Bücher zeichnen uns eine Vorahnung, ein Bild des Lebens, wie es sein könnte. Für bestehende Hierarchien kann dies gefährlich werden. An zwei lesenden Frauen — Emma Bovary und Offred — zeigt Eva Höfflin-Grether auf, wie das Lesen (männliche) Machtansprüche infrage stellt.

Den Titel dieses Beitrags habe ich mir leider nicht selbst ausgedacht, es ist der Titel eines Bandes, der Bilder und Photographien lesender Frauen versammelt und so die Geschichte weiblichen Lesens erzählen will.1 (Immerhin stammt das Vorwort von Elke Heidenreich und es kommt somit zumindest einmal und an exponierter Stelle eine Frau zu Wort – stammen doch die abgedruckten Bilder in der großen Mehrzahl von Männern.) Lesende Frauen gibt es auch in der Literatur und mitunter zeigt sich an ihnen, wie wirkmächtig Geschichten sein können.

Die Geschichte einer lesenden Frau erzählt Gustave Flaubert in seinem 1857 erschienen Roman Madame Bovary2. Schon der Untertitel Sitten in der Provinz offenbart Emma Bovarys Unglück – genauer gesagt die Ortsangabe: Emma ist die Tochter eines normannischen Bauern, die zeit ihres Lebens die engen Grenzen ihrer région nicht verlassen wird. Doch das wahre Leben spielt in Paris. Dort, wo Emma lebt, regiert die Langeweile.

Her mit dem schönen Leben!
 
Erste Vorstellungen vom ‚wahren Leben‘ eignet sich Emma in ihren Teenager-Jahren an, die sie im Kloster verbringt. Eindruck hinterlassen hier die Geschichten einer »alte[n] Jungfer, die jeden Monat für acht Tage kam, um in der Wäschekammer zu arbeiten“ (Flaubert, 52). Neben der Wäschekammer betreibt diese Frau eine heimliche Leihbibliothek für Groschenromane, in denen Emma sich ‚erliest‘ was Leben, Leidenschaft und Glück bedeuten.

Doch weder der Klosteralltag noch das Leben auf dem väterlichen Bauernhof können mit diesen literarischen Bildern mithalten. Und so glaubt Emma schon mit kaum 20 Jahren, das Leben halte nichts mehr für sie bereit. So groß ist ihre Langeweile, dass sie dem Werben des einfachen Landarztes Charles nachgibt, obwohl schon während der Hochzeitsvorbereitungen offensichtlich wird, dass diese Ehe ihren Hunger nach Sinnlichkeit und Leidenschaft kaum wird stillen können: Denn anstelle der Trauung um Mitternacht im Fackelschein, die sie sich gewünscht hat, wird ein mittleres Gelage ausgerichtet, zu dem noch die entfernteste Verwandtschaft geladen ist. Es dauert keine drei Wochen, bis Emma erkennt, wie weit die Realität, in der sie lebt, von den Idealen ihrer Romane entfernt ist.

Vor der Hochzeit hatte sie geglaubt, Liebe zu empfinden; aber als sich das Glück, das aus dieser Liebe hätte entstehen sollen, nicht einstellte, dachte sie, sie müsse sich getäuscht haben. Und Emma versuchte zu erfahren, was genau man im Leben unter den Worten Glückseligkeit, Leidenschaft und Rausch verstand, die ihr in den Büchern so schön erschienen waren.

Leselust und Lesefrust

Diese fundamentale Enttäuschung – sch**** geheiratet! – ist die erste von vielen, die den langweiligen Alltag Emmas unterbrechen. Für die Handlung wie für die Figurenkonzeption bleibt dabei Emmas Leselust gleichermaßen bestimmend, denn zuverlässig ist ihr Seelenzustand an dieser abzulesen. In einer ihrer Krisen irrt sie in Haus und Garten umher, bleibt schließlich sogar tagelang im Bett und kann sich nicht einmal mehr für Bücher begeistern, denn:

Ich habe alles gelesen. (Flaubert, 84)

Hofft sie jedoch, glaubt sie wieder an eine Wendung zum Besseren, so liest sie alles, was sie in die Finger bekommen und mit dem sie ihre Sehnsucht weiter nähren kann.
Es nimmt nicht wunder, dass der erste Mann, der ihre Phantasie und ihre Leidenschaft wirklich zu wecken vermag, ihr durch die Lektüre näher kommt: Er heißt Léon und liest ihr vor. Ein Mann, der liest – schon dies unterscheidet Léon von Charles, der über Emmas Leselust nur bewundernd lächelt:

Auf diese Weise entstand zwischen ihnen [Emma und Léon] eine gewisse Gemeinsamkeit, ein ständiger Austausch von Büchern und Romanzen; Monsieur Bovary, der wenig zu Eifersucht neigte, fand dies nicht verwunderlich. (Flaubert, 127)

So wenig wie er Emmas Lebenshunger versteht oder auch nur wahrnimmt, erfasst Charles die Bedeutung der Literatur. Er ist phantasielos, blind für den Zauber für Geschichten, die entwerfen, was sein könnte, und deshalb blind für das Wesen seiner Frau.

