Medizinischer Fortschritt lebt von Forschung und damit von freiwilligen Proband*innen. Doch wie kann diese Frewilligkeit gewährleistet werden, wenn der*die Patient*in nicht mehr in der Lage ist, seinen*ihren Willen frei zu äußern? Filip Friedrich diskutiert Möglichkeiten und Grenzen der Alzheimer-Forschung.

Wer mit der Diagnose und dem Krankheitsverlauf von Alzheimer im Verwandten- oder Bekanntenkreis oder im Arbeitsleben konfrontiert ist oder es war, kennt das Bild eines gesunden Menschen, der immer weiter verfällt – der sich nicht mehr erinnern kann, was gestern war oder wer die eigenen Kinder sind, sich im eigenen Heim verläuft, aggressiv wird, jammert und schreit, inkontinent wird. Alzheimer ist eine grausame Erkrankung. Eine sehr grausame sogar. Andere kognitionsdegenerative Krankheiten geben kein schöneres Bild ab und sie greifen immer weiter um sich. Wer so etwas miterlebt, sehnt sich geradezu danach, dass solche Krankheiten heilbar werden. Doch das sind sie (vorerst) nicht. Die Medizin ist derzeit lediglich Verwalterin des Verfalls. Die Forschung muss liefern und das versucht sie auch. Jedoch ist das aus rechtlicher sowie ethischer Sicht nicht so einfach.

Ein Minenfeld an Problemen

Für eine erfolgversprechende Forschung bedarf es neben qualifizierten Forscher*innen, gutem Equipment, ausreichend finanzieller Mittel und einer validen Forschungshypothese noch einer weiteren Komponente: Proband*innen. Und hier wird die Frage laut: Darf man an Menschen mit kognitionsdegenerativen Krankheiten forschen? Menschen, die sich vielleicht nicht daran erinnern können, sich jemals bereit erklärt zu haben, als Proband*in zur Verfügung zu stehen oder nicht mehr die Tragweite einer Entscheidung zu begreifen? Darf man Menschen, die nicht mehr entscheidungsfähig sind, zum Wohle anderer Erkrankter in ihrer Freiheit zur Wahl einfach übergehen? Und wenn ja, inwiefern? All diese Fragen können auf unterschiedliche Art und Weise beantwortet werden, die Möglichkeiten sind zahlreich. Sie reichen von autonomie-fokussierten Ansätzen wie erweiterten Patient*innenverfügungen über advokatorisch geartete Stellvertreter*innen-Entscheidungen oder paternalistisch-utilitaristisch anmutenden Antwortversuchen, welche allein die Gruppennützlichkeit forcieren und die Wahlfreiheit des Individuums zu übergehen scheinen sowie deliberative Ansätze, welche die öffentliche, offene Debatte als Antwort sehen bis hin zu Forderungen, dass mit Rekurs auf den Nürnberger Kodex keinerlei Forschung an solch vulnerablen Personengruppen erlaubt sein dürfe.

Forschung ja, aber zu welchem Preis?

Und auch während eines Forschungsprojektes können ethisch hochbrisante Fragen aufkommen: Was macht man mit einer Alzheimerpatientin, die sich eingangs dazu bereiterklärt hat, teilzunehmen und sich nun nicht mehr daran erinnern kann? Oder einem Alzheimerpatienten, der während des Versuchs aus objektiv nicht nachvollziehbaren Gründen anfängt zu schreien und sich wehrt? Was zählt in solchen Fällen? Der frühere Wille zum Zeitpunkt der geistigen Gesundheit oder der momentan ausgeprägte? Sind Schreien, Schlagen, Treten Zeichen der Weigerung oder doch nur Symptome der so dringend zu erforschenden Krankheit und deswegen in Kauf zu nehmen?

Diese Liste von Anfragen ließe sich immer weiter fortführen, jedoch scheint im Prinzip immer folgende Konstellation erkennbar: Auf der einen Seite bestehen die Dringlichkeit der Behandlung beziehungsweise der Erforschung des Morbus Alzheimer sowie die Verantwortung der Forschungsgemeinschaft und der bereits erkrankten Individuen für die Gesellschaft – dem gegenüber stehen die Forderung nach Respekt für die Würde und damit auch der Autonomie der einzelnen Person und die Frage, inwiefern diese wie lange zu berücksichtigen ist. Natürlich ist der Druck auf die Forschenden aus verschiedensten Gründen sehr hoch, jedoch ist Fortschritt nicht um jeden Preis, sondern nur unter Berücksichtigung der Würde des Menschen zu erlangen, erst Recht scheint dies der Fall zu sein, wenn es sich um eine vulnerable Zielgruppe handelt und somit ein hohes Maß an Schutzbedürftigkeit entsteht. Jedoch kann die Schutzbedürftigkeit einer Person nicht deren generellen Ausschluss von Forschungsprojekten implizieren. Dieser Auffassung ist auch der Deutsche Bundestag gewesen, als er die gruppennützliche Forschung im Rahmen von Medikamentenstudien an nicht-einwilligungsfähigen Menschen zustimmte. Doch greift dies nicht immer noch zu kurz?

