Droht dem aktuellen Diskurs um Aufgabe und Zukunft der Theologie vielleicht ein sogenanntes Reifizierungsproblem? Dieser Frage geht Verena Suchhart-Kroll in ihrem Beitrag nach und bedenkt, inwiefern hier die Haltungen ihrer Seminarteilnehmer*innen an der Uni Münster weiterhelfen könnten.

Es gehört zum Alltag in der Hochschullehre, dass Erwartung und Wirklichkeit auseinanderfallen. Ein Beispiel: Mein Einführungsseminar zur Bibel in Pastoraltheologie und Religionspädagogik wurde überwiegend von Studierenden mit dem Berufsziel Grundschullehramt gewählt. Diese sind an verschiedenen Fakultäten beheimatet und studieren ein breites Spektrum an Fächern. Das heißt auch: Religion ist nur eines von mehreren ihrer Fächer – und es ist eine offene Frage jeder einzelnen Person, wie sehr sie sich an der Fakultät und in der Theologie generell beheimaten will. Im Seminar wurden die Studierenden in eine Projektarbeit geschickt. Die Aufgabe war zu erarbeiten, wie Rolf Zerfaß auf das Babylonische Exil zurückgreift, um die Erfahrung des „Volk[es] Gottes auf dem Weg in die Minderheit“1 in der Gegenwart zu deuten. Zerfaß‘ Überlegungen stammen schon aus den 2000er Jahren und gehen bis in die 1960er Jahre zurück, sind aber, wie ich finde, weiterhin eines der eindrucksvollsten Beispiele, wie gerade das Alte Testament für die Pastoraltheologie fruchtbar gemacht wird. In Vorbereitung auf die Projektarbeit hatte ich einige Zeit darauf verwendet zu überlegen, welches Vorwissen die Studierenden brauchen: Wussten alle, was das Babylonische Exil war? Hatten auch die Studienanfänger*innen schon die Kompetenz, sich eigenständig eine Reihe wissenschaftlicher Texte zu erarbeiten? Beides musste gut vorbereitet werden.

Identität der Kirche: keine zentrale Frage mehr?

Dass der springende Punkt von Zerfaß‘ Ausführungen eine Reflexion auf den Säkularisierungsprozess und die dadurch ausgelösten kirchlichen Sinnfragen „Wer sind wir? Wofür stehen wir?“2 ist, erschien mir dagegen nicht erklärungsbedürftig. Zu oft hatte ich schon Studierende vor mir, deren Studienziel die ‚Rettung der Kirche‘ war. Zu sehr war mir noch im Gedächtnis, wie intensiv wir uns selbst im Studium über den pastoralen Ansatz der Pastorale d’engendrement gestritten hatten, für den zentral ist, dass das Evangelium und die Menschen im Fokus stehen, und den zugleich ein explizites „Desinteresse am Erhalt der Institution“3 Kirche auszeichnet. Wir rangen um die Frage: „Können wir denn die Kirche und ihre Bedeutung so stark relativieren?“ Besonders eindrücklich ist mir schließlich eine Studentin im Kopf, die versuchte zu verstehen, warum Tiemo Rainer Peters aus der Perspektive der Neuen Politischen und der Befreiungstheologie Theologie als „[e]rinnerte Hoffnung“4 angesichts des Leidens bestimmte. Sie war sich sicher, dass er sich auf die Leiderfahrung leerer Kirchen und fusionierter Kirchengemeinden beziehen müsse.

Daher war ich überrascht, dass eine ganze Reihe von Studierenden alles Mögliche als Herausforderungen der Gegenwart anführte, für die das Babylonische Exil eine Deutungshilfe sein könnte, nur nicht die kirchliche Situation. Ist es möglich, dass diese noch in meinem Studium so selbstverständlichen, die Identität der Kirche betreffenden Herausforderungen für eine wachsende Zahl von Studierenden kein Thema mehr sind? Und was könnte das zu aktuellen Debatten gerade der Nachwuchswissenschaftler*innen um Rolle, Zukunft und Relevanz der Theologie beitragen?

