In der Rubrik Spoiler Alert liefern wir kurze und knackige Texte über (pop)kulturelle Niceigkeiten. Neue Platten, Video-Spiele, Essaysammlungen und Romane, Theaterstücke — nichts ist vor uns sicher. Heute schreibt Nadja Schmitz-Arenst über die Netflix-Serie „Sex Education“.

Die Prämissen der neuen Netflix-Serie Sex Education klingen zunächst nach einem Rezept für eine etwas trashige Coming-of-Age-Komödie: Otis ist 16 und lebt mit seiner Mutter, die als Sexualtherapeutin arbeitet, irgendwo im Nirgendwo von England. Als seine Schulkameradin Maeve sein Talent entdeckt, anderen mit ihren Problemen rund um Sex zu helfen, eröffnen die beiden eine geheime Sex Clinic und therapieren gegen Geld ihre Freund*innen und Mitschüler*innen. Aus diesem Stoff kann man ohne Probleme Geschichten spinnen, die unterhaltsam und witzig sind. Wie oft schon gab es die klassische Story mit Protagonist*innen, die an einer typischen Schule mitsamt den sozialen Gruppen aus Cool Kids, Nerds, Sportler*innen, Misfits, Swing Band Members, Bullies und so vielen mehr eher untergehen, bis sie ihre einzigartigen Talente entdecken? Es müssen einige hundert Storylines dieser Art in Filmen und Serien zu beobachten sein.

Sex Education ist aber ganz anders, als es die kurzen Ankündigungstexte von Netflix vielleicht vermuten lassen, denn die Story macht einen großen Bogen um den bekannten Klischeeberg vieler anderer Produktionen, der Sex von Teenager*innen entweder ausspart oder idealisiert und verkitscht zeigt. Es wird, ganz im Gegenteil, großer Wert darauf gelegt, komplexe Charaktere zu porträtieren. Man gewinnt im Laufe der Serie fast den Eindruck, als hätten die Autor*innen Spaß daran, neue Charaktere zunächst als wandelndes Klischee einzuführen, um dann nach und nach die Fassade aufzubrechen und den Figuren überraschende Tiefe zu geben.

Otis ist zwar immens gut darin, anderen bei ihren Problemen zu helfen, ist aber selbst sexuell unerfahren, schüchtern und fühlt sich in seinem Körper eher unwohl. Seine Mutter schafft es mehrfach nicht, Otis’ klar kommunizierte Grenzen zu akzeptieren, und verhält sich wie eine der berühmt-berüchtigten „Helikoptermütter“. Sein bester Freund Eric ist schwul, extrovertiert und wird in der Schule oft gemobbt, nicht aber wegen seiner sexuellen Orientierung, sondern weil er einmal vor der gesamten Schule eine Erektion hatte. Jackson, der beliebteste Junge der Schule und ein talentierter Schwimmer, hat nach außen hin ein perfektes Leben, nimmt aber, seit er elf Jahre alt war, Medikamente gegen Panikattacken.

Die vielleicht stärkste Charakterentwicklung der Serie aber hat Maeve, die, wie sie es ausdrückt, „unlucky in the family department“ war und verarmt in einem Trailerpark lebt. Sie ist hochintelligent, liest gerne feministische Literatur und manövriert sich mit Geschick durch ihre widrigen Lebensumstände. Trotzdem ist sie Außenseiterin, weil sie arm ist und eine junge Frau, die Sex hat – und ihn genießt.

Sex Education spart kaum ein aktuelles Thema rund um Sex und Beziehungen aus: Es geht um sexuell übertragbare Krankheiten, Revenge Porn, sexuelle Orientierung und Identität, Fetische und Kinks, ungewollte Schwangerschaften und Abtreibung, um Grenzen und darum, dass ein Nein Nein bedeutet. Die Serie zeigt letztendlich, wie unterschiedlichste Teenager*innen lernen, wer sie sind, was sie wollen und wie sie das ihren Partner*innen und der Welt kommunizieren können. Dabei ist Sex Education empathisch, witzig, liebevoll, feministisch, verurteilt seine Charaktere nie und – das mag bei einer Serie über Sex das vielleicht Wichtigste sein – sie nimmt sich selbst nicht allzu ernst.


(Beitragsbild: Netflix)

Print Friendly, PDF & Email

nadja schmitz-arenst

studiert Musikwissenschaft und Katholische Theologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Ich habe die Datenschutzerklärung gelesen und bin mit dem Speichern der angegebenen Daten einverstanden: