Warum es in der katholischen Kirche zum Missbrauch an Ordensfrauen kommt und welche strukturellen Begünstigungen dabei vorliegen, darüber berichtet Rebekka Moerschadt und gibt y-nachten.de Einblicke in die Ergebnisse ihrer Masterarbeit.
Warum begeht jemand eine Straftat?
Die Kriminologie befasst sich oft mit genau dieser Fragestellung. Was hat die Tatperson motiviert? Welche inneren Antriebe oder äußeren Zwänge haben dabei eine Rolle gespielt? Besonders in der Untersuchung von sexualisierten Gewaltdelikten geht es häufig um individuelle Motive, um Persönlichkeitsmerkmale und -störungen, die eine solche Tat begünstigen könnten. Diese Perspektive hat ihre Berechtigung. Sie hilft zu verstehen, warum Menschen über Grenzen gehen, warum sie sich entscheiden, anderen Gewalt anzutun. Aber sie greift, insbesondere in institutionellen Kontexten wie der katholischen Kirche, zu kurz.
Denn eine Tat entsteht nicht im luftleeren Raum.
Die Tat ist nicht bloß das Produkt einer einzigen Person und ihrer Psyche. Vielmehr ist es das Ergebnis eines Zusammenspiels – von Täter:in, von Opfer und von der Situation, in der sich beide befinden.
Und genau hier setzte meine Analyse an: Ich habe mich in meiner Masterarbeit mit dem Missbrauch an Ordensfrauen beschäftigt und ihn prozessorientiert aufgearbeitet. Statt nur zu fragen, was die Tatpersonen antreibt, wollte ich verstehen, wie es dazu kommt. Ich wollte wissen: Welche Dynamiken, welche Orte, welche Situationen schaffen Raum für das Verbrechen? Und wie fügen sich die betroffenen Ordensfrauen in dieses System ein – nicht als bloße Opfer, sondern als Menschen, die sich in einem bestimmten Kontext bewegen, der sie verwundbar macht? Und: Wie kann man daraus abgeleitet Missbrauch an Ordensfrauen in der katholischen Kirche verhindern?
Die Routine-Aktivitäts-Theorie von Lawrence E. Cohen und Marcus Felson (1979) liefert dafür eine entsprechende Grundlage. Sie erklärt Kriminalität über das Zusammenwirken von drei Faktoren: einer motivierten Tatperson, einem „Tatziel“ (im Orig.: „suitable target“) und einer Gelegenheit, die eine Straftat ermöglicht.1 Erst, wenn alle drei Faktoren zusammenkommen, kann eine Straftat dieser Theorie zufolge geschehen.
Doch was bedeutet das konkret?
Um das Zusammenspiel dieser Faktoren für den Missbrauch an Ordensfrauen greifbar zu machen, folgt nun eine Fallskizze. Sie ist fiktiv – der geschilderte Hergang hat in dieser Form nicht stattgefunden. Die beschriebenen Dynamiken beruhen jedoch auf wiederkehrenden Mustern, die sich in meiner Analyse von elf Betroffenenberichten als zentral herausgestellt haben. Elemente dieser Geschichte finden sich so oder ähnlich in realen Erzählungen von Ordensfrauen, die sexuellen und/oder spirituellen Missbrauch erlebt haben, wieder.
Trigger-Warnung: Im folgenden Textabschnitt werden sexualisierte Handlungen beschrieben, die belastend und retraumatisierend wirken können. Die Fallskizze ist markiert und kann übersprungen werden. Der Beitrag wird danach fortgesetzt.
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Schwester Rahel hatte sich aus tiefem Glauben für ein Leben im Orden entschieden und war 21 Jahre alt, als sie eintrat (Hoff 2020, S. 103). Sie brachte geistlichen Autoritäten großes Vertrauen entgegen – sie sah in ihnen geistliche Vorbilder und Orientierung (vgl. ebd.). In ihrer Familie hingegen fand sie in ihrer Kindheit und Jugend keinen Halt und wurde von ihrem Bruder jahrelang sexuell missbraucht (Schwarzländer 2020, S. 165). Sie sehnte sich deshalb nach Liebe, Gemeinschaft und Zusammenhalt unter Gleichgesinnten (Niemeyer 2020, S. 134).
