Nach dem Mord an Charlie Kirk beleuchtet Felicitas Zagst die sich anschließenden Debatten in den Sozialen Medien und macht auf die Gefahr einer politischen Instrumentalisierung von Religion aufmerksam.
Am 10. September 2025 wird Charlie Kirk auf dem Gelände der Utah Valley University während einer öffentlichen Veranstaltung erschossen. Ein Attentat, das Schockwellen auslöst. Aufgrund der Resonanz darauf scheint es jedoch weniger um die Tat selbst zu gehen, sondern um einen Mord, der ganz selbstverständlich ein Mittel zum Zweck wird. Dadurch wird er zu einem gezielten Instrument politischer und religiöser Narrative, vor allem in den sozialen Medien.
Ein Attentat als Ausgangspunkt identitätspolitischer Debatten
Charlie Kirk war bekennender Christ und hatte zudem starken politischen Einfluss: Er galt als großer Trump-Unterstützer und polarisierte mit seinen politischen Haltungen, die er auch aus seinem Christsein ableitete.1 Entsprechend groß ist die Resonanz auf den Mord in religiös-konservativen und evangelikalen Kreisen.
In ihrem Podcast „Jana und Jasmin – In Zeiten wie diesen“ (Folge vom 12. September) äußern sich Jana Highholder und Jasmin Friesen auch zu dem Mord an Charlie Kirk. Dabei rückt immer wieder das Narrativ in den Vordergrund, dass die Linken radikalisiert und gewaltbereit seien.2 Ich halte das für polemisch und undifferenziert. Das Attentat scheint zur Legitimation identitätspolitischer Debatten zu werden. Vermeintlich einheitliche (politische) Gruppen werden zu absoluten Institutionen erklärt und durch ‚Othering-Prozesse‘ Identitätsmarker festgelegt: ‚Wir‘ gegen ‚die Anderen‘ – und dazwischen nichts. Diese Identitätskämpfe dürfen weder im Vordergrund solcher Debatten stehen, noch dürfen sie unreflektiert hingenommen werden.
Auch wenn Kirk eine Person war, die den Dialog mit ‚den Gegnern‘ suchte, fiel er in der Vergangenheit oft mit diskriminierenden Aussagen auf. So bildet sich in seiner Aussage
„You wanna go thought crime? I’m sorry. If I see a Black pilot, I’m gonna be like, „Boy, I hope he’s qualified.“
in einem Podcast von 2024 Alltagsrassismus ab.3 Vor diesem Hintergrund kann Meinung noch so sehr als ‚konservativ‘ verharmlost werden – sie bleibt diskriminierend und das ist weder politisch noch religiös zu verantworten.4 Wer also glaubt, Religion sei unpolitisch, negiert nicht nur die ihr inhärente Pluralität, sondern ist auch ignorant gegenüber den erstarkenden Verbindungslinien zwischen rechten Parteien und ‚christlichen‘ Narrativen – nicht nur in den USA oder Deutschland, sondern weltweit. Dies gilt es kritisch zu betrachten und gar Widerstand zu leisten, da christlich begründete rechte Narrative – meines Erachtens – mit sich im Widerspruch stehen müssen.
Von der Notwendigkeit von Ambiguitätstoleranz
Eine mögliche Antwort bietet Thomas Bauers Verständnis einer mehrdeutigen Welt. Er schreibt:
„Es ist also Menschenschicksal, mit Ambiguität leben zu müssen. […]. Ambiguitätszähmung ist also das Ziel, an Stelle von ohnehin aussichtsloser Ambiguitätsvernichtung. […] Das Problem ist nur, dass Menschen von Natur aus mehrdeutig, unklar, vage, widersprüchliche Situationen tendenziell meiden. Menschen sind also […] tendenziell ambiguitätsintolerant.“5
Eindeutigkeit als gesellschaftliche Norm festzulegen ist einfach und bietet Sicherheit, kommt in einer Welt, in der die Realität von einer unausweichlichen Ambiguität gezeichnet ist, aber an ihre Grenzen.
