Das Netzwerk Moraltheologie widmete sich auf seiner Jahrestagung im März einer Grunderfahrung menschlicher Existenz: dem Bösen. Patrick Lindermüller gibt einen Einblick in die vielfältigen moraltheologischen und – philosophische Fragen und Diskussionspunkte der Tagung.

Ob in literarischen Welten wie Harry Potter, epischen Serien wie Game of Thrones oder mythologisch aufgeladenen Filmzyklen wie Star Wars – das Böse ist omnipräsent. Es tritt in Erscheinung als dunkle Magie, als Machthunger, als galaktisches Imperium. Doch nicht nur in fiktionalen Erzählräumen entfaltet es seine Wirkmacht: Auch in der Realität begegnet es uns – in den Abgründen menschlicher Gewalt, in Genoziden, Kriegen und der zerstörerischen Wucht von Naturkatastrophen.1

Das Böse – narrativ verflochten

Ob in fiktiver Inszenierung oder als reale Erfahrung: Das Böse entzieht sich einer eindeutigen Definition. Es lässt sich nur selten als isoliertes Ereignis oder klar umrissene Tat begreifen. Vielmehr erscheint es in narrativen Verflechtungen – eingebettet in komplexe Kontexte, Perspektiven und Motivationen. Diese narrative Rahmung erschwert eine moralisch eindeutige Einordnung – und macht das Böse zugleich so wirkmächtig wie unheimlich.

Das Böse in Philosophie und Theologie

Diese letztliche Un-Begreifbarkeit setzte auch eine breite philosophisch-theologische Auseinandersetzung mit dem Bösen in Gang. Beginnt man im griechisch-europäischen Denkhorizont, zeigt sich eine jahrtausendealte Diskussion, die von Platons Gorgias über Augustinus, Thomas von Aquin, G. W. Leibniz und Immanuel Kant bis hin zu Hannah Arendt und Paul Ricœur reicht.2 Folgende Fragen wieder rück(t)en dabei zentrale Fragen ins Zentrum der Debatte:

  • ‚welcher ontologische Status kommt dem Bösen zu?‘,
  • ‚können Handlungen – oder auch natürliche wie kulturelle Phänomene – sinnvoll als ‚böse‘ bezeichnet werden?‘,
  • ‚und wenn ja: in welchem Sinne, mit welchen Folgen?‘ und
  • ‚ist es überhaupt legitim, sich über das Böse Gedanken zu machen – oder wird man dadurch selbst Teil seiner Dynamik?‘.

Sowohl die mediale Resonanz als auch die öffentliche Verankerung des Themas sowie die intensive wissenschaftliche und insbesondere philosophisch-theologische Auseinandersetzung verweisen auf die tiefgreifende Relevanz des Bösen für das menschliche Leben – genauer: auf die grundlegende menschliche Erfahrung des Bösen:

  • Menschen werden mit dem Bösen konfrontiert,
  • Menschen tun Böses,
  • und Menschen verstricken sich in ihm.

Jahrestagung des Netzwerks Moraltheologie: „Narrationen des Bösen“

Angesichts dieser existenziellen Präsenz des Bösen in Gesellschaft und Wissenschaft widmete sich das Netzwerk Moraltheologie im Rahmen seiner Jahrestagung (07. bis 08. März) an der Domschule Würzburg unter dem Titel „Narrationen des Bösen“ eben jenem Phänomen. Ziel war es, das Böse aus moraltheologischer wie -philosophischer Perspektive in seinen narrativen Gestalten und strukturellen Dimensionen zu reflektieren und neue Zugänge zum Verständnis seiner Wirksamkeit zu erschließen.3

Das Böse im Film

Im öffentlichen Abendvortrag am Freitag widmete sich Prof. Dr. Reinhold Zwick dem Thema ‚Das Böse im Film‘. In seinem Vortrag zeichnete er ein facettenreiches Bild filmischer Inszenierungen des Bösen und nahm dabei ikonische Figuren wie Hannibal Lecter in den Blick.

Zwick zeigte eindrucksvoll, wie das Böse in der filmischen Narration nicht plump oder eindeutig auftritt, sondern vielmehr in vielschichtige Erzählstrukturen eingebettet ist. Gerade diese Ambivalenz – das feinsinnige narrative Aufspannen der Gestalten des Bösen – mache die Tiefe und Qualität großer Filme aus. Das Böse, so sein Fazit, entfalte seine Wirkmacht nicht durch plakative Schwarz-Weiß-Zeichnung, sondern durch komplexe dramaturgische Verflechtungen, die zur Auseinandersetzung herausfordern.

Fundamentalethik: Das Böse zwischen Anthropologie und Narration

Maximilian Welticke (Paderborn) entfaltete mit seinem Vortrag ‚Das Böse im Menschen‘ ausgehend von klassischen Positionen bei Augustinus und Thomas von Aquin eine systematisch-anthropologische Perspektive. Dabei legte er besonderes Augenmerk auf die Spannung zwischen innerer Anfälligkeit des Menschen zum Bösen und dessen sozialer Vermittlung. Diese Überlegungen mündeten in eine sozialphilosophische Reflexion, die gegenwärtige politische Tendenzen – insbesondere in der US-amerikanischen Gesellschaft – in den Blick nahm.

