Wer an Karl Rahner (1904-1984) denkt, wird vermutlich Superlative im Blick haben: einer der größten Konzilstheologen, Vordenker der deutschsprachigen Freiheitstheologie, herausragender jesuitischer Denker, bahnbrechender systematischer Theologe und vor allem Verfasser von schier endlosen Bandwurmsätzen. In diesem Monat wäre Rahner 120 Jahre alt geworden, tatsächlich begehen wir seinen 40. Todestag. Ein guter Moment zum Innehalten und sich fragen, was er uns heute noch zu sagen hat. Benedikt Collinet, der an der Universität Innsbruck in einem FWF-Projekt (2019-2024) zu Karl Rahners Bibelzugang forscht, nimmt uns mit auf einen Blick in seine „Rahner-Werkstatt“.

„80 Jahre sind eine lange Zeit. Für jeden aber ist die Lebenszeit, die ihm zugemessen ist, der kurze Augenblick, in dem wird, was sein soll“ (SW 25, 57).

Mit diesen Worten beendet Karl Rahner seinen letzten öffentlichen Auftritt, bei einem Festakt in Freiburg anlässlich seines 80. Geburtstags und nur wenige Wochen vor seinem Tod. Diese Worte drücken für mich viel von dem aus, was mir in den letzten Jahren über Rahner begegnet ist: Sie sind klar, bescheiden, mit einem Schuss alemannischen Humor und entstammen einer theologisch durchdachten und tief empfundenen Spiritualität.

In den vergangenen Jahren habe ich die 40 Bände der Sämtlichen Werke (SW 1 – 32/2) durchgearbeitet, um herauszufinden ob an den Aussagen etwas dran ist, dass Rahner die Bibel offenbarungstheoretisch überhöht habe, dass sein Verhältnis zum Judentum angespannt war; weiters wie er Bibel gelesen, verstanden, erforscht und gepredigt hat. Dabei habe ich viel über diesen großen Mann der jüngeren Theologiegeschichte gelernt, was mir in keiner Vorlesung begegnet ist: berührende Zitate, herzhaftes Lachen, aber auch die Grenzen seines Denkens und seiner Zeit und die traurige Wahrheit, dass katholische Theologie vor 40 Jahren bereits auf einem Stand war, den wir in den letzten Jahren mühsam wieder hervorgeholt haben. So gab es Statements zur Erneuerung des Ordenslebens, zu Strukturfragen in der Kirchenorganisation, der Weihe von Frauen, dem Umgang mit charismatischen Bewegungen, aufkommenden Fundamentalismen, ökumenische Bemühungen, interreligiösen Dialog, den Grenzen rein historischer Forschung u.v.m.

Im Folgenden möchte ich einen Blick auf die mir vorher unbekannten Seiten von Rahner werfen, sowohl biographische als auch publizierte.

Der junge Rahner

Wenn man die Rahner-Biographien seiner Schüler liest, dann findet man bereits im jungen Rahner einen wenig bekannten Menschen. Seine enge Beziehung zu den Eltern, sein spirituelles Lernen von der Großmutter, das Mittun in der Jugendbewegung, in welcher er Romano Guardini begegnete, und die Nähe zu seinem älteren Bruder Hugo, der als Jesuit und Professor für Alte Kirchengeschichte ein Vorbild für ihn war, mögen noch Teil des Allgemeinwissens sein. Als erste Schriften werden wohl „Hörer des Wortes“, „Geist in Welt“ und „Von der Not und dem Segen des Gebets“ im Bewusstsein aufleuchten.
Darüber hinaus zeigt sich beispielsweise in den frühen Bänden, dass die Brüder ihrem Vater eine Art Festschrift über Herz-Jesu-Spiritualität zum Geburtstag widmeten. Im Rahner-Archiv in München finden sich Hinweise auf Gebetszettel, die Rahner von seiner Großmutter hatte und in den 1920er und 30er-Jahren verläuft sein Theologisieren sehr in den Bahnen seines Bruders. Besonders vor seiner Arbeit an der philosophischen Dissertation neigt Karl Rahner zu moralischen Predigten im Stil der Kirchenväter und zu spiritualisierenden Statements, die man später nicht mehr in dieser Form finden wird. Der ganz junge Rahner ist spirituell und emotional unterwegs, philosophisch und stilistisch trockener wird er erst später.