Der Alltag im Kloster war streng geregelt, geprägt von Gebet, Arbeit und Gehorsam gegenüber der geistlichen Leitung (Leb 2020, S. 126). Besonders zu Pater Johannes, dem geistlichen Begleiter des Ordens, hatte sie und auch die anderen Mitschwestern großes Vertrauen (Eiche 2020, S. 56). Er war ihr Seelsorger, der ihr helfen sollte, ihren Glauben zu vertiefen. Anfangs waren es nur Gespräche über den Glauben, über Zweifel und Hingabe (Hoff 2020, S. 104, Niemeyer 2020, S. 136). Die Themen wurden aber immer persönlicher – es ging um ihre Unsicherheiten, ihre Sehnsüchte, ihre Missbrauchserfahrungen (Schwarzländer 2020, S. 167). Er lobte sie für ihre Hingabe, sprach davon, dass sie eine besondere Verbindung zu Gott habe (Eiche 2020, S. 56).
Er riet ihr, sich in der Gemeinschaft zurückzunehmen, mehr Zeit für das Gebet und die persönliche Einkehr zu nutzen (Niemeyer 2020, S. 134-135). Bald begann sie, immer mehr Zeit mit ihm zu verbringen, während ihre Kontakte innerhalb des Klosters abnahmen: Sprechen Sie doch mit Pater Johannes, hieß es immer wieder (Eiche 2020, S. 57). Das Gefühl, dass nur er sie wirklich verstand, dass ihre besondere Verbindung nicht infrage gestellt werden sollte, verfestigte sich (Fabrizius 2020, S. 66; Niemeyer 2020, S. 137).
Langsam verschob er ihre Grenzen: Er legte in Gesprächen plötzlich seine Hand auf ihre Schulter, sprach von „geistlicher Intimität“ und dass Nähe zwischen Seelen auch körperlich und auf diese Weise heilsam sein könne (Fabrizius 2020, S. 66; Adler 2020, S. 30). Rahel fühlte sich unwohl, aber sie war verwirrt – konnte es wirklich falsch sein; er ist immerhin ein geweihter Priester? (Niemeyer 2020, S. 137; Fabrizius 2020, S. 67; Schwarzländer 2020, S. 167).
Mit der Zeit wurden seine Übergriffe deutlicher. Er sexualisierte Beichtgespräche, forderte er sie auf, ihm intimste Details zu erzählen (Eiche 2020, S. 57). Als er sie eines Tages in seinem Zimmer umarmte und küsste, war sie wie gelähmt (Schwarzländer 2020, S. 168). Widerstand? Er war ihr geistlicher Leiter, sie ihm Gehorsam schuldig (Hoff 2020, S. 105). Außerdem – an wen hätte sie sich wenden sollen? Würde man ihr überhaupt glauben? (Hoff 2020, S. 105; Fabrizius 2020, S. 67)
Als sie schließlich doch versuchte, sich jemandem anzuvertrauen, wies sie eine Missbrauchsbeauftragte zurecht: Frauen könnten einfach nein sagen und außerdem macht ein Pater sowas nicht (Adler 2020, S. 31). Damit war klar: Es gab keinen Ausweg (Hoff 2020, S. 105). Die Verantwortlichen stellten nicht Pater Johannes infrage, sondern Rahel (Adler 2020, S. 31). Ihre Glaubwürdigkeit wurde subtil untergraben, ihr Zweifel als Zeichen mangelnden Glaubens interpretiert (Hoff 2020, S. 106). Rahel begann, an sich selbst zu zweifeln. War es wirklich Missbrauch? Oder war sie diejenige, die etwas falsch gemacht hatte? (Fabrizius 2020, S. 65).
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Der Missbrauch hat sich in dieser Fallskizze über die Zeit entwickelt: Pater Johannes nutzte seine Machtposition aus, baute eine Vertrauensbeziehung auf und verschob langsam, in einem sogenannten Grooming-Prozess, die Grenzen. Dabei halfen ihm auch Praktiken spirituellen Missbrauchs. Schwester Rahel war durch ihre Vorerfahrungen mit sexuellem Missbrauch, die Isolation und das Urvertrauen in geistliche Autoritäten besonders vulnerabel. Die Wahl privater ungeschützter Räume und die spirituellen Kontexte der Beichte bzw. der geistlichen Begleitung schufen den Raum für die Tat. Dieses Muster ist stark vereinfacht und die Taten bleiben individuell/spezifisch. Trotzdem haben sich diese wiederholt aufgetan, was zentrale Schlussfolgerung zulässt:
Missbrauch an Ordensfrauen ist kein Zufall, sondern ist ein Prozess.
