Wie frei möchte Theologie künftig denken können? Mit dieser Reflexionsfrage wirft Katharina Mairinger-Immisch einen kritischen Blick auf die Zensur geschlechterinklusiver Themen seitens der katholischen Kirche und formuliert angesichts dessen im Anschluss an ihre im November erschienene Dissertation ein Plädoyer für die Freiheit der Theologie.

Lange Zeit waren intergeschlechtliche Menschen für Theologie und Kirche „ein blinder Fleck“1. Doch allmählich ändert sich das gesellschaftliche Bewusstsein für die Vielfalt der Geschlechterformen angesichts der immer lauter werdenden Stimmen von privaten Initiativen bis hin zu länderspezifischen (VIMÖ, Intergeschlechtliche Menschen e.V., Zwischengeschlecht.org) und länderübergreifenden (OII Europe, OII Intersex Network) Vereinen und Plattformen.

Intergeschlechtlichkeit – bislang kaum Thema der katholischen Theologie

Die Kirche, aber auch die Theologie folgt diesen Bewegungen bislang nur zögerlich. In der deutschsprachigen Theologie gibt es bislang nur eine im Seitenumfang begrenzte evangelische Auseinandersetzung von Conrad Krannich2 explizit zum Thema Intergeschlechtlichkeit. Eine katholische Auseinandersetzung ließ bis zur Erscheinung meiner Dissertation „Mehrdeutige Körper“3 im November 2023 auf sich warten.

Die geringe Aufmerksamkeit für das Thema liegt zum einen in der Geschichte der Intersex*-Bewegung selbst begründet. Erst Ende des 20. Jh. schließen sich verschiedenste Selbsthilfegruppen zum Zweck der Selbstbestimmung über den eigenen Körper und im Kampf gegen Genitalverstümmelungen4 zusammen. Zum anderen aber besteht seitens der Theologie – und vor allem auch seitens der Theologischen Ethik – weiterhin eine große Scheu, Fragen rund um die Themenkomplexe Gender, Sexualität und Geschlechtsidentität nachzugehen, da sich mit ihnen oft die Befürchtung verbindet, man könne hierdurch seine eigene Karriere gefährden.

Die theologische Beschäftigung mit einer Vielfalt der Geschlechter, steht im Verdacht, die von männlicher Herrschaft durchzogene Kirchenstruktur und mit ihr die Sakralisierungsmacht der Institution als ganze in Frage zu stellen. Nihil-obstat-Verfahren in diesem Zusammenhang sind keine Seltenheit, wie die Fälle von Regina Ammicht-Quinn5 oder auch unlängst derjenige von Martin Lintner6 aufweisen. Resultat dieser offensiv praktizierten katholischen Zensur sind existenzielle Brüche im Selbstverständnis von Theolog*innen alter und neuer Generationen, die als symbolische Gewalt erfahrbar werden.

Weniger Männlichkeit gleich weniger Heiligkeit

Darunter versteht der Sozialphilosoph Pierre Bourdieu von ritualisierten Praktiken männlicher Herrschaft geprägte Schemata, die die Wahrnehmung, das Denken und das Handeln von Menschen strukturieren und dazu beitragen, „dass bestehende Machtverhältnisse verschleiert und naturalisiert werden“7.

Konkret bedeutet dies, dass die von heteronormativer Männlichkeit geprägte katholische Kirche wiederholt Maßnahmen setzt, Männlichkeit zu sakralisieren, indem sie ihr einen heilsrelevanten Charakter zuweist. Heteronormative Männlichkeit dient der katholischen Kirche als „Distinktionsmarker“8 für die Orthodoxie und Orthopraxie katholischer Gläubiger. Personengruppen, die von diesem geradezu heiligen Ideal abweichen, haben schlechte Karten, da sie im Lichte dieses Ideals immer defizitär und damit weniger heilig wahrgenommen werden.

Dies belegt nicht nur die Geschichte des Subordinationsmodells9, sondern setzt sich in lehramtlichen Dokumenten der katholischen Kirche fort, die sich erstmals explizit zu Intergeschlechtlichkeit äußern und das Phänomen als pathologisch und heilsbedürftig ansehen10. Verheerend daran ist nicht nur, dass man sich hiermit einem Dialog auf Augenhöhe verweigert, sondern darüber hinaus, dass die als gut und richtig bewerteten „Wahrnehmungs- Denk- und Handlungsschemata“11 dazu führen, dass die auf sie angewandte Gewalt von der von männlicher Herrschaft Beherrschten internalisiert wird.

Mehr noch:

„Weil auch die Beherrschten nur über dieselben Schemata verfügen, und weil diese sich gesellschaftlich durchsetzen und Teil der Bildung sind, sind sie mehr oder weniger bewusst gezwungen, diese auch auf sich selbst anzuwenden […]. Alles, was aus dem bestehenden Herrschaftsverhältnis fällt, wird daher als abnormal qualifiziert, selbst dann, wenn es die eigene Person betrifft.“12

Belege hierfür finden sich in zahlreichen Biographien sich ehemals oder noch katholisch verstehender intergeschlechtlicher Gläubiger, die von Selbstzweifel bis zur Selbstmordgedanken reichen.13 Aber nicht nur intergeschlechtliche Menschen selbst sind von den Auswirkungen symbolischer Gewalt betroffen: Auch die Theologie umgreift die meist unausgesprochene und doch ständig präsente Angst, für geschlechterinklusives Denken sanktioniert zu werden.