Vor allem während des II. Weltkriegs arbeitete er in Wien in der Seelsorge und äußerte sich kirchenpolitisch. Als möglicher Ghostwriter des „Wiener Memorandums“ forderte er in einem Schreiben aus der österr. Hauptstadt vom Hl. Stuhl der Bibelexegese mehr Freiheiten in Lehre und Forschung einzuräumen, der Antimodernisteneid wurde implizit kritisiert und bis in die Konzilszeit wird sich Rahner darum bemühen, das neoscholastische Denken zu öffnen, statt es aufzubrechen, Zensurverfahren zu verhindern und Stellung zu beziehen.

Dies alles sind Seiten von ihm, die mir nicht bewusst waren. Auch finden sich in seiner Neubearbeitung des LThK in den 1950er-Jahren widerstreitende Positionen zwischen Neuscholastik und neuen Ansätzen, bei denen nicht selten Rahner selbst zur Feder griff, um einen komplementären Artikel zu verfassen und so das Lexikon ausgewogen zu halten. Gleichzeitig diskutierte er mit Naturwissenschaftler:innen über die Evolutionstheorie und mit Exgeten (damals nur Priester) über den Monogenismus (= Abstammung aller Menschen von Adam und Eva).
Sucht man in den zahlreichen Interviews des späten Rahner Zeugnisse über diese Zeit (v.a. SW 31), so wird man kaum fündig. Er reagiert stets höflich und humorvoll, doch einige glorifizierende Anmerkungen tut er ab und man merkt, dass er lieber über die Gegenwart als über die Vergangenheit reden will. Es geht ihm immer um die Kirche von heute, die sich allerdings von Ewigkeit her zu verstehen hat.

Prägende Jahre

In den 1960er-Jahren ist Rahner als Konzilsberater (peritus) zwischen Rom und Innsbruck hin- und hergerissen, bevor er 1964 nach München und kurz darauf nach Münster wechselt. Erst nach seiner Emeritierung wird er für die letzten Lebensjahre in die Tiroler Berge zurückkehren, wo er noch heute in der Jesuitenkirche in einem schlichten Grab in der Krypta bestattet ist. Doch nicht nur das Konzil, auch biographische Erfahrungen prägen ab dieser Zeit sein Werk. Sein Bruder Hugo stirbt nach schwerer, durchlittener Krankheit, sodass Karl einen wichtigen Bezugspunkt verliert. Eine zweite Begegnung, die heute kaum erforscht ist, fällt ebenfalls in diese Zeit: der Kontakt zur Schriftstellerin Luise Rinser. Bis heute ranken sich Mythen um diese Beziehung, die zwischen Freundschaft, Erotik und einer zeitweise intensiven Bekanntschaft alles gewesen sein kann. Unabhängig was damals – oder nicht – geschehen ist, haben diese Erfahrungen es Rahner erlaubt, in seinen Texten persönlicher zu werden. So hat Anni Findl-Ludescher auf unserer Projekttagung gezeigt, wie sich sein Predigtstil verändert hat und auch bei anderen spirituellen Texten ab dieser Zeit, spürt man mehr persönliche Noten.

Rahners wissenschaftliches Werk zeigt noch eine andere Dimension, die mich wirklich beeindruckt hat. Die Bereitschaft eines über 60-jährigen, sein gesamtes Werk inklusive seiner Vorlesungen, noch einmal völlig neu aus dem Geist des Konzils zu interpretieren. Mindestens vier Bände entfallen auf dieses stetige Arbeiten (SW 21/1a-b; 21/2; 25) am eigenen Werk. Rahner überarbeitet alles und bringt vor allem in Artikeln und den Vorlesungsskripten seine revidierte Fassung sowie seine neu angepassten theologischen Argumente vor. Beendet ist dieser erneute Kraftakt des mittlerweile hochpopulären – und davon gelegentlich genervten – Rahner zu Beginn der 1970er-Jahre.

