Der Nahostkonflikt spaltet nicht nur die öffentliche Debatte, sondern auch das Feld kontextueller Theologien. Justus Raasch zeigt, wie sich unterschiedliche Opferperspektiven gegenseitig blockieren können – und lotet mit Blick auf Rothbergs Konzept multidirektionaler Erinnerung Wege aus der theologischen Lagerbildung aus.

Lagerbildung eines polarisierenden Diskurses

Nicht erst seit den Terroranschlägen vom 7. Oktober und dem seither andauernden Krieg in Gaza zeichnet sich in der Debatte um den sogenannten Nahostkonflikt eine zunehmend dichotome Lagerbildung ab. Diese zeigt sich auch im akademischen Feld, wo der Konflikt diskursiv als Gegensatz zwischen postkolonialen und antirassistischen Ansätzen einerseits und post-Shoa- bzw. antisemitismuskritischen andererseits konstruiert wird. Die Gefahr einer solchen Gegeneinander-Ausspielung wird nicht zuletzt am „Krieg“ der Trump-Regierung gegen US-amerikanische Bildungseinrichtungen deutlich. Auch Slogans wie „Free Gaza from German guilt“ legen eine Priorisierung einer postkolonial geprägten Palästina-Solidarität nahe, die eine post-Shoa-Erinnerungskultur als hinderlich darstellt.

Opferperspektiven und mögliche Dialoghemmungen

Dieses Konfliktmuster zeigt sich nicht nur im säkular-akademischen Diskurs, sondern auch in unterschiedlichen Ansätzen kontextueller Theologie zu Israel und Palästina. Eine zentrale Rolle spielt dabei die für kontextuelle Theologien konstitutive Kategorie der epistemologischen Privilegierung der Perspektive „des Opfers“. Ich möchte exemplarisch zeigen, dass – je nachdem, welche Opferperspektive theologischerseits gewählt wird – die Wahrnehmung und Würdigung anderer Opfergruppen verunmöglicht erscheint. Daraus folgt eine dialoghemmende Immunisierung gegenüber anderen Kontextualitäten und Lebensrealitäten.

Zur Veranschaulichung werde ich die Israel-bezogene Post-Shoa-Theologie Wilhelm Friedrich Marquardts sowie das „Kairos Palästina“-Dokument als Vertreterin einer palästinensischen Befreiungstheologie analysieren. Dabei ist mir bewusst, dass diese beiden Quellen nicht für die Gesamtheit ihrer jeweiligen theologischen Strömung stehen. Dennoch lässt sich an ihnen exemplarisch die von mir beschriebene Problematik deutlich aufzeigen.

Marquardts Post-Shoa-Theologie

Wie viele Theolog:innen seiner Zeit stellt sich auch Marquardt die Frage, wie nach Auschwitz noch Theologie möglich sei. Daraus leitet er die Konsequenz ab, die Hör- und Sichtweise der Opfer der Shoa zu übernehmen.1 Zentral für seine Israel-Theologie ist das Motiv der Landverheißung Gottes an das Volk Israel, das er als Bestandteil des Bundes zwischen Gott und dem jüdischen Volk deutet.2 Marquardt geht dabei ausdrücklich nicht von einer Verheißung eines „Landes ohne Volk“ aus, wie es zionistische Mythen zur Staatsgründung Israels teilweise nahelegten. Vielmehr hält er auch gewaltsame Konflikte für unvermeidlich: „Ein fundamentales Unrechttun ist die Basis, an der soziales Recht und Gerechtigkeit […], erst gelernt, erarbeitet werden müssen“.3 Diesen Konflikt relativiert Marquardt in zweifacher Hinsicht: Erstens verweist er auf die jüdische Kriegsgesetzgebung, zweitens auf einen in biblischen Texten beschriebenen Nimbus des jüdischen Volkes, der ein freiwilliges Zurückweichen der Gegner:innen bewirkt habe. Dieses Muster erkennt er auch in den von ihm selbst als „umstritten“ bezeichneten Berichten über „freiwillige Massenfluchten ohne Ausweisung“ während des ersten arabisch-israelischen Krieges 1947–1949 wieder.4 Die Frage, wie angesichts der Shoa weiter an den Bund zwischen Gott und Israel und an die treue Gottes zu diesem geglaubt werden könne, verknüpft Marquardt eng mit dem Schicksal des Staates Israel. Im Überleben des jüdischen Volkes nach der Shoa sieht Marquardt die Möglichkeit, dass sich ein fraglich gewordener Gott neu bewähren kann.5 Auch wenn Marquardt die Auswirkungen seiner Theologie auf die Situation der Palästinenser:innen sieht, nimmt er deren Leid als notwendiges Übel in Kauf. Von ihnen fordert er sogar, sich – im Rahmen einer aus meiner Sicht nur dem Namen nach „palästinensischen Befreiungstheologie“ – ein Vorbild an Johannes dem Täufer zu nehmen: So wie dieser Platz für Jesus machte, sollen nun die Palästinenser:innen dem israelischen Volk weichen.6

