Wie kann ein Rollenspiel helfen, den eigenen Glauben zu reflektieren? Sebastian Trefon zeigt, wie Pen and Paper nicht nur Würfel und Fantasie, sondern auch theologische Tiefe bietet – und zum Spiegel für zentrale Fragen nach Berufung, Verantwortung und Nächstenliebe wird. Ein Blick in dunkle Höhlen, fremde Welten – und das eigene Herz.

„Die Luft ist erfüllt vom Klang der Laute und dem Gesang des Barden. Einige tanzen. Ihr sitzt in der Taverne ‚Zum weinerlichen Goldfisch‘. Der Wirt, ein untersetzter Zwerg namens Bolgrim, hat seinen Bart in die Latzhose gesteckt und putzt Gläser, während seine Frau in der Küche werkelt. Es riecht nach Fleisch und Gemüse. Plötzlich stürmt ein Bote herein: ‚Welche Gruppe traut sich zu, die Tochter des Priesters aus den Fängen der Goblins zu befreien?‘ Ihr schaut euch an, greift zu Schwert und Bogen, und meldet euch.“

Montagabend. Ich sitze mit fünf anderen am Tisch. Unser Spielleiter – der Dungeon Master (abgekürzt DM) – beschreibt eine Szene, in der sich unsere Charaktere befinden. Wir spielen ein sogenanntes „Pen and Paper“-Rollenspiel. Man kann sich das wie ein sehr freies Videospiel vorstellen, nur beschreibt der DM alle Sinneseindrücke, die unsere Charaktere haben1. Das Einzige, was wir von unseren Figuren sehen, ist der Charakterbogen vor uns: Dieses Dokument (meist ein Blatt Papier) zeigt nach den Spielregeln festgelegte Werte, die unseren Charakter beschreiben, wie z.B. Stärken und Schwächen des jeweiligen Charakters, den man sich anfangs selbst aussuchen oder erstellen darf. Wir reagieren auf die Welt, die der DM beschreibt, und würfeln, ob unsere Vorhaben gelingen. Warum ich das erzähle? Weil Pen and Paper für mich viel mit Theologie zu tun hat. Wir spielen nicht nur – wir theologisieren als Gruppe.

Was soll ich tun?

Die Charaktere, die meine Freund:innen und ich erschaffen haben, durchstreifen Wälder, erkunden Höhlen und kämpfen gegen Goblins, kleine böse Wesen, die die Tochter unseres, oben genannten, Auftraggebers entführt haben. Doch ist es rechtens, gefangene Goblins zu töten? Was, wenn einer um Gnade bittet? In solchen Momenten entscheiden wir über Leben und Tod. Wie gehen wir mit Wesen um, die menschenähnlich sind, aber unsere Lebensweise nicht teilen? Solche Fragen nach Macht, Verantwortung und Fremdheit berühren zentrale ethische Themen – Themen, die mich an mein Theologiestudium und meine Arbeit als Religionslehrer erinnern. Pen and Paper bietet einen Raum, in dem solche Fragen nicht nur gestellt, sondern durchlebt werden. Der Kulturhistoriker Johan Huizinga beschreibt das Spiel als Ursprung von Kultur2: Menschen verlassen den Alltag und betreten einen eigenen „Spielraum“, in dem andere Regeln gelten – und gerade deshalb neue Erkenntnisse möglich . Das Pen-and-Paper-Rollenspiel wird so zu einem Labor ethischer Reflexion. Wer spielerisch in andere Rollen schlüpft, kann empathisch und kritisch über das eigene Handeln nachdenken.

Theologisch gesprochen: Hier begegnen sich Fiktion und Ernstfall. Hier wird geprobt, was Leben in Fülle – für alle – bedeuten könnte. Gleichwohl kann man sich jedoch auch für das komplette Gegenteil entscheiden, die Entscheidung obliegt immer der Spieler:innen.

Ich und du

Nachdem unsere Gruppe die Tochter des Priesters befreit hat, zieht sie weiter. Wenn ich nun auf meinen Charakter blicke, tue ich das in zweifacher Weise. Einerseits ist da mein „Rollenspiel-Ich“, eingebunden in die Gemeinschaft der Mitspieler:innen. Sie sind Menschen, mit denen mich bereits im Vorfeld befreundet war oder sich diese Freundschaft entwickelt hat. Gleichzeitig bewegt sich mein Charakter in der Spielwelt, begegnet anderen Figuren und agiert in einem Beziehungsgefüge mit eigenen Werten und Konflikten. Andererseits liegt vor mir der nüchterne Charakterbogen. Ich habe mich für ein Fantasy-Volk (wie z.B. Elfen, Zwerge oder Menschen) und eine Klasse (beispielsweise Magier, Schurke oder Kämpfer) entschieden. Elemente, die Stärken, Talente, aber auch Schwächen definieren. Was zunächst rein spielmechanisch wirkt, berührt tiefere Fragen: Wo liegt meine Stärke? Wo stoße ich an Grenzen? Wie bringe ich mich in die Gruppe ein? Vielleicht ist mein Charakter nicht stark, kann sich aber gut verstecken, was gerade ihn wertvoll für die Mission macht.

Hier entdecke ich Parallelen zu meinem Leben und meiner Arbeit als Pastoralassistent. Auch ich habe Gaben und Begrenzungen. Auch ich trage Verantwortung, nicht im Spiel, sondern im Alltag meiner Gemeinde. Rollenspiel wird so zur Biografiearbeit3:

Ich entdecke neue Seiten an mir, probiere Handlungsweisen aus und reflektiere, wie ich Teil einer Gemeinschaft bin, mit meiner Geschichte und meinem Beitrag.

