Seit einiger Zeit erlebt Österreich einen Rechtsruck. Unsere Autorin Sarah ist jüdische Bloggerin und hat ihr ganzes bisheriges Leben in Wien verbracht. Nun muss sie plötzlich darüber nachdenken, ihre geliebte Stadt zu verlassen. Was gerade in ihr vorgeht, schreibt sie hier.

Es ist ein Schock. Seit letztem Herbst haben wir in Österreich eine schwarz-blaue Regierung. Ach nein, türkis-blau. Schwarz hat sich auch farblich dem rechten Rand angenähert. Der neue Stil. Das letzte Mal, als Österreich von den Mittelrechten und Ganzrechten regiert wurde, war einiges anders. Europa war angewidert von uns und verhängte Sanktionen. Heute ist Österreich ein Fall von vielen. Damals waren nicht über 40% aller Parlamentsabgeordneten der FPÖ Burschenschafter – heute schon.

Es gibt so viele beängstigende Dinge, die die neue Regierung ins Auge gefasst hat, dass ich hier gar keine vollständige Liste aufzählen kann. Schlimm ist auch, dass die politische Legitimation vielen Leuten das Gefühl gibt, endlich einmal wieder so richtig antisemitische (und islamfeindliche und xenophobe und rassistische …) Sachen in der Öffentlichkeit sagen zu dürfen. Eine meiner hässlicheren Erfahrungen damit könnt ihr hier nachlesen. Es ist vielerorts zu hören, dass Jüd_innen in diesem Klima, das in ganz Europa stärker wird, nicht mehr bleiben möchten. Auch an meiner Familie geht das alles nicht spurlos vorbei.

„Kanada oder Israel?“, das ist die große Frage bei uns seit der Angelobung der neuen Regierung. Meine Mutter ist die Erste, die sich intensiv mit dem Thema Auswanderung beschäftigt. Als wir uns eines Tages auf einen Tee treffen, erzählt sie mir: „Ich habe gestern bei der israelischen Botschaft angerufen und sie gebeten, Alijah-Akten für uns anzulegen.“

Ein vages Unbehagen breitet sich in mir aus. Ich habe nicht die innige Beziehung zu Israel, die Einrichtungen wie Birthright bei uns jungen Jüd_innen entflammen wollen. Einen Monat lang war ich für ein archäologisches Praktikum dort und war wenig angetan von der jüdisch-nationalistischen Vermarktung der Funde. Es ging mir auch nicht gut in Jerusalem. Als am Tag meiner Ankunft Schüsse zu hören waren, habe ich mich unwillkürlich auf den Boden geworfen. Die Umstehenden haben mich verständnislos angeschaut: In einem kriegsgebeutelten Land werden selbst Hochzeiten mit Schüssen begangen.

Ein paar Tage nach unserem Treffen schickt meine Mutter mir ein Formular, das ich ausgefüllt an die israelische Botschaft schicken soll. „Damit im Notfall alles ganz schnell geht“, meint sie. Ich witzele halbherzig über den Punkt „Do you believe that Jesus is the Messiah?“, fülle es aber mit einem schlechten Gefühl im Bauch aus und schicke es ab. „Ich bin Wienerin“, rebelliert es in mir, „Was soll ich in Israel?“

Mein Vater ist der Erste, der Kanada ins Gespräch bringt. Es geht ihm ähnlich wie mir: Er fühlt sich als Europäer (daher liebäugelt er mit Quebec), Israel ist ihm zu unsicher. „Außerdem: Ich möchte nicht von einer rechtsnationalen Regierung zur nächsten gehen.“ Für ihn besteht Heimat nicht aus der traumhaften Landschaft oder den geschichtsträchtigen Gebäuden. „Wenn der allergrößte Teil der Menschen rechts ist, was nützen dir dann die schönen Häuser?“

Ich bin traurig und sehe es anders. Nie habe ich woanders gewohnt als in Wien; ich bin verheiratet mit der Stadt, liebe ihre schmalen, geheimnisvollen Gässchen, ihre Cafés, ihre vielen Subkulturen und das Grün der unzähligen Bäume und Parks. Sicher hat Kanada seine Schönheiten, aber es ist so weit weg.

