nur mehr die quantitative Stimmgewalt des Parteikollektivs im politischen Entscheidungsprozess ausschlaggebend ist. Parteigeleitete Demokratien entzünden gefährliche populistische Dynamiken, denen einerseits auf inszenierten Politbühnen hochstilisierte Sündenböcke und andererseits sozial Ausgegrenzte jenseits des öffentlich Sichtbaren zum Opfer fallen. Parteipolitik produziere die Ohnmacht der*des Alleinstehenden und stelle auf diese Weise die Aufrechterhaltung systematischer Ungerechtigkeit auf nationaler und internationaler Ebene sicher. Mit der biblischen Epistemologie fruchtragender Bäume in Mt 7,18 par. blickt Weil auf ein zerstörtes und mordendes Europa und fragt: Welche Früchte trage Parteipolitik?
Weil will von ihren Leser*innen wissen, wie Europa jemals der politischen Krankheit ihrer totalitären Systeme entfliehen will, wenn die Macht des Kollektivs vor Gewissen und Verantwortung der*des Einzelnen gestellt wird; wenn ausnahmslos alle Bereiche des menschlichen Lebens, in der Wissenschaft, Kunst und Bildung, von der „Pest in den politischen Milieus“ (35) infiziert werden?
Für Weil ist klar, dass dieser kollektive Wahnsinn, den die Politik tagtäglich zur Schau stelle, in anonymen, parteiunabhängigen Abstimmungen der Parlamentarier*innen nicht derartig uneingeschränkt möglich wäre. Deshalb fordert sie in ihrer 1957 von Albert Camus posthum publizierten Streitschrift die generelle Abschaffung der politischen Parteien.
Parteien fordern so etwas wie einen ‚politischen Monotheismus‘: Man könne nicht an zwei Parteien glauben und wer in die politische Entwicklung eingreifen will, brauche nun mal eine Partei, um handlungsfähig zu sein, denn:
wenn es in einem Land Parteien gibt, entsteht früher oder später eine Sachlage, in der es unmöglich ist, wirksam auf die öffentlichen Angelegenheiten Einfluss zu nehmen, ohne in eine Partei einzutreten und das Spiel mitzuspielen. (25)
Dieser ‚Seelenverkauf‘ des homo politicus nehme in Kauf,
dass der Parteigeist blind macht, dass er taub macht für die Gerechtigkeit und dass er selbst rechtschaffende Leute zum grausamen Wüten gegen Unschuldige hinreißt (29).
Theologische Dekonstruktion des Götzen „Partei“
Um die Ursachen und die dahinter liegende Logik von Parteipolitik zu beleuchten, seziert Weil die theologische Matrix moderner Demokratien. Für Weil sind Theologie und Politik historisch und konzeptionell untrennbar. Das politische Axiom Michail Pawlowitsch Tomskis
‚Eine Partei regiert, alle anderen sind im Gefängnis‘
erkennt Weil in der europäischen Erinnerungskultur des ‚Anathema sit‘ einer Katholischen Kirche vorausgeformt und sakralisiert. Hinter dem Schleier des vermeintlich Säkularen entdeckt Weil, dass ein
Mechanismus geistlicher und geistiger Unterdrückung, der den Parteien eignet, von der katholischen Kirche in ihrem Kampf gegen die Häresie in die Geschichte eingeführt(26)
wurde.
Weil malt im Angesicht von Dollfuß, Hitler, Mussolini und Stalin ein Extrembild des Götzen „Partei“, dessen Abglanz im Grunde jede politische Partei in stärkerer oder schwächerer Form in sich trage.
Die Logik dieses Götzen ‚Partei‘ folge drei Grundvollzügen: A. Eine politische Partei sei eine
Maschine zur Fabrikation kollektiver Leidenschaft (14).
Sie wolle eine geschlossene und blind überzeugte Masse hinter sich versammeln, deren starke Wertungen von der Partei bestimmt werden. B. Eine Partei sei von ihrer Struktur her so konzipiert, dass sie auf jede*n, die*der ihr angehört, einen kollektiven Druck ausübe, der keine Abweichung mehr zulasse. C. Das oberste Ziel einer politischen Partei sei ihr eigenes materielles Wachstum, und das ohne jede Grenze. Jede Konzeption des Gemeinwohls wird schließlich der Notwendigkeit des Stimmenzuwachses und der Finanzkrafterweiterung geopfert, „als wäre die Partei eine Mastgans und das Universum dazu geschaffen, sie zu mästen“ (18).
Damit ein Parteiapparat alle drei Grundvollzüge umsetzen kann, bedürfe es eines perfiden Mechanismus, der im Kollektiv den inbrünstigen Glauben an die eine, heilige, landesweite, von den Vätern gegründete Partei grundlege, damit alle eins seien. Es sei der Geschichte
tragische Ironie, dass somit die von Christus gegründete Kirche den Geist der Wahrheit weitreichend erstickt hat (27)
und jene Kultur der kollektiven Verblendung begründete, die sich die politischen Parteien in exzellenter Weise anverwandelten und für ihre Bedürfnisse perfektionierten. Dieser Mechanismus führe dazu, dass die Anhänger*innen verschiedene Mittel zum Zweck für ein absolutes Gut hielten und die Parteilinie zur göttlichen Moral sakralisierten.
Für Weil ist mit Verweis auf Mt 6,24 par. klar, dass die Entscheidung zwischen Partei und individuellem Gewissen, zwischen Mammon und Gott, die eigentliche Heilsentscheidung ihrer Zeit darstellt.
Im Escape Room des Parteikalküls
Weils Anliegen ist einfach: Jede*r Abgeordnete*r soll ihrem*seinem Gewissen verpflichtet sein und nicht der Partei. Beides zusammen schließt sie aus. Was bedeuten ihre apokalyptischen Zeilen heute noch? Kein*e Abgeordnete*r wird sich ihr*sein eigenes Gewissen und ihre*seine Verantwortung absprechen lassen. Simone Weil verhallt als radikale Stimme einer radikalen Zeit. In Österreich folgen wir inzwischen den Spitzenkandidat*innen als neuen Heiligen, mit denen sich unsere Parteikollektive selbst sakralisieren – das Kollektiv lächelt uns mit Gesicht und Slogan. Parteizwang wird zur Jüngerschaft geschmeidig umformuliert, oder wie es in der neuen ÖVP heißt: „Bist du dabei in unserer Bewegung?“ Theologie, was sagst du dazu?
Hashtag: #LetsTalkAboutPolitics
(Beitragsbild @Frederic Köberl)
Quelle: Simone Weil. Anmerkung zur generellen Abschaffung der politischen Parteien. Zürich/Berlin: diaphanes, 2009.