Wenn fundamental christliche Überzeugungen zum politischen Schlachtruf werden, droht die Vernunft zu verstummen. Justus Raasch sucht nach Wegen, Religion wieder als Stimme kritischer Öffentlichkeit zu denken.
Die Stilisierung des ermordeten rechtsextremen Aktivisten Charlie Kirk zu einem vermeintlichen Märtyrer christlicher Überzeugungen, nicht nur in den USA, sondern auch durch einige vorrangig evangelikal geprägte Gemeinden und Einzelpersönlichkeiten in Deutschland, macht erneut ein Phänomen deutlich, welches bei genauerem Hinschauen schon seit Jahrzehnten zunimmt und sowohl den kirchlichen als auch politischen Diskurs in Deutschland wie global prägt: eine unheilige Allianz von religiöser und politischer Rechter.
Ökumene des Hasses: strategische Allianzen der Rechten
Der Diskurs um Kirk reiht sich in eine Vielzahl anderer aktivistischer, politischer und akademischer Projekte ein, welche eine strategische Allianz der beiden Lager vorantreiben. Als eines der wichtigsten Beispiele in Deutschland ist in diesem Zusammenhang der in verschiedenen Großstädten stattfindende sogenannte ‚Marsch für das Leben‘ zu nennen. Auf diesen protestieren regelmäßig einflussreiche Vertreter:innen aus rechts-christlichen Kreisen wortwörtlich Schulter an Schulter mit Vertreter:innen aus dem rechtspopulistischen und rechtsextremen Milieu1. Dieses Beispiel zeigt, dass es sich – wie auch im Fall Charlie Kirks – keineswegs um ein singulär evangelikales Phänomen handelt, sondern, wie es Antonio Spadaro und Marcelo Figueroa für den US-amerikanischen Kontext formuliert haben, um eine „Ökumene des Hasses“2. Gemeint ist damit ein Verschwimmen konfessioneller Grenzen durch die Gegener:innenschaft gegenüber spezifischer Feinbilder wie Queerness oder Reproduktive Rechte. Die Allianz aus politischer und religiöser Rechter ist auch im deutschsprachigen Raum vermehrt Gegenstand wissenschaftlich-theologischer Analysen. So verweist beispielsweise Sonja Strube auf die zentrale Relevanz von u.a. Anti-Genderismus als Bindeglied religiöser und politischer Rechter3 und der kürzlich erschienene interdisziplinäre Sammelband ‚Topoi und Netzwerke der religiösen Rechten‘4 widmet sich ausführlich verschiedensten Facetten eben dieses Phänomens.
Religion im Rahmen diskursiver Vernunft
Was bedeutet nun der Befund einer unheiligen Allianz aus politischer und religiöser Rechten für die politische Praxis? Wie können diskursive Gegenstrategien hierzu aussehen und welche Rolle hat dabei ein sich als progressiv verortender Teil christlicher Zivilgesellschaft?
Postsäkulare und postkoloniale Theoretiker:innen weisen darauf hin, dass eine schlichte Exklusion religiöser Argumente und Positionen aus dem öffentlichen Diskurs hierbei keine adäquate Antwort darstellen kann.
Die damit einhergehende epistemische Gewalt wird beispielsweise im Einwand des dekolonialen Philosophen Nelson Maldonado-Torres gegen säkularistische Tendenzen innerhalb postkolonialer Theorie selbst deutlich:
„When religion is understood to be antithetic to critical thinking and theory, there is no real need to seriously engage ideas articulated from religious perspectives. If the subaltern happens to be religious, then the postcolonial theorist herself makes sure that she will never speak.”5
Eine solche Exklusion religiöser Argumente ist aber weitgehender Konsens innerhalb der Ideengeschichte linker als auch liberaler politischer Theorie. So kann nicht nur im marxistischen Lager – ungeachtet aller Streitigkeiten um die Interpretation einzelner Textpassagen – eine breite Skepsis und Ablehnung gegenüber allem Religiösen konstatiert werden.6 Auch liberale Denker:innen wie Rawls7 oder Habermas8 würdigen zwar die Rolle von Religion als partikulare Ressource der Sinnstiftung, verwehren ihr aber dennoch einen Einfluss im öffentlichen Diskurs9 bzw. stellen diesen wie Habermas unter einen Übersetzungsvorbehalt, wodurch sie letztendlich von Vernunft opak gedacht bleibt.10 Eine solche Exklusion von Religion erzeugt neben den bereits angerissenen Einwänden epistemologischer Gerechtigkeit auch ein ganz praktisches strategisches Problem im politischen Wettbewerb.
Der im linken und liberalen Spektrum hegemonialen dichotomen Verhältnisbestimmung von Religion und Politik folgend, können sich rechtschristliche Akteur:innen bei Kritik ihrer Positionen in das Feld des sakralen und der Welt entzogenen zurückziehen und somit ihre Positionen gegenüber Kritik im Sinne eines öffentlichen Diskurses immunisieren.
