In unserem y-nachtlichen Advent-Special fragen wir, welche Probleme der römisch-katholischen Kirche der Weihnachtwerdung im Weg stehen. Zum Abschluss der Reihe nimmt Doris Reisinger jene in den Blick, die Missbrauch und Gewalt im Raum der Kirche erfahren haben. Nur wenn sie im Mittelpunkt stehen, kann inmitten der Dunkelheit ein kleines weihnachtliches Wunder geschehen.

Weihnachten wird es dann, wenn es ganz dunkel geworden ist. So dunkel wie jetzt. So dunkel, wie es für viele von uns schon lange nicht mehr war. Deswegen ist es ein Segen, dass Weihnachten bald kommt. Und so sehr es wünschenswert wäre, aber für viele werden es nicht Heile-Welt-Tage gedeckter Tische, fröhlicher Familien, strahlender Kinderaugen und majestätischer Jauchzet-Frohlocket-Pauken sein. Aber überall da, wo sich diese überschäumende Festtagsfreude nicht einstellen kann, wird dafür vielleicht mehr von der dunklen Hintergrundfolie sichtbar, die dem Fest seinen eigentlichen Klangraum gibt: Den großen Raum der Heilsgeschichte zwischen dem lange vergangenen Moment, an dem alles sehr gut war1 – und dem Moment, wo endlich alles wieder gut sein wird.2 In diesem Dazwischen befinden wir uns jetzt. Und in diesem Dazwischen findet Weihnachten statt. Also genau da, wo es nicht gut ist. Wo für manche überhaupt nichts gut ist. In Finsternis und Todesschatten.3 Genau da gehört Weihnachten hin.

Viele der klassischen Advents- und Weihnachtstexte sagen es uns ganz deutlich. Sie handeln von Gefangenschaft4, Besetzung5 und Flucht6, sie sprechen von Angst und Gewalt, von Ausgeliefertsein und von Tränen. Sie sind getränkt mit allen Formen menschlichen Leids, die von den Glücklicheren unter uns in besseren Jahren vielleicht überhört werden, die aber nahe am Herzen der Menschen sind, die solches Leid am eigenen Leib erfahren haben und die mit Angst und Tränen vertraut sind. Dazu gehören gerade auch diejenigen, die in der Kirche sexualisierte und spiritualisierte Gewalt erlebt haben: Dieses Weihnachten ist ihr Fest.

Prophet*innen des Advent

Wenn man über die Geschichte kirchlicher Missbrauchsaufarbeitung in der Metapher des kirchlichen Jahreskreises spricht, dann ist es nun so langsam an der Zeit, dass es Weihnachten wird, denn Advent war es lange genug. Aber auch der Advent war für uns alle schon ein großer Schritt vorwärts. Denn bei vielen Menschen, die in der Kirche spiritualisierte und sexualisierte Gewalt erlebt haben, war es lange Zeit so dunkel, dass auch das schmalste Licht adventlicher Hoffnung keinen Schimmer in ihre Leben warf. Sie waren so sehr im Dunkel, dass sie für andere völlig unsichtbar waren. Sie hatten sich so sehr an Gewalt, Demütigung, Nicht-Dazu-Gehören, Nicht-Gehört-Werden und ständige Schmerzen gewöhnt, dass sie gar nicht mehr fühlen konnten, dass es so nicht sein sollte.

Wo ein Mensch nicht mehr weiß, dass er Gewalt nicht verdient hat, wo ein Mensch nicht mehr erlebt, dass er einen Wert hat, wo ein Mensch nicht mehr auf Besserung hofft, da herrschen wirklich Finsternis und Todesschatten. Da siegt das Narrativ der Täter.

Aber dieses Narrativ ist eine Lüge. Und gegen diese Lüge erheben die Prophet*innen des Advent laut ihre Stimmen, mit Worten der Hoffnung, der Verheißung und des Trostes. Es sind Worte, die vor allem Eines klarstellen: Gott sieht euch. Er sieht, was geschehen ist und wie es euch geht. Ihr seid nicht für dieses Elend geschaffen, denn ihr seid Kinder Gottes. Ihr sollt getröstet werden. Euch soll geholfen werden. Und egal, wie undenkbar es scheint: Alles wird wieder gut werden.7

Genug Advent

Manche tragen diese Stimme ganz deutlich in ihrem eigenen Inneren. Aber in vielen Geschichten von Betroffenen gibt es konkrete Menschen, die diese prophetische Stimme für sie waren. Eine Person, der sie ihre Geschichte erzählen konnten, die ihnen geglaubt hat, die sie hat spüren lassen, dass sie das nicht verdient haben. Jemand, der mit ihnen geweint und sie getröstet hat und ihnen die Hoffnung geschenkt hat, dass alles wieder gut werden kann. Wo immer ein Mensch diese Hoffnung hat, wo er in seinem Herzen, mitten in dem Elend, in dem er persönlich steckt, darum weiß, dass es so nicht sein sollte und dass er oder sie für etwas Besseres geschaffen ist, da ist Advent: Die Zeit der Spannung zwischen dem gegenwärtigen Leid und der erhofften Erlösung. Eine Zeit des Bittens, Flehens und Wartens. Die Zeit des Hoffens, dass man gehört wird, dass einem geglaubt wird, dass jetzt endlich Leid wieder gut gemacht und Gerechtigkeit wieder hergestellt wird. Manchmal ein Warten voller Hoffnung, mit Momenten voller Trost und sogar Vorfreude. Manchmal eine schwere Zeit, voller Erschöpfung und Verzweiflung und Wut. – Diese Warte-Zeit hat für Betroffene nun schon sehr lange gedauert. Zu lange.