Das „Kairos-Palästina“-Dokument

Vermutlich auf genau solche Argumentationsmuster bezieht sich der Theologe Munther Isaac (2017) wenn er argumentiert, dass die Palästinenser:innen die Leidtragenden einer Post-Holocaust-Theologie seien. Auch das Kairos-Palästina-Dokument greift diese Kritik auf, indem es jene Theologien verurteilt, die das an den Palästinenser:innen verübte Unrecht durch Israel legitimieren.7 Ein Schwerpunkt des Dokuments liegt auf der Darstellung der Lebensrealität der Palästinenser:innen und der Frage, welche Konsequenzen sich aus dieser für eine konkrete und kontextuelle Theologie ergeben.8 Das Dokument setzt sich zudem mit der Partikularität des ersten Bundes und der Landverheißung auseinander. Coors (2022) kritisiert in diesem Zusammenhang die Bibelexegese der palästinensischen Befreiungstheologie: Diese erschließe die Hebräische Bibel hermeneutisch über das Zweite Testament sowie die Prophetie des Ersten Testamentes, während die deuteronomische Tradition jedoch jüdisch assoziiert bleibe. Der partikulare Glaube Israels werde auf diese Weise universalisiert – ebenso die biblische Landzusage an das Volk Israel.9 Eine solche Gegenüberstellung von Partikularität und Universalität deutet Coors als „Rekurs auf ein erprobtes antisemitisches Partikularismus-Universalismus-Schema und die einhergehende Abwertung des Partikularen gegenüber dem Universellen“.10 Zudem bleibt in der Erklärung offen, welche Gebiete als israelisch besetzt verstanden werden11 und obwohl das Dokument grundsätzlich einen dritten Weg zwischen Gewalt und Verhandlungen unterstützt, wird die Verantwortung für Gewaltakte ausschließlich Israel zugeschrieben.12

Aus der Sackgasse? Versuch einer Vermittlung

Wie bereits erwähnt, können die hier skizzierten theologischen Ansätze nicht als repräsentativ für alle Positionen ihrer jeweiligen Strömung gelten. Dennoch zeigt sich meines Erachtens deutlich, dass auch im Feld der kontextuellen Theologie eine Lagerbildung zwischen schwer miteinander vereinbaren theologischen Zugängen sichtbar wird. Wie aber könnte eine Vermittlung zwischen diesen Positionen gelingen? Und wie ließen sich die verschiedenen kontextuellen Theologien zum Nahostkonflikt in einen produktiven Dialog gegenseitiger Solidarität und Anerkennung bringen? Ein möglicher Ansatz ist Michael Rothbergs Konzept der multidirektionalen Erinnerung (2024).13 Dieses widerspricht einem Verständnis von Erinnerung als Nullsummenspiel konkurrierender Opferpositionen. Stattdessen arbeitet Rothberg heraus, dass emanzipatorische Erinnerungsdiskurse stets miteinander verflochten waren und voneinander profitieren können14 Auch wenn Rothberg – insbesondere im deutschsprachigen Diskurs – nicht unumstritten ist, und ich die Kritik an seiner vorschnellen Abkehr von der Singularitätsthese teile,15 sehe ich in seiner Betonung der Verflechtung verschiedener Betroffenendiskurse eine Chance: nämlich die Möglichkeit, auch im Bereich der kontextuellen Theologien zum Nahostkonflikt der Falle von Opferkonkurrenz und der gegenseitigen Negierung von Leidensperspektiven zu entkommen.