Die Frage nach dem Auswandern zeigt auch einen Generationenkonflikt. Meine Eltern gehören zur „Generation der gepackten Koffer“, der Kinder der Überlebenden und der Schweigenden, die jederzeit bereit sind zu gehen. Bei meiner Generation ist es anders. Als zuletzt der Vorstand der „Jüdischen Österreichischen HochschülerInnenschaft“ gewählt wurde, gewann die Gruppe, die sich für „uns als Wiener Juden“ stark gemacht hatte. Der international besetzte frühere Vorstand repräsentiere nicht „uns Wiener“ und biete zu wenig Programm „für UNS“. Ich war befremdet von diesem sogar bei der linksorientierten JÖH vorhandenen Heimatstolz. Gleichzeitig fühle ich, dass ich nicht die einzige hier fest verwurzelte Jüdin bin. Wir Jungen, wir sind aufgewachsen in einem Österreich, das schön ist und in dem man etwas erreichen kann, wenn man den Mund aufmacht; in einem Staat, der den jungen nichtjüdischen Menschen positive Neugier auf uns beibringen will – und wenn das nicht klappt, dann wenigstens reuige Betroffenheit, aber es steht schon lange nicht mehr auf dem Lehrplan, dass wir degenerierte Schädlinge wären.

Nicht nur der Generationenkonflikt spielt eine Rolle; mein Vater etwa hat andere Gründe zum Auswandern als meine Mutter. Er möchte seinen politischen Freigeist entfalten können, sie hat Angst vor Übergriffen. Ich dagegen fürchte, dass es diesmal zuerst gegen Flüchtlinge und Muslim_innen geht und fühle mich eigentlich zu sehr verantwortlich für das Geschehen in meinem Land, um auszuwandern.

Ich will nicht nach Israel. Und nach Kanada auch nicht, das steht fest. Aber dennoch gibt es in mir ein nagendes Gefühl, dass meine Eltern etwas vorausahnen könnten, das ich bloß nicht wahrhaben will. Ich möchte meinen eigenen Plan B haben, „nur für den Notfall“, eine Phrase, die wir im letzten halben Jahr viel zu oft benutzt haben.

Die Anti-Defamation League hat viele Länder der Welt auf ihren Antisemitismus hin untersucht und indiziert. Auf ihrer Website werde ich fündig. Die Niederlande. Ich kenne Amsterdam, es gefällt mir gut dort. Die Sprache ist leicht zu lernen und es gibt eine Kaffeehauskultur, also kann auch eine Wienerin dort überleben.

Kurz darauf reise ich zu einer Konferenz nach Amsterdam und ergreife die Chance, mich bei Zugereisten und Einheimischen umzuhören. Es klingt vielversprechend: In Holland gibt es die größte progressiv-jüdische Gemeinde in ganz Europa. Endlich wäre ich nicht mehr Teil einer Minderheit in der Minderheit.1 Ein aus Deutschland stammender Pfarrer meint, in die Niederlande zu ziehen sei sehr empfehlenswert. Und dennoch: Ein schwedischer Rabbiner und eine holländische Rabbinerin stimmen überein, dass das Judentum in Europa keine Zukunft hat. Sie drängen mich, nach Israel auszuwandern.

Die Rede eines holländischen Imams auf der Konferenz stimmt mich nachdenklich: Seine Gemeinde sei noch immer so mit Integration beschäftigt, dass ein über Alltagsangelegenheiten hinausgehender interreligiöser Dialog noch eine Überforderung wäre. Mir geht auf, dass die Integration in eine neue Heimat für mich eine enorme Hürde sein würde, wenn ich auswandern sollte. Meine Emigration würde Auswirkungen haben noch auf die Identität meiner Kinder und Enkel. Und ich spüre immer mehr: Ich bin potentiell integrationsunwillig.

Nachdenklich kehre ich nach Wien zurück. In der Zwischenzeit finden meine Eltern Kanada nicht mehr so toll (es ist nämlich gar nicht so leicht wie zuerst gedacht, dorthin auszuwandern) und hören mir interessiert zu, wenn ich von Amsterdam erzähle. Das schlechte Gefühl bleibt. Momentan ist mein Standpunkt: Ich möchte hier nicht weg, außer im äußersten Notfall. Dann flüchte ich zunächst innerhalb der EU und warte die Entwicklungen ab. Nur – woran erkenne ich, dass der Zeitpunkt zum Auswandern gekommen ist?

Hashtag: #exodus


(Beitragsbild: @dylu)

1 In Österreich gibt es genau eine progressive Gemeinde. Alle anderen sind verschiedene Schattierungen von orthodox.

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sarah egger

ist progressive Jüdin aus Wien, hat lange im interreligiösen Dialog gearbeitet und schreibt auf ihrem Blog Davidssplitter über ihre katholisch-jüdische Liebesbeziehung und die merkwürdigsten Auswüchse interreligiöser Dialogbemühungen. Aber eigentlich geht es um Essen und Einkaufen.

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