Warum tun sich kirchliche Amtsträger so schwer, für ihr Versagen im Umgang mit Missbrauchsfällen um Entschuldigung zu bitten? Das fragt Christoph Koller mit Blick auf das Münchner Missbrauchsgutachten und stellt fest, dass auch Ex-Päpste öfter mal Elton John hören sollten.

Elton John ist bisher nicht als Kommentator kirchenpolitischer Entwicklungen aufgefallen. Und wirklich aktuell ist sein bittersüßliches Liebeslied aus dem Jahr 1976 auch nicht: „Sorry seems to be the hardest word“ – das denken sich trotzdem so manche, wenn sie die mühsamen Versuche der katholischen Kirchenprominenz zur Kenntnis nehmen, sich zu erklären, zu rechtfertigen, rauszureden. Man habe vom Missbrauch in der Kirche nichts mitbekommen, nichts geahnt, sei in entscheidenden Sitzungen nicht anwesend gewesen, habe natürlich immer nur darauf vertraut, was andere gesagt und gemeint hätten, überhaupt: Es tue einem ganz schrecklich leid, und heute würde man vieles besser wissen und anders machen – aber Schuld? Nein, persönliche Schuld könne man nun wirklich nicht erkennen.

Die Reaktionen unter Beobachtenden wie unter Betroffenen reichen von Ratlosigkeit bis Zorn. Warum sind so wenige Bischöfe, Kardinäle, Päpste in der Lage, eine ehrliche, aufrichtige und vorbehaltlose Bitte um Entschuldigung auszusprechen, die auch das kleine Wörtchen „ich“ enthält?1

Do what you love: Use traditions!

Dabei ist ein persönliches Schuldbekenntnis in der Kirche weiß Gott keine Neuerfindung. Täglich beten Kleriker und Gläubige in der Feier der Heiligen Messe:

Ich bekenne Gott, dem Allmächtigen,

und allen Brüdern und Schwestern,

dass ich Gutes unterlassen und Böses getan habe –

ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Werken

durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld.

Auch der emeritierte Papst Benedikt XVI. bezieht sich in seinem „Brief zum Münchner Missbrauchsgutachten“ auf das Schuldbekenntnis. Er schreibt:

„Es berührt mich immer stärker, daß die Kirche an den Eingang der Feier des Gottesdienstes […] Tag um Tag das Bekenntnis unserer Schuld und die Bitte um Vergebung setzt. Wir bitten den lebendigen Gott vor der Öffentlichkeit um Vergebung für unsere Schuld, ja, für unsere große und übergroße Schuld. Mir ist klar, daß das Wort „übergroß“ nicht jeden Tag, jeden einzelnen in gleicher Weise meint. Aber es fragt mich jeden Tag an, ob ich nicht ebenfalls heute von übergroßer Schuld sprechen muß. Und es sagt mir tröstend, wie groß auch immer meine Schuld heute ist, der Herr vergibt mir, wenn ich mich ehrlich von ihm durchschauen lasse und so wirklich zur Änderung meines Selbst bereit bin.“

Dieser Text, vom theologischen Sound her ein typischer Ratzinger, mag wohlwollend als ein Zeichen gelesen werden, dass dem ehemaligen Papst zumindest ansatzweise die existenzielle Dimension der Missbrauchsproblematik bewusst geworden ist. Aber schaut man sich seinen mit Sicherheit wohlüberlegten Brief einmal genauer an, dann stellen sich doch einige Fragen.

Warum „wir“?

Warum zum Beispiel fehlt auch hier das Wörtchen „ich“? Warum bekennen „wir“ unsere Schuld? Gewissermaßen im Nachsatz schiebt Benedikt hinterher, er selbst fühle sich vom Wort „übergroß“ „angefragt“. Zwischen den Zeilen liest sich das eher als verzweifelter Versuch zu verstehen, was man denn eigentlich falsch gemacht haben soll, als eine Einsicht in und ein Bekenntnis der eigenen Schuld.

In Benedikts Brief kommt sein tiefer Glaube und seine Hoffnung auf die göttliche Barmherzigkeit zum Ausdruck. Dies mag für einen Mann seines Alters, der sich am Ende seines Lebens befindet, spirituell berührend sein. Aber indem er sich so stark auf den göttlichen Richter fokussiert, lässt er eine Dimension des Schuldbekenntnisses außen vor: Dieses richtet sich nämlich nicht nur an Gott, den Allmächtigen, sondern an alle Brüder und Schwestern. Das Eingeständnis der Schuld, nicht nur gegenüber der höheren Macht, sondern gegenüber denjenigen, an denen man konkret schuldig geworden ist, ist für ein Schuldbekenntnis unverzichtbar.

Schuld ist nicht abstrakt, sondern immer konkret auf jemanden bezogen, an dem wir schuldig geworden oder dem wir etwas schuldig geblieben sind.

Nicht nur das fehlende „ich“ irritiert in Benedikts Brief. Auch der Frage danach, was er jetzt eigentlich getan oder nicht getan hat, weicht er aus. Das Wegschauen und das Nichtwissenwollen, die Weigerung, sich aktiv und aufrichtig an der Aufarbeitung zu beteiligen und sich nicht hinter formaljuristischen Winkelzügen zu verstecken, mag im Sinne des Schuldbekenntnisses als „Unterlassung“ gelten. Aber ist die Unfähigkeit, angesichts der Konfrontation mit dem eigenen Handeln die eigene Schuld nicht eingestehen zu können,  nicht schon eine aktive Handlung? Mit den Worten des Schuldbekenntnisses: eine böse Tat?

