Während andere Männer seines Alters längst im Ruhestand sind, ist Robert F. Prevost mit 69 Jahren sogar der erste „Babyboomer“ im Papstamt, es steht also ein Generationenwechsel an. Wer ist dieser neue Papst? Und was kann wirklich so früh über ihn gesagt werden? Dieser Frage geht Benedikt J. Collinet im heutigen Beitrag anhand der zwei frisch erschienen deutschsprachigen Bücher über Robert Prevost – Leo XIV. – nach.
Gleich zwei Bücher haben es im ersten Monat des Pontifikats von Leo XIV. auf den deutschen Buchmarkt geschafft: Beide haben ca. 160 Seiten mit 9 Kapiteln, beide befassen sich ebenso viel mit dem Erbe des Franziskus wie den Erwartungen an den neuen Papst, allgemeinen Darstellungen vom Konklave und der populärkulturellen Referenz auf die gleichnamige Buchverfilmung. Aufgrund des begrenzten Materials überschneiden sich auch eine ganze Reihe von Referenzen – und doch sind beide Bücher ergänzend zueinander zu lesen.
Der Radio Vatikan Korrespondent und Insider Stefan von Kempis Papst Leo XIV. Wer er ist – wie er denkt – was ihn und uns erwartet [= von Kempis, S.] fokussiert stark auf die Biographie des neuen Papstes und kommt dann in den hinteren Teilen auf die kirchlichen Formalia, Baustellen und Hoffnungen zurück. Sein Buch legt eine Kurzbiographie vor, die einen ersten Blick auf den neuen Pontifex gibt, unterstützt durch gut 25 Fotos, von denen die meisten Robert Prevost als Papst zeigen.
Der Jesuit Andreas Batlogg, der sich als Publizist und Rahner-Kenner einen Namen gemacht hat und ebenfalls sehr gut in Rom und dem Vatikan vernetzt ist, legt mit Leo XIV. Der neue Papst [= Batlogg, S.] eher eine Chronologie der Ereignisse aus Sicht der Öffentlichkeit vor. Nach einer Einleitung geht es um Franziskus, das Konklave, die Wahl und erst nach der Wahl ausführlicher um Leben und Wirken des neuen Papstes. Auch er beschließt mit Erwartungen an das Pontifikat.
(Not) Judging Books by their Covers
Üblicherweise sagt das englische Sprichwort ja, dass man nur die inneren Werte anschauen soll. Doch im Fall dieser beiden Bücher dürften kleine Vor-Urteile möglich sein. Bei von Kempis finden wir ein weißes Cover vor, Leo XIV. schaut freundlich, nicht direkt in die Kamera und trägt ein schlichtes weißes Papstgewand. Mit dieser Emotion kann auch das Buch gelesen werden: Man darf auf einen bescheidenen, aber selbstbewussten Reformer in der Linie des Franziskus hoffen, der einen eigenen Stil haben / verfolgen wird.
Das Cover des Batlogg-Buches hat einen starken Wiedererkennungswert. So gibt es ein Ratzinger-Buch im gleichen Verlag, wo Benedikt XVI. ebenfalls vor völlig schwarzem Hintergrund mit der Mozetta auf der Loggia zu sehen ist. Einziger Unterschied: Ratzinger hält beide Hände in die Luft, Prevost lächelt und hebt nur eine Hand, ähnlich dem „buona sera“-Moment bei Franziskus. Es ist also ein Papst denkbar, der die Spaltungen in der Kirche überwinden kann, einer der aber tendenziell eine „franziskanisch-leonische Vision“ verfolgen wird (Batlogg, 158).
Beide Bücher gewähren Leo XIV. einen großen Vertrauensvorschuss, sodass es sich nahelegt, immer mal wieder etwas advocatus diaboli zu spielen ohne die Vorschusslorbeeren wegzunehmen.
Abschied von Franziskus und Straßenbaustellen der pilgernden Kirche
Zunächst einmal fällt auf, dass beide Autoren auf ihre Art Abschied von Franziskus und seinem teils turbulenten Pontifikat nehmen. Was hat Franziskus hinterlassen, welche Kontinuitäten und Herausforderungen findet Leo XIV. vor, worauf kann er aufbauen? Batlogg zitiert in diesem Zusammenhang ein Interview, das Pontifikat des Franziskus sei eines „der Aussaat und weniger der Ernte“ gewesen. (Batlogg, 47-58). Als Saatgut nennt er etwa: das menschlichere Gesicht des Papstamts, den Kampf gegen Klerikalismus und überkommene Kurialstrukturen, Aufbrechen des Eurozentrismus, der neue pastorale Stil und die Erfahrung, dass ein zu sehr gehypter Papst am Ende nur enttäuschen kann (Batlogg, 47-58). Dem seien unbenommen seine Reisen an die Ränder und seine beiden vorsichtigen Öffnungen im Bereich wiederverheiratete Geschiedene und Segen für gleichgeschlechtlich liebende Paare.