Weihnachten – nicht Ostern

Nun muss Weihnachten kommen. Und es kann jetzt nur Weihnachten kommen. Nicht Ostern. Nicht das himmlische Jerusalem. Zu hoffen, dass die Machthabenden in der Kirche bald – wie so oft wortreich angekündigt – wirklich umfassend aufklären und angemessen entschädigen, dass kirchliche Behörden mit der gebotenen Empathie agieren, dass sie das kirchliche Recht um das Konzept sexueller und spiritueller Selbstbestimmung erweitern, damit das kirchliche Strafrecht die Taten endlich als das würdigen kann, was sie sind: Verletzungen von Selbstbestimmung (und nicht Verstöße gegen klerikale Standespflichten). Zu erwarten, dass nun die Akten und die Verfahren öffentlich werden und Betroffene einen Anspruch auf anwaltliche Vertretung und Akteneinsicht haben, dass Bischöfe und Kurienkardinäle, die vertuscht haben, aufrichtig die Verantwortung dafür übernehmen und Päpste, die sich mitschuldig gemacht haben, nicht mehr als Heilige gefeiert werden, dass Medien, die über kirchliche Verbrechen berichten, nicht mehr von kirchlichen Anwälten mit Klagen überzogen werden, vor allem aber: Zu erwarten, dass es in der Kirche nun endlich nicht mehr primär um den Machterhalt der Mächtigen geht, sondern um das Heil der Menschen, das Gott ihnen zugedacht hat, das hieße das himmlische Jerusalem erwarten. So weit sind wir nicht. Noch lange nicht.

Weihnachten wird im Stall – nicht im Palais.

Aber es kann – immerhin – Weihnachten werden: Der Moment, in dem endlich viele begreifen, dass sich genau da, wo auf den ersten Blick nur Elend ist, gerade das alles entscheidende Wunder vollzieht. Bei den von Gott geliebten Menschen, die sich, ausgegrenzt von anderen, notdürftig mit allerhand Provisorien operierend, zusammengefunden haben und sich gegenseitig helfen und Mut machen. Bei den Menschen, die im Spiegel der Wunden ihres eigenen Lebens die eine entscheidende Wahrheit begriffen haben: Dass Gewaltherrschaft verkehrt ist und Gott sich im Kleid der Verletzlichkeit zeigt. Der Moment, in dem Hirten und Gelehrte sich auf den Weg machen, um ihnen ihre Gaben bringen.

Nicht in den Palast des Herodes und auch nicht in die Häuser der Etablierten, sondern in den Stall. Dorthin, wo Engel Loblieder anstimmen, weil Gott das Heil für alle will und weil es greifbar wird, allen Verhinderungsversuchen der Mächtigen zum Trotz.

Weihnachten kann erst werden, wenn Hirten und Gelehrten, Kirchgänger*innen und Pastoralreferent*innen, Pfarrer und Theolog*innen, Angehörige und Journalist*innen die Augen von den bischöflichen Palais abwenden und sich – nicht mit leeren Händen! – auf den Weg zum Stall machen, zu den Betroffenen, an den unwahrscheinlichen Ort des unwahrscheinlichen Wunders, auf das wir alle warten.

Hashtag: #ynachtsspecial


(Beitragsbild @Josh Boot)

1 Gen 1,31

2 Offb 21,1-7

3 Jes 9,1

4 Jes 40-55

5 Lk 2,1-21

6 Mt 2

7 Freie Übersetzung: Consolamini, consolamini, popule meus: / cito veniet salus tua: / quare maerore consumeris, / quia innovavit te dolor? / Salvabo te, noli timere, / ego enim sum Dominus Deus tuus, / Sanctus Israël, Redemptor tuus.

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dr. doris reisinger

hat Theologie und Philosophie studiert und wurde 2019 mit einer Arbeit im Themenbereich der Analytischen Philosophie an der WWU Münster promoviert. Sie hat selbst Gewalt in einer neuen geistlichen Gemeinschaft erfahren und setzt sich seit ihrem Austritt für Aufarbeitung & Prävention von Missbrauch in der katholischen Kirche ein. Bekannt geworden ist sie u.a. mit zwei Büchern ("Nicht mehr ich. Die wahre Geschichte einer jungen Ordensfrau" und "Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche") und einem vom BR aufgezeichneten Gespräch mit Christoph Kardinal Schönborn.

3 Replies to “Weihnachten kann erst werden, wenn …

  1. Danke für diese klaren Worte und Forderungen, die sehr berührend mit Gottes Botschaft verknüpft sind und abgrenzen, wo es nötig ist. Da zeigt sich den äußeren Widrigkeiten zum Trotz doch ein wenig Weihnachtslicht. Ja, wo die eigene Stimme oft versagt, tut es gut, wenn andere sie erheben. Und dann will auch ich wieder laut werden, damit Kirche ihren Auftrag endlich begreift.

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