#multidirektionaleErinnerung

Beitragsbild: Mohammed Ibrahim auf Unsplash

1 vgl. Liß-Walther, Joachim: „Denken aus der Umkehr heraus. Eine Einführung in die Dogmatik Friedrich-Wilhelm Marquardts“, in: Lehming, Hanna/Liß-Walther Joachim/Loerbroks, Matthias/van der Vegt, Rien (Hrsg.): Wendung nach Jerusalem: Friedrich-Wilhelm Marquardts Theologie im Gespräch, Gütersloh 1999, 13–53, 19.

2 Kriener, Tobias: „Landesverheißung und Zionismus in der Theologie Friedrich-Wilhelm Marquardts – eine Problemanzeige“, in: Lehming, Hanna/Liß-Walther Joachim/Loerbroks, Matthias/van der Vegt, Rien (Hrsg.): Wendung nach Jerusalem: Friedrich-Wilhelm Marquardts Theologie im Gespräch, Gütersloh 1999, 217–227, 219.

3 Marquardt, Friedrich-Wilhelm: Was dürfen wir hoffen, wenn wir hoffen dürften? (Bd. 2. 3 Bde.) Gütersloh 1994, 2:228.

4 Kriener, Landverheißung, 221. Im internationalen wie im spezifisch israelischen historischen Fachdiskurs wird das Narrativ vermeintlich freiwilliger und nicht intendierter Fluchtbewegungen zunehmen als Mythos zurückgewiesen und auf die Rolle von Massakern und gewaltvollen Vertreibungen im Rahmen der israelischen Staatsgründung hingewiesen (vgl. Boehm, Omri: Israel – eine Utopie. Übersetzt von Michael Adrian. 3. Auflage, Berlin 2023, 101–103).

5 Zingg, Andreas: Von und mit Israel hoffen lernen: Friedrich-Wilhelm Marquardts Eschatologie und ihre Implikationen für Theologie und Kirche (1. Aufl. Judentum und Christentum 28), Stuttgart 2023, 22–23.

6 Marquardt, was dürfen wir hoffen?, 2:285.

7 Kairos Palestine: „Die Stunde der Wahrheit:  Ein Wort des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe aus der Mitte des Leidens der  Palästinenser und Palästinenserinnen“, 2009, 4–6. online unter: www.kairospalestine.ps/index.php/about-kairos/kairos-palestine-document

8Ebd., 2–4.

9 Coors, Maria: „‚Sünde gegen Gott und die Menschheit‘. Judenfeindliche Semantiken im evangelischen Diskurs über Israel“, 2022, online unter: https://doi.org/10.14279/DEPOSITONCE-21020, 228.

10 Ebd., 231.

11 Kairos Palestine, Wahrheit, 7.

12 Ebd., 13.

13 Rothberg, Michael: Multidirektionale Erinnerung: Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung (2. Auflage), Berlin 2024.

14 Ebd., 27.

15 vgl. u.a. Axter, Felix/König, Jana: „Nachwort: Multidirektionalität in Deutschland“, in: Rothberg, Michael (Hrsg.): Multidirektionale Erinnerung: Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung (2. Auflage) Berlin 2024, 361–380, 376; sowie Mendel, Meron: Über Israel reden: eine deutsche Debatte (4. Auflage), Köln 2023, 163.

justus raasch

hat in Tübingen Politikwissenschaft und Theologie studiert und macht derzeit seinen Master in Theologie und Globaler Entwicklung in Aachen.

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