– Vom Für und Wider der Multioptionalität
Eine Replik auf den gestrigen Artikel von Stefan Gärtner von Jonatan Burger, Hannah Ringel und Filip Friedrich. Dieser Beitrag erscheint zeitgleich bei feinschwarz.net, dem theologischen Online-Feuilleton mit Sitz in Wien.
Gärtner, Bude, Frittenbude?
Multioptionalität kann echt kompliziert sein. Der Sänger von Frittenbude hat diese Einsicht in ihrem Track „Von allem zu viel“ verarbeitet.
„Von allem zu viel, denn es ist nie genug. Es fühlt sich falsch an, doch irgendwie auch gut. Es ist noch nichts verloren – außer der Verstand. Wir nehmen unseren Kram und fahren ihn an die Wand.“
Wenn jede „Entscheidung für die eine immer auch eine Entscheidung gegen eine andere Variante darstellt“1, steht am Ende oftmals die „Angst, sich selbst zu verfehlen“2, weil zwar „alles offen, aber nichts ohne Bedeutung ist“3, so der Soziologe Heinz Bude. Je mehr Möglichkeiten das Leben bereithält, desto eher wird die individuelle Biographie als eigenverantwortliche wahrgenommen. Und desto stärker drohen diese Chancen das Individuum bisweilen zu überfordern. Denn es weiß ja darum, dass jede Wahl immer auch ein „Verzichten[…], Verwerfen[…], Versäumen und Verpassen[…]“4 impliziert. Deshalb geht in gewisser Weise mit der Aufgabe „alltägliche[r] Vertrautheit [des Eingespielten angesichts einer Fülle von Reizvollem und Neuem] auch das Empfinden einer ontologischen Sicherheit“5 verloren. Wenn Stefan Gärtner also die Askese als Ausweg aus diesem Schlamassel unserer Gegenwart proklamiert, versucht er – mit Bude gesprochen – dem Ich „im Neinsagen sein stärkstes Selbstwirksamkeitserlebnis“6 zurückzugeben.
Die Qual der Wahl – ein Luxusproblem
„Nein“ sagen kann aber nur, wer tatsächlich wählen, also auch „Ja“ sagen könnte. Stefan Gärtner nimmt in seinem Beitrag zwar auch diejenigen in den Blick, die drohen, zurückzubleiben, weil sie über zu wenig sozioökonomisches Kapital verfügen oder von der Entwicklung hin zur Multioptionalität schlichtweg überfordert sind. Asketisch leben kann allerdings nur, wer zunächst einmal real in der Lage ist, Multioptionalität wahrzunehmen und aus Freiheit heraus zu negieren oder einzuschränken. Genau auf diese Art und Weise wird das Selbstwirksamkeitserlebnis zur exklusiven Veranstaltung und Askese zum Luxus. Wer von vornherein aus strukturellen Gründen nicht die Möglichkeit besitzt, innerhalb der Kultur überhaupt „Ja“ sagen zu können, bleibt auch in diesem Fall außen vor. Mit bloßer Askese ist man nur sich selbst der*die Nächste, den von Stefan Gärtner in den Blick genommenen Zurückgelassenen ist dabei aber nicht geholfen.
Es ist an uns, gerade die Vielzahl an Möglichkeiten zu kultivieren und vielleicht auch einmal zurechtzubiegen, sodass sie allen offenstehen und die Marginalisierten nicht mehr ausgeschlossen werden. Und es ist unsere Aufgabe, – neben uns – auch andere dazu zu befähigen, sich in dieser wachsenden Zahl an Möglichkeiten immer wieder neu zurechtzufinden, uns gegenseitig beim Erreichen zu unterstützen und so die Chancen, welche Multioptionalität birgt, für alle nutzbar zu machen. Erst danach kann sich jede*r für seine*ihre persönliche Form von Askese entscheiden oder eben alles nehmen, was man kriegen kann. Denn die soziokulturelle Entwicklung hin zur Multioptionalität lässt sich nicht verhindern oder aufhalten, sie kann aber an sich im Inneren sozial gestaltet werden. Es braucht keinen Kulturpessimismus, es braucht Kulturkultivismus.