Diagnose: Langeweile

Flaubert zeichnet Emma in einen Echoraum tradierter Geschichten, von Literatur im engeren und weiteren Sinne: In Groschenromanen, bei Balzac oder der feministischen George Sand und nicht zuletzt in Illustrierten sucht Emma unzählige Vorbilder und Anreize, die ihre ausgeprägte Einbildungskraft immer weiter steigern. Emma ist sich darüber bewusst, dass sie Literatur und Leben miteinander in Beziehung setzt – wenngleich sie ihre Lektüre nicht auf ihren faktualen Gehalt hin kritisch überprüft. Dass ihre Realität mit diesen Geschichten nicht mithalten kann, führt schließlich dazu, dass Emma sich das Leben nimmt.  Was wie die Verzweiflungstat einer hoch verschuldeten Verschwenderin aussieht, ist in Wirklichkeit das Ende einer buchstäblich zu Tode gelangweilten Frau. Als »Bovarysme« bezeichnet ging dieses Motiv in die Literaturgeschichte ein; Emma werden Ibsens Hedda Gabler und Thomas Hardys Eustacia Vye folgen, um nur zwei zu nennen. Flaubert aber ist der erste, der feinsinnig und mit innovativen erzähltechnischen Mitteln von den sinnlichen – auch den sexuellen – Ansprüchen erzählt, die frau hat.

Lesen verboten!

Werfen wir noch einen kurzen Blick auf ein weiteres literarisches Beispiel vom Lesen: In Margaret Atwoods Dystopie The Handmaid’s Tale (1985) versucht die herrschende Kaste, die ‚Sons of Jacob‘, ein gesellschaftliches System zu erhalten, in dem Frauen keinerlei Rechte haben. Sie zählen zum Eigentum des Mannes, in dessen Haushalt sie leben. Weil ein solches System sich nicht von selbst erhält, muss alles von der Bildfläche verschwinden, was geeignet ist, weiblichen Widerstand zu wecken: Bücher, weil sie heraufbeschwören, was sein könnte; Magazine, weil sie den Leser*innen eine bessere (meist schönere) Version ihrer selbst versprechen; Schrift, in der der Mensch Individuelles und Bleibendes festhalten kann.

Wie den Menschen nach Geschriebenen hungern kann, beschreibt Offred, Protagonistin des Romans. Sie ist Handmaid eines Commanders, der verbotene Dienste verlangt: Er lädt sie zu einer Scrabble-Partie, ein Spiel, das für Offred tödliche Folgen haben kann. Im Gegenzug leiht er ihr eine Zeitschrift. Eine, in der sie früher vielleicht beim Zahnarzt geblättert, der sie aber niemals größere Beachtung geschenkt hätte. Doch jetzt, nachdem sie jahrelang alle Schrift entbehrt hat, sieht sie selbst die Voguemit wertschätzendem Blick:

What was in them [the magazines] was promise. They dealt in transformations; they suggested endless series of possibilities, extending like the reflections in two mirrors set facing one another, stretching on, replica after replica, to the vanishing point. (Atwood, 165)3

Schrift verbindet: Den Commander mit Offred, denn für Scrabble braucht er eine*n Partner*in. Offred mit der Erinnerung an und der Hoffnung auf ein besseres Leben. Emma und Léon durch die gemeinsame Lektüre.

Atwoods Sons of Jacob wissen: Frauen, die lesen, sind gefährlich — für Männer, die ihre Herrschaft mit der Freiheit der Frauen erkauft haben. Menschen, die lesen, lassen sich nicht so leicht Grenzen setzen. Vielleicht sollten wir mehr lesen.

Hashtag der Woche: #mehrlesen


(Beitragsbild: @anthonytran)

1 Stefan Bollmann: Frauen, die lesen, sind gefährlich. Mit einem Vorwort von Elke Heidenreich. München 62007.

2 Gustave Flaubert: Madame Bovary. Sitten in der Provinz. Aus dem Französischen neu übersetzt von Caroline Vollmann. Fischer Klassik. Frankfurt / Main 2009.

3 Margaret Atwood: The Handmaid’s Tale. London 2016.

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eva höfflin-grether

studierte Deutsch, Erziehungswissenschaft und Biologie in Freiburg. Sie promoviert im Fachbereich Neue Deutsche Literatur und arbeitet freiberuflich als Text- und Konzeptentwicklerin.

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