Licht- und Schattenseiten

Nun beginnt sein letztes Lebensjahrzehnt. Viele kirchlich verbundene Menschen erwarten sich vom „Konzilstheologen Rahner“ weitere wissenschaftliche und kirchenpolitische Wundertaten und sehen sich hin und wieder enttäuscht. Bei der Würzburger Synode macht sein Schüler Johann Baptist Metz eine wesentlich bessere Figur, wie Quellen belegen; wenig Dynamik und „Neues“ sei von Rahner gekommen.
Mich erinnert dieses Phänomen an Papst Franziskus. Man erwartet von Menschen mit einer gewissen Aura, dass sie alle Probleme der Gegenwart lösen und Reformen anstoßen, auf die Viele hoffen. Doch mit schon gut überschrittenem Rentenalter und einer enormen Lebensleistung, wie Rahner sie vorgelegt hat, ist das m.E. zu viel verlangt.

Ich möchte hier an drei Beispielen mit Licht- und Schattenseiten zeigen, was ich meine:

  1. Rahner hat sein Leben lang eine tiefe Spiritualität gelebt, die geprägt war von seinem Elternhaus, der ignatianischen Lebensform und priesterlicher Existenz. Für alle drei Bereiche (Alltag, Ordensleben, Priestertum) hat er Reformvorschläge gemacht, spirituelle Anleitungen verfasst und Probleme wie einen zunehmenden Klerikalismus kritisiert. Dennoch las er bis zum Lebensende gerne die tägliche Messe anstelle von Konzelebration und betete aus dem lateinischen Brevier. Nicht als Statement, sondern aus Gewohnheit und Vertrautheit vieler Jahrzehnte.
  2. Rahner hat, nach allem was wir im Projekt erheben konnten, vermutlich nie eine eigene deutschsprachige Bibel in Vollversion besessen und kannte sich im Alten Testament eher schlecht aus – mit Ausnahme der Psalmen. Das NT jedoch beherrschte er rauf und runter, nicht nur auf Latein, sondern auch auf Deutsch und Griechisch. Diese Fehlstelle, die zeittypisch ist und sich auch in den universitären Curricula findet, ist ihm im späteren Leben bewusst gewesen, denn er spricht nur ungern darüber und hält sich mit Kommentaren zu Exegese zurück, obwohl er sich noch mit Leben-Jesu-Forschung und anderen Dingen beschäftigt. Hier – wie im kirchlich tradierten Antijudaismus – mag auch die Ursache dafür liegen, dass Rahner sich zwar von den Nazis und rassischem Antisemitismus scharf absetzte, aber dennoch nie der neoscholastischen Schlagseite der Christologie entwachsen konnte. Selbst im berühmten Gespräch mit Pinchas Lapide, das im deutschsprachigen jüdisch-christlichen Dialog sicher nicht zu unterschätzen ist, kann Rahner nicht aus dieser Haut heraus und weicht an einigen Stellen aus.
  3. Rahners Anteil an den großen Reformen sind weniger kirchenpolitisch als wissenschaftlich errungen. Er stemmte sich gegen Zensurverfahren, plädierte offen für die Freiheit der Theologie in Lehre und Forschung, strebte eine dialogische Öffnung der Kirche zur Welt, zu anderen Religionen und zur aufgeklärten Moderne an. Auch als er populär wurde, änderte sich das kaum. Er wurde zwar viel mehr öffentlich eingeladen und unterzeichnete auch Petitionen, etwa gegen die Einschränkung der linkskatholischen Zeitschrift „publik forum“ oder gegen die Vorverurteilung der Befreiungstheologie. Doch fragt man ihn etwa nach dem Frauenpriestertum, so sagt er, dies sei zunächst einmal Frauensache und verweist auf eine Dissertation zu diesem Thema. Er selbst sieht dort keine unüberwindbaren Hindernisse, doch ein klares „Ja“ oder „Nein“ hört man von ihm nicht.