Und genau deshalb kann Prävention nicht nur an einer Stelle ansetzen.
Es reicht nicht, allein die Täter:innen in den Blick zu nehmen. Strukturen müssen verändert werden, damit sich solche Gelegenheiten gar nicht erst ergeben – etwa durch unabhängige Anlaufstellen, übergreifende Gewaltschutzkonzepte für Klöster.
Dazu gehört insbesondere das Etablieren von externen Kontrollmechanismen und mehr Transparenz in den Meldewegen. Gleichzeitig brauchen Betroffene Schutzräume, in denen sie sich ohne Angst äußern können – verbunden mit einer umfassenden Sensibilisierung für das Thema. Prävention sollte sich deshalb auf alle drei Ebenen – Tatperson, Opfer und Tatgelegenheit – konzentrieren, damit missbräuchliche Prozesse erst gar nicht entstehen und kirchliche Räume wieder für Sicherheit und Geborgenheit stehen können.
(Beitragsbild: Ricardo Gomez Angel)
#Ordensfrauen
1(Cohen & Felson 1979, S. 589; 590).
Literatur
Adler, E. (2020): „Dafür sind wir nicht zuständig“. In: Haslbeck, B., Heyder, R., Leimgruber, U. & Sandherr-Klemp, D. (Hrsg.): Erzählen als Widerstand: Berichte über spirituellen und sexuellen Missbrauch an erwachsenen Frauen in der katholischen Kirche. Münster: Aschendorff Verlag (S. 29-33).
Cohen, L. E., Felson, M. (1979): Social Change and Crime Rate Trends: A Routine Activity Approach. American Sociological Review, 44(4), S. 588–608.
https://doi.org/10.2307/2094589
Eiche, M. (2020): Ich war nicht mehr ich. In: Haslbeck, B., Heyder, R., Leimgruber, U. & Sandherr-Klemp, D. (Hrsg.): Erzählen als Widerstand: Berichte über spirituellen und sexuellen Missbrauch an erwachsenen Frauen in der katholischen Kirche. Münster: Aschendorff Verlag (S. 55-64).
Haslbeck, B., Heyder, R., Leimgruber, U. & Sandherr-Klemp, D. (2020): Erzählen als Widerstand: Berichte über spirituellen und sexuellen Missbrauch an erwachsenen Frauen in der katholischen Kirche. Münster: Aschendorff Verlag.
Hoff, K. (2020): Das alles im Namen Gottes. In: Haslbeck, B., Heyder, R., Leimgruber, U. & Sandherr-Klemp, D. (Hrsg.): Erzählen als Widerstand: Berichte über spirituellen und sexuellen Missbrauch an erwachsenen Frauen in der katholischen Kirche. Münster: Aschendorff Verlag (S. 103-108).
Leb, M. (2020): Freiheit durch Vergebung. In: Haslbeck, B., Heyder, R., Leimgruber, U. & Sandherr-Klemp, D. (Hrsg.): Erzählen als Widerstand: Berichte über spirituellen und sexuellen Missbrauch an erwachsenen Frauen in der katholischen Kirche. Münster: Aschendorff Verlag (S. 123-130).
Niemeyer, P. (2020): Wie lang noch?. In: Haslbeck, B., Heyder, R., Leimgruber, U. & Sandherr-Klemp, D. (Hrsg.): Erzählen als Widerstand: Berichte über spirituellen und sexuellen Missbrauch an erwachsenen Frauen in der katholischen Kirche. Münster: Aschendorff Verlag (S. 133-139).
Schwarzländer, E. (2020): Frauen schämen sich leise. In: Haslbeck, B., Heyder, R., Leimgruber, U. & Sandherr-Klemp, D. (Hrsg.): Erzählen als Widerstand: Berichte über spirituellen und sexuellen Missbrauch an erwachsenen Frauen in der katholischen Kirche. Münster: Aschendorff Verlag (S. 165-172).