Der Widerstreit von Positionen wird hierbei nicht mehr primär zu einem von verschiedenen politischen Meinungen, deren Für und Wider sich im politischen Diskurs aushandeln lässt, sondern die Konfliktlinie wird zwischen säkularer Weltlichkeit und religiöser Wahrheit gezogen. Für die Herausforderung der unheiligen Allianz aus religiöser und politischer Rechten ist somit jene Frage zentral, welche der Fundamentaltheologe Martin Breul eine „Kernfragen religionsphilosophischer Debatten der Gegenwart“ nennt, „das Problem einer vernunftgemäßen Ortsbestimmung religiöser Überzeugungen in gesellschaftlichen und politischen, d.h. öffentlichen Diskursen“11.
Breul schlägt als Antwort auf diese Frage einen Minimalstandard diskursiver Vernunft vor, welchen religiöse wie auch alle anderen Argumente erfüllen müssen, um satisfaktionsfähig für den öffentlichen Vernunftgebrauch zu sein. Zentral ist hierbei die Unterscheidung von Glaubensakt (faith) und Glaubensinhalt (belief). Während Ersterer partikular und unzugänglich für der Religion Außenstehende bleibt, ist sowohl innertheologisch als auch im öffentlichen Diskurs eine Auseinandersetzung mit den Glaubensinhalten nur dann sinnvoll, wenn diese Kriterien eines Minimalstandards diskursiver Vernunft folgen.12 Diese Kriterien könnten nicht aus den jeweiligen religiösen Sprachspielen intern abgeleitet, sondern müssen extern reflexiv auf diese angewandt werden. Als Beispiel solcher Minimalstandards führt Breul „interne Widerspruchsfreiheit, Anschlussfähigkeit an wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse und Kompatibilität zu basalen moralischen Standards“13 an. Religiöse Argumente könnten so aus sich heraus und ohne die Notwendigkeit einer Übersetzung das Potenzial haben, in einem öffentlichen politischen Diskurs „genuine kritische Beiträge in konkreten politischen Fragen zu liefern“14.
Dichotomien durchbrechen – Neue Allianzen schmieden
Was kann ein solches Verständnis der Rolle von Politik im öffentlichen Diskurs nun für eine konkrete politische Praxis bedeuten? Dies möchte ich abschließend kurz am Beispiel der Gegenproteste zu den sogenannten „Hochschultagen“ an der Uni Tübingen im vergangenen Jahr skizzieren. Wie an vielen deutschen Hochschulen hatten auch in Tübingen drei christliche, primär freikirchlich und pietistisch geprägte Hochschulgruppen in den Räumlichkeiten der Universität drei Tage lang Veranstaltungen organisiert, um nach eigenen Angaben „wissenschaftliches Denken und christliche Perspektiven in den Dialog [zu] bringen“15. Nicht nur gegen die missionarische Orientierung dieser Veranstaltungen, sondern besonders auch gegen die Einladung einzelner Referent:innen formierte sich ein Protestbündnis unter Beteiligung verschiedener Tübinger Studierendengruppen sowohl christlicher als auch eher säkularer Prägung. Dieses kritisierte insbesondere das mit Dominik Klenk – Leiter des u. a. für queerfeindliche Publikationen in der Kritik stehenden Fontis-Verlages16 – und der ebenfalls wiederholt mit queerfeindlichen Äußerungen in Erscheinung getretenen Podcasterin und Christfluencerin Jana Hochhalter zwei „Brückenbauer:innen für rechtskonservative bis rechtsextremistische Positionen“17 eingeladen wurden. Die Beteiligung sowohl der katholischen als auch der evangelischen Hochschulgemeinde an den Protesten gegen die Hochschultage durchbrach hierbei die skizzierte Dichotomie von säkularer Linken und religiöser Rechten. Dies verunmöglichte zumindest in Teilen den Rückzug auf einen vermeintlich unpolitischen religiösen Standpunkt und forderte eine inhaltliche Auseinandersetzung über die Positionen der Hochschultage und deren Referent:innen im Rahmen eines öffentlichen Diskurses ein.
Gerade weil religiöse Akteur:innen hier im Modus diskursiver Vernunft agierten, also ihre Kritik argumentativ und öffentlich begründeten, wurde Religion selbst zu einer demokratischen Ressource.