Aufgaben und Zukunft der Theologie als zentrale Fragen des wissenschaftlichen Nachwuchses

Schon 2001 reagierte Peter Scheuchenpflug auf den Vorschlag von Zerfaß, die gegenwärtige Situation der Kirche vor dem Horizont des Babylonischen Exils und der Diaspora-Erfahrung im Exil zu deuten, mit der Einschätzung, dass er die Aussagekraft dieser Leitbilder für begrenzt halte:

„Ihre Berechtigung besitzen sie als theologische Standortvergewisserungen und tröstende Optionen für eine bestimmte Generation von Gläubigen, für die das erwähnte Milieu noch eine reale, oft sogar prägende Erfahrung von Kirche darstellte. […] Von daher wird man aber der Forderung, den ‚Religionslehrer/innen, Prediger/innen und Seelsorger/innen‘ einen ‚hermeneutischen Schlüssel‘ an die Hand zu geben, um aus der Perspektive des Exils das Alte Testament neu verstehen und im Leben der Gemeinden fruchtbar machen zu können, mit Zurückhaltung begegnen müssen“5.

Diese Einschätzung schien mir bisher wenig plausibel, da ich vor allem die hohe Anschlussfähigkeit dieser Leitbilder an Fragen des wissenschaftlichen Nachwuchses wahrnehme. Allein dieses Jahr werden im Herbst das Forum Sozialethik, eine Initiative junger Sozialethiker*innen in der Qualifikationsphase, und die Nachwuchstagung der Arbeitsgemeinschaft Pastoraltheologie ihre Tagungen zu den Themen „Ist das Wissenschaft oder kann das weg? Über die Relevanz einer Christlichen Sozialethik“6 und „Pastoraltheologie – wen interessiert’s?“7 veranstalten. Letztere eröffnen ihre Ausschreibung mit den Worten:

„Es ist nicht zu hoffen, dass die jungen Theolog*innen, die pastoraltheologisch forschen, auch die letzte Generation der Pastoraltheologie im deutschsprachigen Raum sein werden. Dennoch darf der Frage nicht ausgewichen werden, wie es um die Relevanz und Zukunftsfähigkeit des Fachs bestellt ist“8.

Rückgang, Verunsicherung, Zukunftssorgen und Frust sprechen genauso aus der Themenwahl wie die Suchbewegung zu Rolle und Aufgaben der eigenen theologischen Disziplin angesichts zunehmender Säkularisierung. Letztere betrifft natürlich in erster Linie die Kirchen als Institutionen, in zweiter dann aber auch die Theologien, ihre inhaltliche Ausrichtung und Existenz an staatlichen Universitäten. Damit spiegeln beide Veranstaltungen ziemlich genau das wider, was Zerfaß – bei allen Grenzen und Unstimmigkeiten, die so ein Bild immer einschließt, – mit dem Babylonischen Exil verbindet: „der Verlust des Tempels“9 bzw. hier der Selbstverständlichkeit dauerhafter institutioneller Versorgung, „die Zumutung der Ohnmacht“10, aber auch die Suche nach bzw. die Wahrnehmung „eines neuen Auftrags“11 in einer säkularisierten Gesellschaft. Wenngleich ich die Wahrnehmungen teile und die Themenwahl der beiden Tagungen daher für zentral und richtig halte, frage ich mich, ob wir für beide Veranstaltungen von der geschilderten Seminarerfahrung etwas lernen können.

Droht ein Reifizierungsproblem?

Eine Anregung könnte die Überlegung sein, ob bei der Themenwahl der Tagungen etwas Ähnliches wie ein Reifizierungsproblem drohen könnte. Das Reifizierungsproblem ist aus (religions-)pädagogischen Debatten um den Umgang mit Heterogenität bekannt12: Um Diskriminierung aufgrund bestimmter Merkmale wie z.B. soziale oder ethnische Herkunft besprechbar zu machen, müssen eben diese Merkmale als bedeutende ‚Sache‘ thematisiert bzw. im Gespräch zu einer ‚Sache gemacht‘ werden. Damit verfestigen sich im Bewusstsein aber unweigerlich genau diese Merkmale, die eigentlich im Miteinander gar keine Rolle spielen sollten – ein Effekt, der nie ganz vermieden, mit dem lediglich bewusst umgegangen werden kann. Ein vergleichbarer Effekt könnte bei den Tagungsthemen geschehen: Die zur Frage gewordene Relevanz der Theologie angesichts des zunehmenden Bedeutungsverlusts der Kirchen wird in aller Deutlichkeit herausgearbeitet bzw. ‚zur Sache gemacht‘, damit sie bearbeitet werden kann. Dadurch erhält sie jedoch überhaupt erst eine den Diskurs prägende Stärke. Eigentlich geht es ja bei der Suche nach der eigenen Relevanz gerade nicht um einen Fokus auf das eigene Selbst oder den Bedeutungsverlust, sondern um das Sich-Erweisen der Relevanz angesichts unterschiedlichster Herausforderungen der Zeit.

