Die Feuilletons loben ihn. Er hat mich beeindruckt. Der Film „I am not your Negro“ von Raoul Peck. Diese Dokumentation erzählt eine Story (keine history) über den Rassismus und die Segregation in den USA Mitte des 20. Jahrhunderts. Der Zuschauer nimmt dabei den Blickwinkel des afroamerikanischen Schriftstellers James Baldwin (1924-1987) ein. Der konkrete Kontext der Kritik, der Aussagen, Beobachtungen und Thesen Baldwins sind die Segregation zwischen Menschen weißer und schwarzer Hautfarbe in den USA. Doch sie lassen sich meiner Meinung nach leicht auf Gruppen und Institutionen im Generellen anwenden. Dieser Meinung ist auch der Regisseur des Films, Raoul Peck, der durch aktuelles, zeitgenössisches Bildmaterial Baldwins Denken in die Gegenwart holt. Der Film rief in meinem Kopf Verbindungslinien zum Umgang mit einigen Gruppen von Gläubigen in der Kirche wach.

Mir scheint, dass „Negro“ im Denken Baldwins nicht nur konkret gemeint ist, sondern auch als Platzhalter fungieren kann. Der „Negro“ wäre der andere, der nicht einer bestimmten Norm entspricht. Ein „outsider“. Dieser Begriff „Negro“ ist nicht beschreibend neutral, sondern er ist primär negativ wertend. Zugleich hat er eine eminent soziale Dimension: Der „Negro“ nimmt eine sozial und rechtlich inferiore Stellung ein, wobei ihm sogar das volle Mensch-Sein abgesprochen werden kann. Ich möchte nicht behaupten, dass Diskriminierungen, die Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe erfahren, grundsätzlich mit Diskriminierungen innerhalb der Kirche vergleichbar wären. Dennoch: Ist „Negro“ auch ein Platzhalterbegriff, dann lässt er sich auf Gläubige beziehen, die negativ bewertet werden und einen anderen (niedrigeren?) „sozialen“ Status in der Kirche erhalten, zum Beispiel: wiederverheiratete Geschiedene; Gläubige, die sich einem oder mehreren Merkmalen der LGBT* (Lesbian, Gay, Bi, Trans*) zuschreiben; Frauen*.

Keinen Platz in der Realität?

Baldwin setzt grundsätzlich an. Er diagnostiziert eine Herzenskälte, die in der Unwissenheit wurzelt. Die Weißen wissen nicht, wie die Schwarzen leben. Sie wissen nicht, worunter sie leiden. Sie kennen ihren Alltag nicht, ihre Geschichte(-n) usw. Schlimmer noch: Sie kommen nicht einmal auf die Idee, sich danach zu erkundigen. Schwarze kommen in der tatsächlichen wie narrativ konstruierten Realität der Weißen nicht vor. Sie haben keinen Platz in der Realität. Sie sind gewissermaßen nicht-existent.

Ich behaupte nicht, die obigen genannten Gruppen von Gläubigen (wiederverheiratet Geschiedene, LGBTs, Frauen*) wären in der kirchlichen Realität nicht existent und man wüsste nichts über deren Leben, von deren Sorge, von deren Nöten. Dazu gibt es zu viele Wortmeldungen auf breiter Basis. Oder vielleicht doch? Ich kann mich des Eindrucks nicht ganz erwehren, als würde man die genannten Gläubigen manchmal vorwiegend als kirchenrechtliche oder theologisch-akademische Realität, also als „Papiertiger“, sehen. Redet man hier also innerhalb je verschiedener Realitäten über dasselbe? Tritt man deswegen – mindestens gefühlt – bei manchen Themen auf der Stelle? Reden wir manchmal über unterschiedliche Existenzweisen dieser Gläubigen?

„Die Welt ist nicht weiß und war es nie. Weiß ist eine Metapher für Macht.“

Hinter der Charakterisierung von Menschen, hinter Zuschreibungen, die meistens Fremdzuschreibungen sind, steckt auch Macht. Das ist nichts Neues. Man könnte auch innerkirchlich von solchen Spielen mit der Macht sprechen, wenn man bestimmte Gläubige z.B. von Ämtern oder den Sakramenten ausschließt.

