Alles wird 4.0, aber die Sozialethik hinkt hinterher. Felix Neumann fordert eine umfassendes Reflektieren unseres gesellschaftlichen digital Seins und Werdens.

Alles kriegt eine 4.0 angeklebt – und schon ist man auf der Höhe der Zeit. Arbeit 4.0, Industrie 4.0, Karriere 4.0, Wasser 4.0, Women Ressource 4.0. (Fußnote: Die Beispiele wurden empirisch sauber erhoben: „4.0 googeln und schauen, was auf Seite 1 steht“.) So weit, so bullshit. Die Ur-4.0 ist die Industrie: Damit soll die vierte industrielle Revolution bezeichnet werden, nach Mechanisierung, Massenfertigung und Automatisierung. Vernetzung und Kommunikation, smart, autonom und dezentral, auf jeden Fall aber: Auf der Höhe der Zeit. Bei der Industrie 1.0 hat es eine Weile gedauert, bis sich die Kirche mit diesen neuen Dingen beschäftigt hat; 43 Jahre liegen zwischen dem Kommunistischen Manifest und Rerum Novarum, mit der Leo XIII. das Genre der Sozialenzykliken begründet hat und damit einzelnen christlichen Sozialpionieren gefolgt ist.

Heute sieht es ähnlich aus. Wohl kein Bischof müsste sich die Blöße geben, nichts Kluges zur Würde der menschlichen Arbeit spontan aus dem Ärmel zu ziehen.Die große Sozialenzyklika zur Digitalität fehlt dagegen noch. Papst Franziskus hat (nach Vorarbeiten von Benedikt XVI.) mit Laudato Si gerade den Diskurs der 1980er in dieser Hochform der kirchlichen Lehre aufgenommen. In dem 2005 unter Johannes Paul II. veröffentlichten Kompendium der Soziallehre kommt immerhin einmal das Wort „Computer“ vor, dabei gab es bereits 2002 gab es zwei erstaunlich hellsichtige Papiere des Päpstlichen Rats für die sozialen Kommunikationsmittel zu Kirche und Internet. (Mehr dazu hier.)

Mehr als Bereichsethiken und Kulturkritik

„Sozialethik 4.0“ gibt es also bisher nur vereinzelt, theologische Beiträge zur Digitalität sind noch selten, und wenn, dann oft aus einer Zuschauerrolle betrachtet, als Bereichsphänomen „Online“ oder „Virtualität“ untersucht, kulturwissenschaftlich oder ethnologisch distanziert gedeutet. Symptomatisch ist etwa der Münsteraner Religionsphilosoph Klaus Müller, der „Cyber-Philosophie“ als eigenes Forschungsfeld angibt, dessen Publikationsliste zu diesem Thema aber um die Dotcom-Blase um 2000 Schwerpunkte hat und vor etwa 10 Jahren plötzlich abbricht. Unzweifelhaft interessant und klug identifiziert er religiöse Motive in digitalen Diskursen, kritisiert quasitheologische Sprachspiele im Transhumanismus und bei Cyber-Utopien – doch es bleibt bei einem digitalen Dualismus, der „online“ als etwas Besonderes, weniger als einen integrierten Teilaspekt der Wirklichkeit begreift.

Eine Beschäftigung mit der Digitalität, die sie als einen Aspekt der Lebenswelt betrachtet, findet in der praktischen Theologie vor allem im Bereich der Medienethik und Medienpädagogik statt; ein Feld, das schon vom Zweiten Vatikanum abgesteckt wurde – aber eben auch ein Feld, das nur einen Aspekt heute selbstverständlich digitaler Lebenswelten abdeckt. Auch die Beschäftigung mit einem zentralen Thema der katholischen Soziallehre, der Arbeit, ist ein Einfallstor für Digitalität; „Arbeit 4.0“ gehört langsam zum Standardrepertoire, zu dem ein*e Sozialethiker*in sich äußern können muss.