Rahner verstehen…

Rahner hat mich in den letzten Jahren also Einiges gelehrt. Nicht nur historisch und theologisch interessante Entwicklungen aus dem 20. Jahrhundert. Er hat unbeirrt und offen für die Freiheit der Theologie gesprochen und sich für eine Kirche (in) der Welt von heute eingesetzt. Die Theologie soll dabei Wegbereiterin und Dialogpartnerin sein, für alle Seiten.

Rahner schreckt nicht vor großen Aufgaben zurück und auch nicht vor schwierigen Themen. Er bildete sich seine Meinung, auch wenn dies manchmal jahrelang gedauert hat. Und in all dem findet sich keine eitle Abgehobenheit in seinen Texten. Nicht alle seine Texte sind kompliziert, aber er simplifiziert auch nicht, was sich nicht leichter oder plakativer sagen lässt. Wer Rahner verstehen will, muss seine Texte am Stück lesen. Pausen erlaubt er sich nicht – ein Artikel entspricht einem Gedanken – der stets mit zu Ende gedacht werden muss.
Und bei all dem behält er seinen Humor und sein unerschütterliches Gottvertrauen auf das persönliche und absolute Heil der Welt. Ich habe Rahner als Denker und literarischen Wegbegleiter schätzen gelernt und glaube, dass nicht nur sein Werk, sondern vor allem seine Haltung eine dauerhafte Lehre für die Kirche und für heutige Theolog:innen sein kann.

Am Schluss soll er noch einmal selbst zu Wort kommen:

„Wenn die Engel des Todes all den nichtigen Müll, den wir unsere Geschichte nennen, aus den Räumen unseres Geistes hinausgeschafft haben […], wenn alle Sterne unsere Ideale, mit denen wir selber aus eigener Anmaßung den Himmel unserer Existenz drapiert hatten, verglüht und erloschen sind; wenn der Tod eine ungeheuerlich schweigende Leere errichtet hat, und wir diese glaubend und hoffend als unser wahres Wesen schweigend angenommen haben; wenn dann unser bisheriges noch so langes Leben nur als eine einzige kurze Explosion unserer Freiheit erscheint, die uns wie in Zeitlupe gedehnt vorkam, eine Explosion, in der sich Frage in Antwort, Möglichkeit in Wirklichkeit, Zeit in Ewigkeit, angebotene in getane Freiheit umsetzte, und wenn sich dann in einem ungeheuren Schrecken eines unsagbaren Jubels zeigt, dass diese ungeheure schweigsame Leere, die wir als Tod empfinden, in Wahrheit erfüllt ist von dem Urgeheimnis, das wir Gott nennen […] und wenn uns dann auch noch aus diesem weiselosen Geheimnis doch das Antlitz Jesu, […] erscheint und uns anblickt, und diese Konkretheit die göttliche Überbietung all unserer wahren Annahme der Unbegreiflichkeit des weiselosen Gottes ist, dann, so ungefähr möchte ich […] beschreiben, […] wie einer, der vorläufig das Kommende erwarten kann: 80 Jahre sind eine lange Zeit. Für jeden aber ist die Lebenszeit, die ihm zugemessen ist, der kurze Augenblick, in dem wird, was sein soll.“ (SW 25, 57).

Hashtag der Woche: #120JahreRahner


Beitragsbild: @Susan Q Yin

 

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dr. benedikt collinet

studierte katholische Theologie, Religionswissenschaften und Komparatistik. Er promovierte und habilitiert sich im HB/AT. Neben Biblischer Theologie und Hermeneutik interessiert er sich für Kirchenpolitik, kritische Männerforschung, erzählende Texte und Filme.

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