Warum denn so ernst?
Doch warum sollte man sich überhaupt für Askese entscheiden und sein Ich langfristig beschränken? Dieselbe Generation wie Frittenbude und weniger Pessimismus hören sich bei Casper schon ganz anders an:
„Keine Angst, denn alles was mal war, ist morgen vielleicht schon egal. Außer Gefahr. Keine Angst, denn das, was du jetzt bist, ist nicht, was du für immer sein wirst […].“
Was wäre das Leben ohne unerwartete Beziehungschancen, über den Haufen geworfene Pläne und das gelegentliche Spiel mit der eigenen Identität?
Und selbst wenn der von Gärtner zitierte Hartmut Rosa von „situativen Identitäten“7 spricht, welche nicht zeitstabil sind oder sein müssen, impliziert er damit doch nicht bereits, „dass alle Identitätsmerkmale von Situation zu Situation verändert würden“8, sondern geht davon aus „dass einige, ganz im Gegenteil, über eine Vielzahl von Situationen und Kontexten hinweg synchron und diachron erhalten bleiben“9. Die Persönlichkeitszersetzung bleibt erstmal kulturpessimistische Schwarzmalerei. Ganz so leicht kann man es sich also nicht machen; auch oder gerade, wenn man über die Multioptionalität nachdenkt, scheint es durchaus mehr als eine Option zu geben. Es käme also darauf an, sich selbst und andere zu bilden und zu befähigen, eigenständig und verantwortungsbewusst mit der wachsenden Multioptionalität umgehen zu können und sie gestaltend für sich zu nutzen.
By the way: BTW 2017
Im Bereich der Ästhetik scheint Gärtners Handlungsalternative reizvoll zu sein. Dass ich nur zwischen fünf Sendern wählen muss, erleichtert eventuelle Diskussionen um das abendliche Fernsehprogramm ungemein. Geht man indes über das Feld des Ästhetischen hinaus, greift diese Logik allerdings zu kurz. Denn haben wir nicht auch eine Verantwortung für die Konsequenzen der Multioptionalität? Schon bei der Bundestagswahl in zwei Wochen genügt es eben nicht, mich als bisher gänzlich Unentschlossene*r mit zwei Parteien als Wahloptionen auseinanderzusetzen, sondern ich muss wohl deutlich mehr Wettbewerber*innen genauer in den Blick nehmen, um meine Wahl und ihre Folgen verantworten zu können. In diesem und in anderen Fällen kommt falsch verstandene Askese Verantwortungslosigkeit gleich, es greift eine Verpflichtung zur Multioptionalität.
Letztlich – oder zumindest vorerst.
Vielleicht kann das Leben – so Kierkegaard – wirklich erst nach hinten verstanden werden, dennoch gilt es auch, dieses Leben auch nach vorne zu leben – gerade wegen der Fülle unserer Möglichkeiten. Ohne Herausforderung keine Chancen, ohne Überforderung nichts Unerwartetes, ohne Offenheit kein Neuaufbruch. Der Rest ist Entscheidung. Und Freelancen beim Avocado-Latte im Hipster-Café statt Faulenzen mit Filterkaffee im Großraumbüro.
Hashtag der Woche: #allesopti
1 Bude, Heinz. Gesellschaft der Angst. Hamburg: Hamburger Edition ³2015, S. 11.
2 Bude (2015), S. 91.
3 Bude (2015), S. 20.
4 Bude (2015), S. 98.
5 Bude (2015), S. 31.
6 Bude (2015), S. 30.
7 Rosa, Hartmut. Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung: Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik. Berlin: Suhrkamp 2012, S. 258.
One Reply to “Wenn „weniger mehr“ ist, ist dann vielleicht „alles zu viel“?”