Bei beiden Autoren kommen auch Verweise auf die Grenzen des Pontifikats durch: finanzielle Anspannung des Vatikan durch hohe Neuverschuldung, Spaltungen in der Kirche wurden noch sichtbarer – auch durch den respektlosen Ton einiger traditionalistischer Kardinäle, die Spontaneität des Papstes konnte auch mal ins Fettnäpfchen gehen, Franziskus erwies sich nicht immer als Teamplayer und bei Genderfragen blieb er im Grunde essentialistisch.
Die Beteiligung von Laien wurde erhöht, besonders Frauen stiegen bis in hohe Leitungspositionen im Vatikan, aber auch vielerorts sonst auf der Welt, auf – wobei man einschränkend sagen muss, dass das Gros dieser Frauen Ordensschwestern sind und sie damit als zölibatäre Personen geweihten Lebens dem Klerus deutlich näher stehen als jeder Laienmann.
Der neue „größte Brückenbauer“, wird sich diesem Programm, da sind beide einig, annehmen müssen. Die wichtigsten Faktoren sind (von Kempis, 135-153; Batlogg, 59-82): Einsatz für den Frieden in der Welt, Spannungen in der Kirche versöhnen, Ökumene (Primatsfrage) und interreligiöser Dialog, Umgang mit Laien, „Frauenfrage“, queeren Menschen und Missbrauch in der Kirche. Dazu kommt die demographische Ausrichtung der kath. Kirche gen Süden und die Tatsache, dass 2050 China das Land mit den meisten Katholik:innen sein wird. Formal müssen die Finanzen des Vatikan saniert und Synodalität weitergedacht und in institutionalisierte Bahnen gelenkt werden, ohne „den Hl. Geist auszulöschen“, wie Karl Rahner einmal sagte. Leo hat in vielen dieser Bereiche bereits erste Symbolhandlungen gesetzt, gleichzeitig ist im Bereich der Frauen- und Geschlechterfragen eher eine Stagnation zu erwarten.
Biographische Highlights von Leo XIV.
Mit dem habemus papam wurde verkündigt, dass der 69-Jährige gebürtige US-Amerikaner Robert Francis Prevost gewählt worden war und sich den Namen Leo XIV. gegeben hatte.
Im digitalen Zeitalter ist es sehr einfach, ab der Nennung des Namens an Informationen zu kommen. So stürzte Wikipedia in den ersten Sekunden nach der Wahl ab und es wurde sogleich ein neuer Eintrag für den Papst angelegt, noch bevor er die Loggia betreten hatte. Schnell wurde spekuliert, Verwandte herausgeklingelt und fotografiert, an seinen früheren Dienst- und Lebensorten nachgeschaut usw. In beiden Büchern wird auf diese Daten eingegangen, bei von Kempis eher im Sinne einer Reportage, bei Batlogg stärker im Blick auf Lebensstationen und Leitungserfahrungen (von Kempis, 20-75; Batlogg, 92-136).
Davon bedient vieles die Neugier, interessant sind aber einige Linien, die sich durchziehen. So ist Leo XIV. bereits von der Schullaufbahn, über die Universität bis in die Peripherien Perus und die höchsten Leitungspositionen in Rom ein überzeugter Anhänger seines Ordens, der armen Augustiner; in Deutschland bekannt durch das – heute privatisierte – „Augustinerbräu“. Eine entsprechend Kombination von Option für die Armen und augustinisch-intellektuellem Denken liegt Leo XIV. nahe. Wichtig ist, diesen Orden nicht mit den namensähnlichen Augustiner-Chorherren zu verwechseln, wie es in einem der Bücher geschehen ist.
