Wider die Banalität des Todes
Und es war schon um die sechste Stunde, und es kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde,
und die Sonne verlor ihren Schein, und der Vorhang des Tempels riss mitten entzwei.
Und Jesus rief laut: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände! Und als er das gesagt hatte, verschied er.
(Lk 23,44-46; Luther 2017)
Der Einbruch der Finsternis zur Mittagsstunde, eine Sonne, die ihren Schein verliert, auch im Tempel ein Zeichen vom Himmel: Nichts könnte im Moment des Todes Jesu stimmiger sein. Ein nahezu apokalyptisches Szenario bricht mit seinen letzten Worten über die Welt herein. Die den helllichten Tag überwältigende Dunkelheit erinnert an alttestamentlich bezeugte Theophanien und kündet vom drohenden Gericht Gottes über die fehlgehende Menschheit (vgl. Am 8,9f.; Lk 22,53). Der Tempelvorhang, der die Menschen vom Allerheiligsten trennt, zerreißt gleichzeitig und lässt die Gegenwart Gottes in der Welt durchscheinen.
Die Darstellung des Todes Jesu in den synoptischen Evangelien lässt keinen Zweifel an der kosmischen Bedeutung des Geschehens. Darin zeigt sich die österliche Perspektive, die diese Texte motiviert und prägt. Jesu Tod ist nicht alltäglich. Er ist kein einfaches — wenngleich sehr grausames — Dahinscheiden eines unliebsamen politischen Aufrührers. Er zählt. Nicht nur der bei Lukas folgende Ausspruch des Hauptmannes über die Gerechtigkeit Jesu, nein, die ganze Umwelt zeugt davon.
Und wir können uns kaum vorstellen, wie es anders gewesen sein sollte. Wie könnte sich die Welt während eines solchen Todes einfach weiterdrehen? Wie könnten andernorts Menschen lachen oder essen? Wie könnten die Sonne scheinen und die Vögel singen und der Mensch stirbt am Kreuz? Stirbt einfach, ohne Sonnenfinsternis und ohne Tempelwunder, ohne die Ahnung des Göttlichen im Irdischen, ohne Auferstehung. Ein erschreckend banaler Tod, wie er sekündlich vorkommt, ein letztes Wort, ein letzter Blick, vielleicht ein Schrei, ein Röcheln. Und dann nichts mehr. Nichts.
Freiheit zum Tode?
Vielleicht eine, vielleicht zwei Stunden blieb ich in meinem Lehnstuhl sitzen und weinte, erstaunt über die Automatik, mit der mein Körper geschüttelt wurde, nur weil ich Worte, eine unerfreuliche Nachricht vernommen hatte. Man hatte mir nichts getan, alles war wie fünf Minuten zuvor. Das Radio spielte dieselbe Musik, die Tasse stand da, wo ich sie vor dem Gespräch hingestellt hatte, der Kaffee war noch warm, selbst der Nachbar rauchte auf dem Balkon an derselben Zigarette. (Koala, 14)
So lässt der Schriftsteller Lukas Bärfuss in seinem Roman „Koala“ den Protagonisten die Reaktion auf die Nachricht vom Tod seines Bruders schildern. Der Gedanke an einen Tod mitten im Alltag bleibt auch ihm fremd — an einen Tod, der einfach das Ende bedeutet, der darüberhinaus keine Deutekategorien bietet, der die Umwelt unberührt lässt: Radiomusik, Kaffeetasse und rauchender Nachbar.
Der Bruder des Ich-Erzählers hat sich in seiner Badewanne das Leben genommen. Es beginnt eine verzweifelte Suche nach Gründen, in persönlichen Gesprächen und Erinnerungen, in der Literatur, Geschichte, Philosophie, Medizin und Psychologie. Und hinter allem steht die Frage, „wann er den Weg eingeschlagen hatte, an dessen Ende die Badewanne stand“ (43). Doch jeder tastende Versuch einer Antwort entpuppt sich als vorläufig; so auch die philosophische Kategorie der menschlichen Freiheit zum Tod, in der sich der Unterschied zum Tier manifestiert, „das selbst unter den schmerzhaftesten und unwürdigsten Bedingungen an seiner Existenz festhalte“:
Der Mensch aber, wie ich gelesen hatte, er alleine könne das Leben gegen den Tod abwägen, den Sinn eines Weiterlebens ermessen und sich entscheiden. So las ich und nickte beifällig, weil ich als moderner Mensch nichts höher hielt als den freien Willen. (Koala, 32)
Die Entzauberung des Daseins
Der Tod verweigert sich jedoch einer Einsortierung in Bekanntes. Kein fremdes Interpretationsmuster ist geeignet, eins-zu-eins auf ein nahestehendes Schicksal angewendet zu werden. Im Letzten siegt — auch für Bärfuss’ Ich-Erzähler — die Unbegreiflichkeit des Geschehenen, die Sprachlosigkeit darüber, die Unverfügbarkeit einer Interpretation:
Vielleicht gab es nicht einmal einen Namen für das Gefühl, eine unmögliche Mischung von Trauer, Wut und vollkommenem Unverständnis gegenüber dem freien Willen, der sich hier gezeigt hatte. Kein Gedanke, der hätte zusammenfassen können, was vor sich ging, eine Erkenntnis, dass dieses Schicksal gleichzeitig einzigartig und hundskommun war, dass in dieser Entzauberung des Daseins durch die Feierlichkeit des Todes nichts zu lernen war. (Koala, 176)
Mit dem Tod lässt es sich nicht leben. Wir können ihn uns nicht einmal vorstellen oder genauer: Wir können uns das Nicht-mehr-Sein einer anderen Person nicht vorstellen. Der britische Künstler Damien Hirst legte im Jahr 1991 in einer großen Vitrine einen Tigerhai in Formaldehyd ein, der seither mit weit aufgerissenem Maul in der bläulichen Flüssigkeit schwebend seinen Betrachter*innen vorgaukelt, er sei noch am Leben. Zu begreifen, dass dieses Tier nicht mehr atmet, frisst, sieht, schwimmt — mit seiner Umwelt interagiert — scheint kaum möglich. Das Kunstwerk trägt den Titel: The physical impossibility of death in the mind of someone living, die physische Unmöglichkeit des Todes im Geist eines*einer Lebenden.