Identität als Antwort auf Gottes Ruf 

Ganz ähnlich geschieht das in der Firmvorbereitung. Jugendliche suchen dort ihre Identität – im Licht ihrer Beziehungen, ihrer Geschichte und ihres Glaubens. Es geht darum, den eigenen Platz in einer größeren Geschichte zu finden: in der Kirche, im Volk Gottes, im Dialog mit dem Gott, der ruft. Wie Gaudium et Spes sagt: „In Wirklichkeit aber klärt sich das Geheimnis des Menschen nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes.“ (GS4) Identitätsfindung ist mehr als Selbstsuche. Sie ist Antwort auf Gottes Ruf, ein Prozess im Licht Christi. Pen and Paper kann in diesem Prozess ein unerwarteter, aber wertvoller Raum sein. Denn auch hier geht es um Verantwortung, Schuld, Berufung und Gemeinschaft – spielerisch, aber nicht oberflächlich.

In der Rolle erlebe ich etwas über mich selbst. Und manchmal zeigt sich darin eine Tiefe, die über das Spiel hinausweist. Vielleicht ist Pen and Paper nicht nur ein Spiel. Vielleicht ist es ein Spiegel – für die Fragen, mit denen wir auch im Glauben ringen.

Wer ist mein Nächster? 

Als meine Gruppe in der Geschichte des Spiels weiterzieht, erleben wir folgenden Fall: Ein Händler wurde überfallen und halbtot auf der Straße liegengelassen. Erst kommt ein Stadtrat vorbei – er geht weiter. Dann ein Priester – auch er hilft nicht. Unsere Gruppe übernimmt die Ermittlungen, doch lange treten wir auf der Stelle. Erst ein Halbling (ein Volk von sehr kleinen Menschen), der am Rand der Dorfgemeinschaft lebt und kaum anerkannt ist, bringt uns weiter. Er will helfen, doch viele im Dorf lehnen ihn ab, weil er anders ist. Und nun stehen wir vor der Entscheidung: Folgen wir dem Halbling und riskieren unseren Ruf oder stellen wir uns auf die Seite der Mächtigen? Diese Geschichte erinnert stark an das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Genau das fasziniert mich an Pen and Paper: Ich kann biblische Geschichten neu erzählen und in andere Bilder und Welten übersetzen. Ihre Botschaft bleibt dabei aber nicht abstrakt, sondern wird konkret und erfahrbar. Im Spiel müssen wir Entscheidungen treffen und Verantwortung übernehmen. Und oft merke ich: Das wirkt über das Spiel hinaus. Dabei spielt auch mein eigener Glaube eine Rolle. In den Spielwelten gibt es viele Götter, wie z.B. für Krieg, Magie oder Handel, manchmal aber auch dunkle Wesen. Diese Bilder stehen im Kontrast zu meinem Glauben. Und gerade deshalb frage ich mich: Was macht meinen Gott aus? Was heißt es, an einen Gott zu glauben, der nicht Opfer fordert, sondern sich selbst schenkt? Der Beziehung will, keine Machtspiele? In der Auseinandersetzung mit fremden Gottesbildern wird mir mein eigener Glaube manchmal sogar klarer.

So kann ich in einem Spiel, das auf den ersten Blick ganz weltlich wirkt, meinen Glauben neu durchdenken und vielleicht sogar vertiefen. Es ist ein hoffnungsvolles Momentum, in dem Jesus selbst gegenwärtig ist, nämlich dort, wo über Nächstenliebe, Gewissen und Verantwortung nachgedacht wird. Und manchmal, wenn wir als „Barbaden“, wie unsere Gruppe von Pen-and-Paper-Charakteren heißt, durch dunkle Wälder ziehen, moralische Dilemmata lösen und uns für das Gute entscheiden, dann glaube ich: Auch in dieser fiktiven Welt ist er mit uns unterwegs.

#godingaming

Beitragsbild: MateoVRB

1 Vgl. Würfelbande: Was ist ein Pen & Paper?, Videobeitrag, veröffentlicht am 09.05.2018, online unter: https://play.funk.net/channel/wuerfelbande-11881/was-ist-ein-pen-paper-1525463 (abgerufen am 16.07.2025).

2 Johan Huizinga: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, hrsg. von Andreas Flitner, Reinbek: Rowohlt Verlag 2009 (Originalausgabe 1939).

3 Clauß Peter Sajak / Miriam Sophia von Eiff: Art. Biografisches Lernen, in: WiReLex, online unter: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/100230/ (erstellt Februar 2017, abgerufen am 16.07.2025).

4 Zweites Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes (7. Dezember 1965), Nr. 22, online unter: https://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_const_19651207_gaudium-et-spes_ge.html (abgerufen am 16.07.2025).

 

sebastian trefon

studierte Katholische Theologie in Augsburg und Wien und ist aktuell Pastoralassistent in der Pfarreiengemeinschaft Bobingen. Er interessiert sich besonders für die Verbindung von Glauben, Pen and Paper und anderen Spielformen und integriert diese in die christliche Jugendarbeit. Kontakt und Social-Media: https://linktr.ee/sebastiantrefon

One Reply to “Mehr als ein Spiel – Pen and Paper als Raum für Glaube, Ethik und Identität”

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