All das sehen Verteidiger*innen des ehemaligen Papstes anders. Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein, so heißt es dann. Und ja, das ist richtig. Auch für mich, den Autor dieses Textes, wie überhaupt für alle gilt die Aufforderung zur Gewissensforschung und zum aufrichtigen Schuldbekenntnis. In vielen Gemeinden und geistlichen Gemeinschaften, wo es zu sexueller oder auch spiritueller Gewalt gekommen ist, hat eine schweigende Mehrheit die Täter*innen unbewusst, stillschweigend oder manchmal sogar bewusst und ganz offen unterstützt, während sie Betroffenen nicht geglaubt haben. Aber darf ich deshalb nicht enttäuscht, verärgert, entsetzt sein, wenn meine „Hirten“ nicht in der Lage sind, ihre persönliche Schuld zu bekennen?

Also einmal „ich“ zu sagen statt „wir“, „die Kirche“ oder „die Gemeinschaft“. Warum sprechen sie nicht nur von „dem Missbrauch“, „der Gewalt“, „dem Schrecklichen, was Kindern angetan wurde“; sondern von Menschen? Nämlich konkret von Pfarrer X, vom Umgang mit der Gemeinde Y, von diesem einen Brief an Betroffene?

Perspektivwechsel: Fehlanzeige

Offensichtlich fällt es den Hirten der Kirche sehr schwer, auf einmal die Position auf der anderen Seite des Büßerbänkchens einzunehmen. Besonders erstaunt mich dabei, wie wenig Vertrauen sie offensichtlich haben in die Erleichterung, die ein ehrliches Schuldeingeständnis verschaffen kann. Jene Erleichterung, die man empfindet, wenn alles raus ist, wenn niemand einen mit einer vermeintlichen Enthüllung unter Druck setzen kann, wenn statt immer neuen Eingeständnissen, die eher Zugeständnisse sind, endlich die ganze Wahrheit auf dem Tisch liegt. „Die Wahrheit wird euch frei machen.“ (Joh 8,32) – dieser Devise scheint man unter Bischöfen und in den Führungsetagen der Ordinariate immer noch nicht zu trauen.

Klar ist:

In jeder Verantwortungsposition lädt man unweigerlich Schuld auf sich. Wer Entscheidungen trifft, kann die falschen treffen, und irgendwann einmal wird er auch eine falsche treffen; allein schon deshalb, weil eine Entscheidung ja meistens nicht aus ja oder nein, richtig oder falsch besteht, sondern deutlich komplexer ist.

Ich kann in allem meinem Tun schuldig werden, weil es manchmal eben nur die Entscheidung zwischen mehr oder weniger Schuld bzw. besserer oder schlechterer Schuld gibt.

Nicht mehr als ein Automanager?

Deshalb verstört es wohl so, wenn führende Geistliche sich in der Auseinandersetzung mit sexuellem Missbrauch in der Kirche vor allem auf die juristische Dimension der Schuld beschränken und die moralische oder emotionale Ebene gänzlich ausblenden: Moralische Schuld kann es ohne juristische Schuld geben und umgekehrt, die selbst empfundene Schuld steht nicht unbedingt im Verhältnis zu den Schuldzuweisungen durch andere. Ein Kommentar trifft es leider ins Schwarze, wenn er die Stellungnahme des emeritierten Papstes mit der eines Automanagers nach dem jüngsten Abgasskandal vergleicht.2

Elton John hat wohl Recht: „Sorry seems to be the hardest word“. Nicht nur Betroffene sexueller Gewalt in der Kirche, auch Gläubige und die Öffentlichkeit erwarten, dass sich Verantwortliche zu ihrer ganz persönlichen Verantwortung bekennen, dass sie bereit sind, ihren Christenmensch zu stehen und endlich ein Schuldbekenntnis ablegen, das diesen Namen auch verdient. Aufrichtig, ungeschönt, persönlich und deshalb schmerzhaft über die Schmerzgrenze hinaus. Damit würden sie nicht nur einen unendlich wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der Missbrauchsfälle leisten, sondern auch ein wirklich christliches Vorbild abgeben. Bis dahin gilt noch, was Elton John schon festgestellt hat:

It’s sad, so sad
It’s a sad, sad situation
And it’s getting more and more absurd
It’s sad, so sad
Why can’t we talk it over?
Oh, it seems to me
That sorry seems to be the hardest word.

Hashtag: #sorryseemstobethehardestword


(Beitragsbild: @softeeboy)

1 Siehe dazu grundlegend: Rita Werden, Systemische Vertuschung. Zur Rede von Scham in den Stellungnahmen von Bischöfen im Kontext der Veröffentlichung der MHG-Studie, in: Magnus Striet/dies. (Hrsg.): Unheilige Theologie! Analysen angesichts sexueller Gewalt gegen Minderjährige durch Priester (Katholizismus im Umbruch 9), Freiburg 2019; S. 41-77.

2 Nicolas Richter, Und die Opfer?, in: SZ vom 21.01.2022, S. 4.

christoph koller

ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Kirchenrecht der Universität Freiburg. Dort arbeitet er an einer Dissertation zum Thema Barmherzigkeit und Kirchenrecht.

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