Dabei sehe ich aber ein gravierendes Problem: Es ist ein Spiel mit der Macht – die es so aber eigentlich nicht gibt. Nur ein paar Schlaglichter hierzu, die sich in jedem besseren Dogmatik-Handbuch nachlesen lassen: Die Kirche hat keine Verfügungsgewalt über sich selbst, sondern verdankt sich ausschließlich der Gnade Gottes, der sie aus allen Völkern zusammenruft. Die Sakramente sind der Kirche gegeben, sie werden nicht von ihr gemacht und kontrolliert. Die Heiligkeit der Kirche, wie sie das Glaubensbekenntnis bekennt, ist ebenso ein Geschenk Gottes, keine Vorleistung des Menschen.

Daher meine Frage: Ist die Diskussion darum, ob und unter welchen Bedingungen jemand z.B. zur Kommunion gehen kann, eigentlich eine Diskussion, die so tut, als gäbe es die knapp skizzierte ekklesiologische und sakramententheologische Ohnmacht nicht? Tut man nicht so, als hätte man Macht über ein Sakrament? Ist Sakrament eine Metapher für Macht? Ich bestreite nicht, dass man jemandem raten kann und es manchmal auch sollte, nicht zur Kommunion zu gehen. Aber dabei kann es nur um einen Rat und eine Bitte gehen – aber nicht um eine aktive Verweigerung und ein tatsächliches Vorenthalten; dazu fehlt schlicht die Macht. Das Sakrament ist kein Machtmittel, sondern ein Ohnmachtsmittel. Man kann es nicht „politisieren“, auch nicht für „zivilen Ungehorsam“ in der Kirche, um Fakten zu schaffen.

„Die Zukunft dieses Landes wird genauso hell oder dunkel sein wie die Zukunft der Negros“

Das Jahr der Barmherzigkeit ist zu Ende. Immer noch ist Barmherzigkeit in aller Munde. Am Umgang miteinander, sowohl außer- wie innerkirchlich, hängt auch die Zukunft der Kirche. Die Forderung nach Barmherzigkeit ersetzt aber nicht die Forderung nach Gerechtigkeit. Überspitzt formuliert: Barmherzigkeit gibt einen Fisch, Gerechtigkeit eine Angel. Barmherzigkeit ist sicher ein wichtiges biblisches Thema. Prominenter aber, v. a. im Alten Testament und im Matthäus-Evangelium, ist die Gerechtigkeit.

Am innerkirchlichen Umgang miteinander wird auch die Kirche gemessen, denn es gilt: „Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden, und nach dem Maß, mit dem ihr messt, werdet ihr gemessen werden.“ (Mt 7,2) Vom Richten ist die Rede – von demselben Wortstamm kommt „Gerechtigkeit“. Das angesprochene und ermahnte „Ihr“ ist die Gemeinde, die Kirche. Provokant gefragt: Was könnte einem*einer Gläubigen nicht zustehen, der*die kraft Taufe und Firmung Teil des Gottesvolkes ist? Die Bibelstelle formuliert reziprok: Was man dem*der einen tut, das fällt letztlich auf eine*n selbst zurück – positiv wie negativ. Das eröffnet auch einen zukünftigen und mitunter auch eschatologischen Horizont, betont aber schon dessen Keim in der Gegenwart. Von daher: Ist die Unbarmherzigkeit und Ungerechtigkeit gegenüber anderen nicht Unbarmherzigkeit und Ungerechtigkeit sich selbst gegenüber? Ist Gerechtigkeit und Barmherzigkeit gegenüber anderen nicht Gerechtigkeit und Barmherzigkeit sich selbst gegenüber? Ähnlich sieht Baldwin „den Weißen“ und „den Negro“ nicht als Antagonisten an, sondern in einer solchen engen Abhängigkeit voneinander.

Es geht aber nicht nur darum, „der Welt“ ein gutes Vorbild im Umgang miteinander zu sein. Es geht auch um eine letzte, um eine eschatologische Perspektive. Was hilft dabei, dem Reich Gottes entgegen zu arbeiten? „Herbeiarbeiten“ können wir es leider nicht. Das noch kleine Leuchten des Schon-und-Noch-Nicht des Reichs Gottes wird genauso hell oder dunkel sein wie es unser Umgang miteinander ist.

Hashtag der Woche: #Machtspiele

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dr. mathias winkler

studierte Theologie und Judaistik in Tübingen und Jerusalem. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Biblische Einleitung und Biblische Hilfswissenschaften an der Theologischen Fakultät Trier und Studienleiter für Theologie im Fernkurs an der katholischen Akademie Domschule in Würzburg.

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