Im Fluss der alltäglichen Existenz

Medien und Arbeit sind zwei Felder, die offensichtlich durch die Digitalität massiv betroffen sind, und an denen der Wandel besonders offensichtlich ist. Bereichsethiken genügen aber nicht. Was fehlt, ist Digitalität als Querschnittsthema der Sozialethik wie eine Durchdeklinierung der bewährten Instrumente der Soziallehre unter den Bedingungen der Digitalität.

Sozialethik muss grundsätzlich unter den Bedingungen der Digitalität betrachtet werden; eher am Rande, versteckt im Kapitel „Datenschutz“, betonen das die Autor*innen des Impulspapiers „Virtualität und Inszenierung“ (2011) der Publizistischen Kommission der Deutschen Bischofskonferenz: „Wenn Wirtschaft, Kultur, Bildung, Politik und Alltagsleben immer mehr mit dem Internet zusammenhängen, dann werden Wirtschaftspolitik, Kulturpolitik, Bildungspolitik und Sozialpolitik zur Netzpolitik“ – was hier über Politik ausgesagt wird, gilt genauso für Theologie.

Der italienische Jesuit Antonio Spadaro hat einen etwas breiteren Ansatz. „Das Internet ist nicht eine Ansammlung von Kabeln, Drähten, Modems und Computern, sondern in erster Linie eine Erfahrung, ein neuer existenzieller Kontext“, denn: „Der Kontext des Netzes hat die Tendenz, nicht als ein besonderer und bestimmter Kontext isolierbar zu sein (und er wird es immer weniger sein), sondern im Fluss unserer alltäglichen Existenz aufzugehen (und er wird es immer mehr).“ (Das 2011 unter dem Titel „Cyberteologia. Pensare il cristianesimo al tempo della rete“ erschienene Werk ist erst seit 2016 als Kürzest-Version in Form eines Editorials in den „Stimmen der Zeit“ auf deutsch verfügbar.)

Politikfelder, die vorher sehr speziell waren, werden zu Themen, die alle betreffen, und die bei einer ethischen Durchdringung des Sozialen plötzlich relevant werden. Deutlich wird das etwa an der Diskussion um Datenschutz und Urheberrecht: Urheberrecht hat zunächst den ordnungspolitischen Rahmen für Geschäftsverhältnisse und Geschäftsgrundlagen von Urheber*innen und Verwerter*innen abgesteckt, Datenschutz die Grundrechte einzelner gegen staatliche und wirtschaftliche Daten-Verarbeiter*innen verteidigt. Heute betreffen diese ehemaligen Spezial-Rechtsgebiete die Verfasstheit der Öffentlichkeit, die selbstverständlich auch ein digitaler Raum ist.

Der kirchliche Datenschutz zeigt, wie’s nicht geht

Am Beispiel des Datenschutzes zeigt sich auch, wo Defizite und blinde Flecke in der sozialethischen Betrachtung (und in der Politik) sind: Der Grundfehler der europäischen Datenschutzgrundverordnung ist einer, der mit den Instrumenten der Soziallehre der Kirche offensichtlich ist. Dort gibt es nur „Betroffene“ („data subjects“), die es zu schützen gilt, und Datenverarbeiter*innen, die kontrolliert und alle über einen Kamm geschert werden. Dabei sind Menschen nicht nur einzelne „Betroffene“, deren Privatsphäre und informationelle Selbstbestimmung ein Schutzgut darstellt, sondern auch Teil einer Kommunikationsgemeinschaft: Das Personalitätsprinzip wird unzureichend mit dem Solidaritätsprinzip abgewogen; die juristische Konstruktion „Verbot mit Erlaubnisvorbehalt“ wird absurd, wenn es ein wesentlicher Aspekt von Sozialität ist, nämlich Kommunikation, die unter Erlaubnisvorbehalt gestellt wird, sobald der rein private Bereich verlassen wird – also schon im Verein und im eigenen Blog. Das Subsidiaritätsprinzip kommt erst gar nicht zum Tragen, wenn der Verein, die Bloggerin, unterschiedslos wie der multinationale Konzern reguliert wird. Datenschutz in einer Welt der digitalen Öffentlichkeit müsste ganzheitlich betrachtet und Personalität, Solidarität und Subsidiarität zusammenbringen.