Leo XIV. ist ein US-Amerikaner aus den weißen Suburbs der 1960er-Jahre in Chicago mit einer klassischen melting pot Vergangenheit. Diese beschert ihm auch italienische und spanische Vorfahren, sodass er die Umgangssprachen des Vatikan und Perus rasch beherrschte. Er verbrachte 30 Lebensjahre in den USA, 23 in Peru und 16 in Rom/Vatikan und hält nun alle drei Staatsbürgerschaften. Gerade in Peru war er oft an den Rändern und bei den Ärmsten und packte immer dort an, wo es Not tut. Batlogg betont, dass er sich dabei rasch eingliederte und ein kolonial-westliches Überlegenheitsgefälle vermied (Batlogg, 60; 135, verwendet beide Male für das Hybris-Verhalten fälschlich den Begriff „postkolonial“).
Sein Leitungsstil wird von allen Seiten als klar, sympathisch, teamfähig, interessiert, zuhörend, umgänglich und pragmatisch beschrieben. Er sei ein strenger Lehrer im Orden gewesen, habe aber zugleich die Individualität der einzelnen Personen und Standorte respektiert, was ihm eine seltene Wiederwahl einbrachte. In Peru setzte er sich mit den restaurativen Kräften auseinander, die sein Opus-Dei Vorgänger verursacht hatte, was einerseits zur endgültigen Auflösung einer Gruppe führte, die wiederum versuchte, ihm Missbrauchstaten anzuhängen. Nach Prüfung des Falles, gilt es aber als unwahrscheinlich, da keine Beweise vorgelegt werden konnten im Gegensatz zu breit belegter konsequenter Einhaltung aller von Rom herausgegebenen Richtlinien (von Kempis, 57-59; Batlogg, 131-136). Er förderte Frauen wie Laien im Allgemeinen und setzte auf synodale Strukturen in seinem Bistum (von Kempis, 64-67).
Er konnte gut mit Benedikt XVI. und Franziskus, letzterer berief ihn erst 2023 in das Dikasterium, das die Bischofsernennungen durchführt, weil er Metropole und Peripherie kennt, Romerfahrung hatte und zugleich kein Kurialer war (Battlogg, 115).
Namenswahl und erste Auftritte
Die ersten Auftritte zeigen, dass der neue Papst die Spannungen bereits symbolisch austariert. Er trägt die klassische Mozetta aber nicht die roten Schuhe, er wird im Apostolischen Palast wohnen, fährt aber eher ein bescheidenes Auto, er empfing die Kardinäle zur Aussprache in der großen Audienzhalle und nicht in der Sala Clementina, schließlich hat er sein Bischofswappen beibehalten und trug bei der Wahl ein goldenes Brustkreuz, hat sich dann für ein silbernes entschieden. Dieses wurde allerdings, nachdem die Bücher bereits im Druck waren, von einer Stiftung um vier Reliquien ergänzt, die u.a. von Leo I. und Augustinus stammen.
Die Namenswahl Leo XIV. zeugt von Weitsicht und ist zugleich weit weniger überraschend, als die Klappentexte suggerieren: Mit Pius, Benedikt, Franziskus, Johannes und/oder Paul wären jeweils klare Bekenntnisse zu Richtungsstreitigkeiten verlautbart, die Hinwendung zum Erfinder der Sozialenzyklika hingegen zeigt einen wachen Blick für soziale Probleme und Friedensthematiken der Gegenwart und zugleich für innerkatholische Reformbedürftigkeit. Es dürfte sich also um einen intellektuellen und diplomatischen Papst handeln.
Die Verweise der beiden Autoren darauf, dass Leo X. den Augustiner Martin Luther exkommunizierte und hier eine Art Versöhnung angedeutet werden könnte, muss sich noch erweisen, scheint mir aber eher „deutsch“ gedacht. Indem Leo sich wiederholt auf Leo I. (Einführung des Jurisdiktionsprimats) und Augustinus bezieht, blitzt m.E. auch ein klares hierarchisches und machtbewusstes Denken durch, das sich bereits in einem Interview vorher andeutete (Batlogg, 125: „Gott, bischöfliche Brüder, Priester, ganzes Volk Gottes“).
So spricht Leo XIV. schon mit den ersten Worten den Frieden an und setzt sich gleichzeitig in persona Christi, die Rolle wurde also rasch angenommen. Ebenso das Bild der „umarmenden Kollonaden“ Berninis, die ausdrücken, dass von der Loggia her die Mutter Kirche ihre Kinder umschließt, ein ähnlich schwieriges Bild für westliche Ohren, wie es Schafe und Hirten sind. In die gleiche Reihe geht die klare Ansage „Für euch bin ich Bischof, mit euch bin ich Christ“ des Augustinus, die Leo XIV. hier zitiert.