Die Entrüstung aus rechtsreligiösen Kreisen insbesondere darüber, dass die Kritik der Hochschulgemeinden im öffentlichen politischen Raum geäußert wurde, kann meines Erachtens als Indiz dafür gewertet werden, dass eine solche Strategie der Bündnisse von säkularen und religiösen progressiven Kräften eine wirksame Antwort auf die unheilige Allianz religiöser und politischer Rechter bilden kann. Hierfür darf aber Religion nicht a priori als ein Außen eines politischen Diskurses aufgefasst werden, sondern muss wie andere partikulare Weltdeutungen und normative Quellen politischer Überzeugungen Teil eines öffentlichen Diskurses sein, der spezifische Standards diskursiver Vernunft voraussetzt.
Hashtag der Woche: #unheiligeallianzen
(Beitragsbild: @haydoncl)
1 vgl. hierzu bspw. Stefan Hunglinger, „Kirche beim ‚Marsch für das Leben‘: Der Bischof marschiert mit Rechten“, Gesellschaft, Die Tageszeitung: taz, 18. September 2023, https://taz.de/!5958080/.
2 Antonio Spadaro und Marcelo Figueroa, „Evangelical Fundamentalism and Catholic Integralism: A surprising ecumenism“, La Civiltà Cattolica, 13. Juli 2017, https://www.laciviltacattolica.it/articolo/evangelical-fundamentalism-and-catholic-integralism-in-the-usa-a-surprising-ecumenism/.
3 Sonja Angelika Strube, „Anti-Genderismus als rechtsintellektuelle Strategie und als Symptom-Konglomerat Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“, in Anti-Genderismus in Europa, hg. von Sonja A. Strube u. a. (transcript Verlag, 2021), https://doi.org/10.1515/9783839453155-004.
4 Hans-Ulrich Probst u. a., Hrsg., Topoi und Netzwerke der Religiösen Rechten: Verbindende Feindbilder Zwischen Extremer Rechter und Christentum, 1st ed (transcript Verlag, 2025).
5 Nelson Maldonado-Torres, „Nelson Maldonado-Torres, Secularism and Religion in the Modern/Colonial World-System: From Secular Postcoloniality to Postsecular Transmodernity“, in Latin America and the Postcolonial Debate, hg. von Mabel Moraña u. a. (Duke University Press, 2008), 378, https://doi.org/doi:10.1515/9780822388883-016.
6 vgl. Horst Junginger und Richard Faber, Hrsg., Marxistische Religionskritik: von den Junghegelianern über Marx und Engels bis zu Lukács, Bloch und Gramsci, Religionskritik in Geschichte und Gegenwart, Band 4 (Königshausen und Neumann, 2023), 7.
7 vgl. John Rawls, „Political Liberalism: Reply to Habermas“, The Journal of Philosophy 92, Nr. 3 (1995): 145, https://doi.org/10.2307/2940843.
8 vgl. Jürgen Habermas, „Ein Bewußtsein von dem, was fehlt“, in Ein Bewusstsein von dem, was fehlt: eine Diskussion mit Jürgen Habermas, 1. Aufl., Originalausg, hg. von Michael Reder und Josef Schmidt, Edition Suhrkamp 2537 (Suhrkamp, 2008), 34.
9 vgl. zu Rawls Ana Honnacker, „Die Ligitimität des Exzessiven. Überlegungen zur Inklusion partikularer Traditionen in den öffentlichen Diskurs“, in Religion, Öffentlichkeit, Moderne: transdisziplinäre Perspektiven, hg. von Judith Könemann und Saskia Wendel, Religionswissenschaft, Bd. 1 (transcript, 2016), 210–11.
10 vgl. Thomas M. Schmidt, „Religiöser Glaube und öffentliche Vernunft. Reflexive Säkularisierung und Differenzbewusstsein“, in Religion, Öffentlichkeit, Moderne: transdisziplinäre Perspektiven, hg. von Judith Könemann und Saskia Wendel, Religionswissenschaft, Bd. 1 (transcript, 2016), 163–166.
11 Martin Breul, „Religiöse Epistemologie und öffentliche Religion. Zum erkenntnistheoretischen Status religiöser Überzeugungen“, in Religion, Öffentlichkeit, Moderne: transdisziplinäre Perspektiven, hg. von Judith Könemann und Saskia Wendel, Religionswissenschaft, Bd. 1 (transcript, 2016), 173.
12 ebd. 183-185
13 ebd. 186
14 ebd. 187
15 „Breaking News – Hochschultage Tübingen“, zugegriffen 18. Oktober 2025, https://www.hst-tuebingen.de/.
16 vgl. Anna Lutz, „Das Buch, das es nicht geben dürfte“, PRO | Das christliche Medienmagazin, 7. September 2023, https://www.pro-medienmagazin.de/das-buch-das-es-nicht-geben-duerfte/.
17 KHG Tübingen und ESG Tübingen, Statement der ESG und KHG zu den Hochschultagen Tübingen 2024, 10. Juni 2024, https://www.esg-tuebingen.de/nachrichten/statement-der-esg-und-khg-zu-den-hochschultagen-tuebingen-2024.