Sag, was bist du bereit zu geben?

Erscheint es an dieser Stelle nicht viel sinnvoller, deliberative Elemente in dieser Frage zur Pflicht zu erklären? Sicherlich ist Altruismus immer noch eine persönliche Entscheidung, aber indem man potentiell jeden Menschen einer Zielgruppe zu Forschungszwecken heranziehen könnte, es sei denn er widerspräche diesem in einer erweiterten Patient*innenverfügung, wäre doch ein Anfang gemacht. Wenn es dann zu einem konkreten Forschungsprojekt kommt, könnte mittels entsprechender Tests und Gutachten festgestellt werden, ob die betreffende Person einwilligungsfähig ist oder nicht. Wenn ja, kann sie über eine etwaige Teilnahme selbst befinden, wenn nicht, so wird zuerst auf die Verfügung geschaut, ob ein entsprechendes Projekt im Sinne der betroffenen Person wäre oder nicht, um dann im Anschluss einen Assent oder Dissent der*des Kranken einzuholen. Eventuelle Stellvertreter*innen sind erst dann zu Rate zu ziehen, wenn alle bisherigen Schritte zu keinem eindeutigen Ergebnis kommen, um so möglichst lange die Autonomie einer Person zu respektieren.

Gerade bei einer Erkrankung wie Alzheimer ist während des Forschungsprozesses eine genaue Überwachung notwendig. Aufgrund der Tatsache, dass es im fortgeschrittenen Stadium von Alzheimer krankheitsbedingt durch Gedächtnislücken oder Affektstörungen zu Äußerungen oder auch Handlungen kommen kann, welche im Falle einer gesunden Person zumindest eine Unterbrechung, wenn nicht gar einen Abbruch des Versuchs zur Folge hätte, sollte an dieser Stelle ein gewisses Maß (festgelegt beispielsweise vom medizinischen Fachpersonal) an widerstrebenden Handlungen oder Äußerungen antizipiert werden. Wenn die Gegenreaktion jedoch über diese Grenze hinausgeht, so muss an dieser Stelle der Versuch zumindest unterbrochen werden. Mittels Gesprächen mit der Versuchsperson können die Gründe für den Abbruch dann eruiert und evaluiert werden, um diese dann, wenn möglich, zu beseitigen. Falls dies nicht gelingt, so muss es zu einem Abbruch des Versuchs kommen. Ein solches Verfahren ermöglicht einen unter den gegebenen Umständen bestmöglichen Schutz des Individuums und Respekt vor dessen Wahrnehmung beziehungsweise Empfinden sowie ein ethisch vertretbares Forschen; der damit verbundene erhebliche Mehraufwand scheint durch diese Simultaneität gerechtfertigt zu sein.

Letztlich ist es eine Aufwand-Nutzen-Rechnung

Um ein solches Verfahren zu ermöglichen, bedarf es neben der verstärkten Fokussierung der Forschung auf die Gruppennützlichkeit, wie es bei der Änderung des Arzneimittelgesetzes in Bezug auf pharmakologische Studien getan wurde, auch der Etablierung von Strukturen, die die im Voraus erwähnten deliberativen Prozesse erst ermöglichen können. Hierbei sind vor allem öffentliche Träger und die Gesundheitskassen und des Weiteren auch medizinisches Fachpersonal in der Pflicht, aber ebenfalls (forschungs-)ethische Initiativen oder auch Weltanschauungsgemeinschaften dazu angehalten, die Willensbildung der Individuen zu fördern.

Ein solcher Vorschlag erscheint natürlich sehr fordernd und dass potentiell jede*r zu Forschungszwecken herangezogen werden könnte, kann natürlich bedrohlich wirken. Jedoch wirkt der ständige Rekurs auf die Freiheit mittels Widerspruch beziehungsweise Dissent als ein geeignetes Mittel, um diese Gefahr zu bannen. Aus dieser Perspektive scheint die Forderung gerechtfertigt zu sein, dass die Freiheit eines Menschen durch die verantwortungsbewusste Entscheidung, was er der Gesellschaft zu geben bereit ist und was nicht, gewahrt und realisiert werden muss, um eine solch komplexe, gesellschaftliche Herausforderung wie die Balance zwischen der Forschung an und der Behandlung von Krankheiten wie Alzheimer in einem Ausgleich von Respekt vor der Würde und Autonomie des Menschen bestmöglich zu bewältigen.

Hashtag der Woche: #derpreisistheiß


(Beitragsbild von @brandi1)

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filip friedrich

studierte katholische Theologie und Französisch an der Universität Freiburg mit Studienaufenthalt an der Universität Aix-Marseille. Inzwischen beschäftigt er sich als Hausmann mit Promotionshintergrund im Rahmen seiner Dissertation mit den ethischen und anthropologischen Fragen rund um das Thema CRISPR-Cas9.

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