Auch an die Kardinäle gab es eine ähnlich klare Ansage bei der ersten Messe: „ihr habt mich berufen, dieses Kreuz zu tragen“ und er wählte mit Mt 16,16 das Bekenntnis des Petrus zu Jesus (von Kempis, 107) als Predigttext. Dem exegetischen Auge kann nicht entgehen, dass gleich darauf die Machtzuweisung an Petrus und seiner Nachfolger (Mt 16,18-20) steht. Dazu passend feierte der Papst mit einigen Priestern am gleichen Tag eine Messe direkt am Petrusgrab.
Ein Papst, für den klar ist, dass katholisch-sein heutzutage wirklich die Welt im Blick behalten, Partikularismen diskutieren, Pluralität annehmen und Entscheidungen treffen bedeutet, ist sicher hilfreich im Blick auf das, was kommt. Dabei wird aber auch zu Fragen sein, inwieweit er die „Dezentralisierung“ des Franziskus fortführt oder nicht.
Ein friedlicher Löwe?
Sicher ist zunächst einmal, dass dieser Papst leiten kann, will und wird. Dabei hat er gegenüber der Weltpresse bei deren Empfang angekündigt, er pflege „eine Art der Kommunikation, die nicht um jeden Preis auf Zuspruch aus ist, die nicht aggressive Worte benutzt, die nicht dem Prinzip des Wettbewerbs folgt“ (Batlogg, 132).
Gleich zuvor hatte er irritiert durch kritische Aussagen zum westlichen Lebensstil (von Kempis, 108f.), die mit zwei berühmten paulinischen Motiven verbunden sind, dem Skandalon der christlichen Botschaft (Gal 5,11) und dem Verschwinden des Menschen hinter Christus (Gal 2,20). Sie könnten auf einen Stil hinweisen, der in Richtung contemptus mundi (Weltabwendung) aus seiner Ordenstradition stammt, die im Stile der johannespaul-benediktschen Relativismuskritik stammen – dies widerspricht jedoch den biographischen Wahrnehmungen in beiden Büchern.
In deutlicher Abgrenzung zu diesen Indizien ist die klare Botschaft für den Frieden, die der neue Papst ausgesendet hat. Seine Hinwendung zur Option für die Armen im Stile der lateinamerikanischen Theologie, die sich im Spanisch der ersten Rede ebenso zeigte, wie in der Wahl seines peruanischen Sekretärs. Leo XIV. wird sicher politisch unbequem werden, ob er aber tatsächlich ein „Anti-Trump“ sei (von Kempis, 28), ist zunächst mal ein Binnendiskurs der amerikanischen Medien. Eher deutet die Wahl eines US-Bürgers darauf hin, dass die Supermachtstellung der USA nicht mehr so stark ist, dass die kath, Kirche sie in der Wahl berücksichtigen müsste.
Wichtiger wird sein, ob Leo XIV. die ökumenisch bedeutende Reise nach Iznik/Nizäa antritt, wann er Peru und ob er die USA besucht, was mit der Ukraine und Israel-Palästina sein wird. Innerkatholisch hat er sich mit der vorläufigen Bestätigung der Kurienleitungen Zeit erkauft, um sich einzugewöhnen und überlegte Entscheidungen zu treffen. Rhetorisch hat er genug zum Spekulieren gegeben, sodass alle Blöcke zu tun haben und er sich inzwischen vorbereiten kann – ein kluger Schachzug.
Als gesichert gilt, dass die synodale Ausrichtung der kath. Kirche weiter vorangetrieben und theoretisch wie theologisch-praktisch untermauert werden wird. Dabei hat Leo XIV. traditionalistischen Kräften bereits eine indirekte Abfuhr erteilt, wenn er aufruft, dem Hl. Geist in eine neue Zukunft zu folgen und nicht „die Sicherheit von Antworten [zu bevorzugen], die bereits in der Vergangenheit erfahren wurden“ [Batlogg, 154f.].
Ob der „Papa Americano“ ein reißender Löwe (lat. leo) wird oder eher die Friedensvision des Jesaja von Lamm und Löwe vertritt (Jes 11,6; 65,25), bleibt abzuwarten. Etwas Geduld und ein ausreichender Vertrauensvorschuss scheinen im Jahr der Hoffnung jedenfalls angemessen.
Hashtag der Woche: #papamericano
Beitragsbilder: Herder und Patmos Verlag.