Das reicht von kleinen Veröffentlichungen und der Wahl des theologischen Dissertations- und Habilitationsthemas bis hin zur Ausrichtung theologischer Lehrangebote, Forschungsschwerpunkte und Veranstaltungen. Es ist daher keineswegs verwunderlich, dass Intergeschlechtlichkeit bisher weiterhin ein Randthema theologischer Forschung geblieben ist und sich Theologie damit auch in gewisser Weise mitverantwortlich für die bestehende Diskriminierung intergeschlechtlicher Menschen in Theologie und Kirche fühlen muss.

Plädoyer für eine freie Theologie

Intergeschlechtlichkeit zum Thema der Theologie zu machen, hat meines Erachtens folglich nicht nur etwas mit der Beförderung von Geschlechterinklusivität in katholischen Reihen zu tun, sondern auch mit dem wissenschaftlichen Selbstverständnis bereits etablierter Theolog*innen und Anwärter*innen auf theologische Lehrstühle.

Ein Plädoyer für die Freiheit der Wissenschaft scheint nicht nur dringlich, sondern geradezu geboten, denn mit zunehmender Hinnahme einer ungerechtfertigten Zensur sinkt die Relevanz eines Faches, das sich eigentlich dem Heil der gesamten Menschheit verschrieben hat. Gebietet man dieser römisch-katholischen Praxis keinen Einhalt, wird es trotz hoffnungsvoller Erwartungen von Diskriminierten weiterhin betretenes Schweigen zu den existenziell wie gesellschaftlich bedeutsamen Themen Gender, Sexualität und Geschlechtsidentität geben.14 Den Theolog*innen heute soll daher eine kleine und für manche vielleicht auch befreiende Reflexionsfrage mitgegeben werden: Wie frei möchtest du künftig denken können?

Hashtag der Woche: #theologiederfreiheit

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Beitragsbild (bearbeitet): @patrick_schneider

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©transcript GmBh & Co KG

1 Koll, Julia u.a. (Hgg.), Diverse Identität. Interdisziplinäre Annährungen an das Phänomen Intersexualität

(Schriften zu Genderfragen in Kirche und Theologie 4), Hannover 2018, 28.

2 Krannich, Conrad, Geschlecht als Gabe und Aufgabe. Intersexualität aus theologischer Perspektive

(Angewandte Sexualwissenschaft), Gießen 2016.

3 Mairinger-Immisch, Katharina: Mehrdeutige Körper. Über die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen in Theologie und Kirche, Bielefeld 2023.

4 Vgl. z.B. die Aussage von Luan Pertl im Zuge hermes Vortrages zu Intergeschlechtlichkeit und Inter*

Aktivismus, die explizit von »Intersex-Genitalverstümmelung« spricht. VHS Landstraße, Intergeschlechtlichkeit und Inter*aktivismus. Landstraßer Protokoll

vom 02.10.2018, 2018. URL: https://www.vhs.at/files/downloads/OTmXS4x94fLdm

wZaA3VJmRnEpZaRtcoiyjBSKo41.pdf [Abruf: 14. März 2023], 14.

5 Ammicht Quinn, Regina, Körper – Religion – Sexualität. Theologische Reflexionen zur Ethik der

Geschlechter, Mainz 1999, 31.

6 Lintner, Martin M., Christliche Beziehungsethik. Historische Entwicklungen – Biblische Grundlagen – Gegenwärtige Perspektiven. Freiburg–Wien–Basel 2023.

7 Mairinger-Immisch, Mehrdeutige Körper, 102.

8 Mairinger-Immisch, Mehrdeutige Körper, 133.

9 Vgl. Mairinger-Immisch, Katharina, Geschlecht im Katholizismus als distinktive Ordnungskategorie, in: Religion unterrichten (im Druck).

10 Vgl. Kongregation für das katholische Bildungswesen, Male and Female He Created Them. Towards a Path of Dialogue on the Question of Gender Theory in Education, Vatikanstadt 2019 (02. Februar 2019). URL: http://www.educatio.va/

content/dam/cec/Documenti/19_0997_INGLESE.pdf [Abruf: 14. März 2023], Nr. 24.

11 Bourdieu, Pierre, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. 10. Aufl. Frankfurt a. M. 2018, 101.

12 Mairinger-Immisch, Mehrdeutige Körper, 102.

13 Vgl. Mairinger-Immisch, Mehrdeutige Körper, 151-168.

14 Hoffnungsvoll stimmt dagegen der Blick auf einige wenige Diözesen des deutschsprachigen Raums, die sich den benannten Themen explizit zuwenden und nach entsprechenden Gesprächsangeboten und Lösungswegen suchen (Vgl. etwa: Redaktion KNA, Timmerevers: Thema sexuelle Vielfalt an Schulen mehr Raum geben. URL:  https://www.katholisch.de/artikel/49335-timmerevers-thema-sexuelle-vielfalt-an-schulen-mehr-raum-geben, [Abruf: 14. März 2023].

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katharina mairinger-immisch

studierte deutsche und französische Philologie sowie katholische Theologie in Wien und war eineinhalb Jahre als Gymnasiallehrerin in Oberösterreich tätig. Von 2018-2021 war sie Prae-doc-Assistentin und Doktorandin am Fachbereich Theologische Ethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, wo sie zum Thema Intergeschlechtlichkeit promoviert. Seit September 2021 arbeitet sie als Gymnasiallehrerin in Baden-Württemberg. Seit 2020 ist sie Teil der Redaktion von y-nachten.de.

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