Bauer ruft damit zu Ambiguitätstoleranz auf, die sich auch in jeglicher Form der Bibelhermeneutik wiederfinden muss. Dazu gehört unausweichlich auch die Auffassung einer multiperspektivischen Grundlegung der biblischen Texte, sowie diese in ihrer Gegensätzlichkeit wahr und ernst zu nehmen. In diesem Verständnis wohnt auch Religionen im gleichen Maße – wenn man so will – sowohl ein Gewalt- als auch Friedenspotenzial inne. Diese Gegensätzlichkeit verlangt nicht nur Ambiguitätstoleranz, sondern vor allem auch einen verantwortungsvollen Umgang mit biblischen Texten und der christlichen Tradition, um Instrumentalisierung von Religion für die Rechtfertigung politischer und gesellschaftlicher Zwecke, wie im Fall von Charlie Kirk, entgegenzuwirken.6
Widerspruch gegen eine politische Instrumentalisierung von Religion
Religion bedarf also immer einer kritisch-theologischen Reflexion statt eines Verständnisses, das sich auf radikalen Dogmatismus oder Schriftfundamentalismus stützt und damit die Gefahr für religiösen Fundamentalismus birgt. Eine Instrumentalisierung von Religion für politische Zwecke bedeutet demnach, dass religiöse Überzeugungen und Praktiken zur Rechtfertigung oder Mobilisierung diverser Wertvorstellungen eingesetzt werden, ohne die moralischen Dimensionen angemessen zu berücksichtigen.
Angesichts eines funktionierenden gesellschaftlichen Zusammenlebens ist es lohnenswert, sich aus christlicher Perspektive für das Friedenspotenzial einer Religion stark zu machen. Es ist sinnvoll, Gründe für eine Gesellschaft zu finden, die durch Solidarität und Gleichberechtigung und ein „plural verfasstes Miteinander“7 geformt ist. Ich glaube nämlich, es ist entscheidend, die Integrität, die im Zentrum des Christentums steht, zu bewahren, da auch religiös motivierte Menschenfeindlichkeit am Ende menschenfeindlich bleibt.
Worüber sprachen wir in den vergangenen Wochen also wirklich? Die Diskurse, die seit dem Mord an Charlie Kirk bevorzugt in den sozialen Medien geführt werden, zeigen, wie der Mord zum Instrument politischer Gruppen wird. Es geht nicht darum zu bewerten, ob dieser Mord gerechtfertigt war oder nicht. Es geht auch nicht um die politische Seite, zu der sich Kirk bekannte oder zu deren Sprachrohr er gemacht wurde, ebenso wenig wie die des Täters. Am Ende muss es um die Auseinandersetzung damit gehen, was eine derartige, vorsätzliche Tötung eines Menschen mit uns als Gesellschaft macht und welche Mechanismen wir brauchen, um gesellschaftlich dagegen zu arbeiten.
Hashtag der Woche: #charliekirk
Beitragsbild: Lydia Norstad auf Unsplash
1 Beispielhaft verweise ich hier auf ein Debattenformat mit jungen Studierenden, in dem Kirk’s politische und religiöse Verortung deutlich wird, veröffentlicht von dem US-amerikanischen YouTube-Kanal Jubilee. 1 Conservative vs. 25 liberal College Students (feat. Charlie Kirk) | surrounded. https://youtu.be/WV29R1M25n8?si=5lf0R_AXwlVtcNH3 [letzter Zugriff: 12.10.2015]
2 Jana und Jasmin – In Zeiten wie diesen, Charlie Kirk – wenn ein Mord die Massen spaltet. https://open.spotify.com/episode/7cc58hFTKkk11FwFfj3ipD?si=73b66fc16f2648f1 [18:15 – 18:32min], Folge vom 12. September 2025 [letzter Zugriff: 11.10.2025].
3 Thoughcrime ep.29, – DEI or DIE? DeSantis’s Bus Seat? The Drowning Gap? https://rumble.com/v47veqc-thoughtcrime-ep.-29-dei-or-die-desantiss-bus-seat-the-drowning-gap.html?e9s=src_v1_s%2Csrc_v1_s_m [50:19-50:37min], Folge vom 18. Januar 2024 [letzter Zugriff: 12.10.2025].
4 Einen kurzen, aber dichten Zusammenschnitt Kirks politischer Einstellungen liefert außerdem der am 11. September (bearbeitet am 21. September) veröffentlichte Artikel ‚Where Charlie Kirk stood on Key Political Issues‘ von Ashley Ahn und Maxine Joselow. https://www.nytimes.com/2025/09/11/us/charlie-kirk-views-guns-gender-climate.html [letzter Zugriff: 06.10.2025].
5 Bauer, Thomas, Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Ditzingen 2023, S.15.
6 Vgl. Schieder, Rolf, Sind Religionen gefährlich? Berlin 2008, S.25f., 51.
7 Merle, Kristin/Probst, Hans-Ulrich, Nicht mit Identitätspolitik auf Identitätspolitik reagieren! https://www.feinschwarz.net/nicht-mit-identitaetspolitik-auf-identitaetspolitik-reagieren/ 2024 [letzter Zugriff: 11.10.2025].