Die geschilderte Seminarerfahrung kann vielleicht so etwas wie einen Ausgleich zur – notwendig bleibenden – Thematisierung liefern, indem Identitätsfragen in einem gut ausbalancierten Maße auch wieder aus dem Fokus gerückt werden. Dann treten Herausforderungen wie die Klimakrise, Krieg in Europa oder verschiedenste Fragen sozialer Gerechtigkeit und vieles mehr, was uns Studierende und andere Gesprächspartner*innen nennen, in das Zentrum unserer Debatten und lassen uns in biblischen Erzählungen auf die Suche nach Deutungsfolien und Heterotopien gehen. Das wird dann wiederum auch unsere Überlegungen zu Identität und Ausrichtung der Theologie prägen. Ich bin gespannt auf die Diskussionen bei den Tagungen.

Hashtag der Woche: #reifizierung


Beitragsbild: Foto von Kvnga auf Unsplash

1 Zerfaß, Rolf: Das Volk Gottes auf dem Weg in die Minderheit? Zur pastoralen Aktualität einer zentralen Erfahrung Israels, in: Katechetische Blätter, 125.1/2000, 42-52, hier: 42.

2 Ebd.

3 Donegani, Jean Marie: Säkularisierung und Pastoral, in: Feiter, Reinhard – Müller, Hadwig (Hrsg.): Frei geben. Pastoraltheologische Impulse aus Frankreich, Ostfildern 2013, 56-80, hier: 69.

4 Peters, Tiemo Rainer: Was ist Theologie?, in: Leinhäupl-Wilke, Andreas – Striet, Magnus (Hrsg.): Katholische Theologie studieren. Themenfelder und Disziplinen (Münsteraner Einführungen: Theologie 1), Münster 2000, 105-119, hier: 110.

5 Scheuchenpflug, Peter: Katholische Kirche im Exil? Zur begrenzten Geltung eines biblischen Leitbildes im Kontext der gegenwärtigen Gestalt von Kirche, in: Frühwald-König, Johannes – Prostmeier, Ferdinand – Zwick, Reinhold (Hrsg.): Steht nicht geschrieben? Studien zur Bibel und ihrer Wirkungsgeschichte (FS Georg Schmuttermayr), Regensburg 2001, 519-536, hier: 524.

6 Forum Sozialethik: Forum Sozialethik 2023. Ist das Wissenschaft oder kann das weg? Über die Relevanz einer Christlichen Sozialethik, online unter: https://forum-sozialethik.de/tagungen/.

7 Arbeitsgemeinschaft Pastoraltheologie: Pastoraltheologie – wen interessiert’s? Tagung der pastoraltheologischen Nachwuchsforscher:innen, online unter: https://pastoraltheologie.org/pastoraltheologie-wen-interessierts/.

8 Ebd.

9 Zerfaß, Rolf: Das Volk Gottes auf dem Weg in die Minderheit? Zur pastoralen Aktualität einer zentralen Erfahrung Israels, in: Katechetische Blätter, 125.1/2000, 42-52, hier: 44.

10 Ebd.

11 Ebd., 46.

12 Vgl. u.a. Grümme, Bernhard: Aufgeklärte Heterogenität. Auf dem Weg zu einer neuen Denkform in der Religionspädagogik, Zeitschrift für Pädagogik und Theologie, 70.4/2018, 409-423.

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verena suchhart-kroll

studierte katholische Theologie in Münster und christliche Theologie in Durham (U.K.). Sie promoviert am Institut für Religionspädagogik und Pastoraltheologie der Universität Münster zur Rolle der Bibel in der Pastoraltheologie. Zudem ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Arbeitsstelle für Theologische Genderforschung in Münster und eine der Vertreter*innen des Mittelbaus in der Arbeitsgemeinschaft Pastoraltheologie.

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