Von kirchlicher Seite war eine solche Kritik nicht zu hören; auch den Bischöfen – Hütern der Soziallehre der Kirche – ist diese Problematik nicht aufgefallen, als sie die Regelungen der DSGVO weitgehend wortgleich im neuen kirchlichen Datenschutzgesetz für ihren Jurisdiktionsbereich übernommen haben. Spricht man einzelne Verantwortliche darauf an, hört man abwehrende Reaktionen: Man setze nur europäische Vorgaben um. Prophetisch geht anders.

Ähnlich ließen sich andere Felder durchdeklinieren, indem bewährte Instrumente und Denkfiguren unter den Bedingungen der Digitalität angewandt werden; ein Beispiel in den beiden Papieren von BDKJ und Publizistischer Kommission, an denen ich vor kurzem mitgearbeitet habe, ist das Urheberrecht, wo viel von „geistigem Eigentum“ die Rede ist (auch in der sehr übersichtlichen kanonistischen Literatur zum Urheberrecht), aber wenig von der thomistischen Eigentumsbegründung, die Eingang in die Soziallehre als Sozialpflichtigkeit des Eigentums gefunden hat.

Wenn’s die Päpste nicht machen, sollten Akademie und Lai*innen ran

Katholische Soziallehre wird wesentlich vom Lehramt der Kirche vorangetrieben; weit mehr als in anderen Feldern sind Enzykliken wichtige Treiber und Schrittmacher des Diskurses. Material gibt es schon: Das Konzilsdekret „Inter mirifica“, das Sozialität und Informationsgesellschaft zusammengedacht hat. Die Beiträge aus dem ehemaligen Päpstlichen Rats für die sozialen Kommunikationsmittel unter Johannes Paul II. und Benedikt XVI. (seine letzte Botschaft zum Welttag der sozialen Kommunikationsmittel etwa) waren substanziell. Franziskus schwankt beständig zwischen Skepsis und Optimismus, aber immerhin taucht das Digitale selbstverständlich in seinen Texten auf – von ihm ist die große Digitalenzyklika wahrscheinlich nicht zu erwarten.

43 Jahre lagen zwischen Kommunistischem Manifest und Rerum Novarum. Seit der „Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace“ sind 22 Jahre vergangen – nach kirchlichen Maßstäben also: etwas über Halbzeit für die Digitalenzyklika. Umso wichtiger, dass die akademische Sozialethik wie die katholischen Sozialverbände darauf nicht warten und sich endlich umfassend der Rerum Novissimarum annehmen, die heute so wenig die neuesten Dinge sind, wie 1891 die Soziale Frage eine neue Sache war.

 

Hashtag der Woche: #RerumNovissimarum


(Beitragsbild: @Alexas_Fotos)

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felix neumann

(@fxneumann) hat in Freiburg Philosophie und Politikwissenschaft studiert und ist Redakteur bei katholisch.de. Seit Jugendverbandszeiten beschäftigt er sich mit dem Thema Digitalität in der Kirche und der Theologie, zur Zeit in der Redaktion des Blogs digitalelebenswelten.bdkj.de, als Mitglied der Expertengruppe Social Media der Publizistischen Kommission der Deutschen Bischofskonferenz und im Vorstand der Gesellschaft Katholischer Publizisten.

One Reply to “Für mehr 4.0 in der Sozialethik”

  1. Danke für den Text! Die gleiche Meinung vertrete ich seit Jahren beim Forum Sozialethik – nur leider gibt es selbst im Nachwuchsbereich nur ganz wenige Leute, die sich mit der Digitalisierung wissenschaftlich auseinandersetzen (mich selbst eingeschlossen). Vielleicht ließe sich die Situation mit einer (noch) besseren Vernetzung der einschlägig Interessierten und Forschenden verbessern?

    P. S. Beim Forum Sozialethik 2018 gibt es immerhin einige Beiträge, die das Thema ansprechen – herzliche Einladung:
    https://forum-sozialethik.de/tagungen
    https://twitter.com/Sozialethik
    https://www.facebook.com/forumsozialethik/

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