Der Tod zeichnete nicht, veränderte nicht, er war kein Prozess, sondern ein Zustand, und Menschen, so ging mir auf, besaßen kein Bewusstsein für Stillstand. (Koala, 180)
Ich rede mit Dir wie immer
Im Geist der Lebendigen ist der Tod unmöglich. Der Anblick des erkalteten Körpers eines geliebten Menschen erscheint surreal. Der Mensch, den wir verloren haben, hat unserem Gefühl nach nichts mit dieser Hülle zu tun. Er ist doch in Wahrheit die Person, mit der wir in Beziehung sind, die Person, mit der wir lachen und weinen, die uns bisweilen auf die Nerven geht, die uns herausfordert, mit der wir uns austauschen, die uns berührt.
Wie es mir geht?
Die Frage stellst du jedes Mal.
Ich bin okay,
will nicht, dass du dir Sorgen machst.
Und so red ich mit dir wie immer,
so als ob es wie früher wär,
so als hätten wir jede Menge Zeit.
Ich spür dich ganz nah hier bei mir,
kann deine Stimme im Wind hör’n
und wenn es regnet, weiß ich, dass du manchmal weinst,
bis die Sonne scheint, bis sie wieder scheint.
(Die Toten Hosen, Nur zu Besuch)
An der Liebe zu einer Person ändert der Tod nicht das Geringste und vielleicht keimt die leise Hoffnung auf, dass er auch die Gegenseitigkeit einer Beziehung nicht zu zerstören vermag. In der Erinnerung bleiben die Verstorbenen ein „Du“, sie stehen eben nicht still, verharren nicht im selben Zustand, sondern führen eine lebendige Beziehung mit uns. Und wir wünschen uns, dass sie auch nach dem Tod als ein solches „Du“ ansprechbar bleiben.
Im Lukas-Evangelium kann die physische Welt — die Sonne und der Tempelvorhang — über die Fassungslosigkeit hinweghelfen, die mit der überwältigenden Situation des Todes einbricht. Was nicht in Gedanken und Sprache gegossen werden kann, was in diesem Sinne unbegreiflich ist, findet hier seinen Spiegel in der Umwelt. Der Tod Jesu wird gekennzeichnet als ein kosmisch bedeutsamer Moment, in dem Gott seine Anwesenheit in der Welt zeigt: ein Karfreitag aus dem Blickwinkel des Ostersonntag.
Auferstehung?
Dennoch können wir eine christliche Auferstehungshoffnung kaum triumphalistisch formulieren. Vielleicht liegt im Moment des Todes überhaupt erst der Ursprung der Gottesvorstellung: ein Gott nämlich, der die Fortdauer unserer Beziehungen garantiert. Der Tod eines geliebten Menschen ist jedoch nicht von großen Zeichen begleitet, er überfällt uns im Alltag, während die Welt sich einfach weiterdreht. Er hinterlässt die Absurdität des plötzlichen Endes einer Existenz, die scheußliche Möglichkeit eines Nichts, das das letzte Wort über das menschliche Leben haben könnte. Doch bleiben die liebende Erinnerung und ein vorsichtiges Hoffen, dass auch der Tod zwischenmenschliche Nähe nicht verhindern kann, dass alle Bindungen über ihn hinaus fortbestehen, die den Menschen ausmachen: zu anderen Menschen, zur Welt, zu Gott. Dass der Mensch in diesem Sinne selbst als Person fortbesteht, dass er „Du“ bleibt, Beziehung und Prozess. Dass er vielleicht wie, vielleicht mit, Jesus Christus stirbt und aufersteht.
Hashtag der Woche: #karwoche
Die Zitate sind entnommen: Lukas Bärfuss, Koala (btb Taschenbuchausgabe), 1. Aufl. 2016.
Tja, Franca, genau so etwas hatte ich mir erhofft für den Einstieg in die Karwoche! Ich werde also dank Franca von y-nachten als ‚Predigt‘ doch noch theologisch-inspiriert durch die Liturgien dieser Woche gehen können. Welche religiös-aufgeladenen Vorhänge zerreißen müssen, damit wir Gott als Ermöglicherin erfahren, darüber können wir hoffentlich noch ausgiebig diskutieren.
Tja, Hermann, das freut mich – „inspiriert“ klingt gut. Danke. Für gepflegte Diskussionen mit Dir stehe ich immer zur Verfügung. Und dass ich es großartig finde, wenn Du Gott als „Ermöglicherin“ bezeichnest, muss ich kaum eigens betonen …