Im Vortrag ‚Schau, was ich erlitten! Schau, was ich getan!‘ nahm Thomas Buchschuster (Horb/Graz) die Dimension des Bösen im Kontext zwischenmenschlicher Vergebung in den Blick. Er analysierte, wie das Böse in biografischen Narrativen sprachlich fassbar und damit bearbeitbar gemacht wird. Der Fokus lag hierbei auf der Vergebungsarbeit:

Wie wird das Böse erinnert, benannt, und in welchem Verhältnis stehen Leiden und Schuld, Täter:innenschaft und Opfererfahrung zueinander? Buchschuster zeigte auf, dass das Böse in narrativen Akten nicht neutralisiert wird, wohl aber einen Ort erhält, an dem es neu gerahmt und gedeutet werden kann – als Schritt hin zu Verständigung und Versöhnung.

Angewandte Ethik: Das Böse und sexualisierte Gewalt

Mit dem Fokus auf Fragen angewandter Ethik widmete sich die Tagung darüber hinaus insbesondere dem Zusammenhang von sexualisierter Gewalt und dem Bösen – ein Themenfeld, das in den letzten Jahren auch kirchlich wie gesellschaftlich mit neuer Dringlichkeit diskutiert wird.

Christiane Kuropka (Münster) näherte sich in ihrem Vortrag dem Missbrauchsgeschehen über die ethische Reflexion des Narrativs ‚das Böse‘. In ihrem Beitrag fragte sie, ob und inwiefern ‚das Böse‘ als Chiffre oder Deutungskategorie einen analytischen Mehrwert für die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt bieten kann. Dabei ging es ihr um eine ethisch sensible Begrifflichkeit, die dem Geschehen gerecht wird. Ziel der Überlegungen war es, das Potenzial dieser Kategorie für Prävention und ethische Orientierung auszuloten – mündend in Überlegungen zu einem praxisnahen Leitfaden für ethische Analyse und Sensibilisierung.

Pavlos Leußler (Bonn) knüpfte mit seinem Vortrag an Hannah Arendts viel diskutierte These von der „Banalität des Bösen“ an und fragte, ob diese Denkfigur in der Auseinandersetzung mit Täterbildern im Kontext von Missbrauch hilfreich oder eher problematisch sei.

Leußler analysierte differenziert, inwiefern Arendts Konzept – das ursprünglich im Kontext der NS-Prozesse formuliert wurde – eine Augen öffnende Perspektive auf Strukturen des Bösen bietet oder aber durch seine semantische Verharmlosungstendenz Gefahr läuft, Täter:innenschaft zu entpersonalisieren. Der Vortrag verstand sich als kritischer Beitrag zur ethischen Reflexion von Verantwortung und Schuldfähigkeit im Rahmen institutioneller Gewalt.

Das Böse in der ökologischen Ethik

Ergänzend dazu widmete sich Timo Hartmann (Augsburg) einem dritten Feld: dem ökologisch-ethischen Diskurs. Unter dem Titel ‚Umweltschuld – Kategorie des Bösen?‘ fragte er nach der Anschlussfähigkeit der Kategorie des Bösen in gegenwärtigen politischen und ökologischen Debatten. Dabei zeigte er, wie moralische Zuschreibungen von Schuld und Verantwortung in umweltpolitischen Diskursen häufig in Begriffen des ‚bösen Handelns‘ oder der ‚moralischen Verfehlung‘ kodiert sind – ohne dass die Komplexität struktureller Verstrickung hinreichend reflektiert wird. Hartmann plädierte für eine differenzierte ethische Sprache, die Schuld benennt, ohne vorschnell moralisch zu eskalieren.

Fazit

Die Kategorie des Bösen besitzt also auch in der Gegenwart unverminderte Relevanz: Menschen greifen auf sie zurück, um existenzielle Erfahrungen zu deuten und sprachlich zu fassen.

Theologische Ethik hat diesen lebensweltlichen Gebrauch zunächst ernst zu nehmen, bevor sie – ihrer Aufgabe als Reflexionswissenschaft moralischer Traditionen entsprechend – prüft, ob und wie dieser Gebrauch zu einem gelingenden, verantwortlichen Leben beiträgt. Ihre besondere Kompetenz liegt dabei sowohl in der Rückbindung an tiefgreifende Traditionslinien als auch in ihrer Fähigkeit zur differenzierten Bewertung aktueller Diskurse.

Dass die Kategorie des Bösen auch heute produktiv wirksam werden kann, zeigten exemplarisch ihre Anwendungen in der ökologischen Ethik wie auch in der Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt. Zugleich wird deutlich: Eine ethische Sensibilität ist unabdingbar, damit das Böse nicht pauschalisierend verdunkelt, sondern zur Aufklärung beiträgt. Narrationen des Bösen sind daher nicht vorschnell zu verabschieden – wohl aber kritisch auf ihre Form, Wirkung und Zielsetzung hin zu befragen. In diesem Sinne kann die theologische Ethik einen entscheidenden Beitrag zu einer sensiblen, aufklärenden und verantwortungsvollen Fortschreibung der Rede vom Bösen leisten. Dies wäre ihre Aufgabe, bedient sie sich der Kategorie des Bösen.

#NarrationendesBösen


1 Vgl. hierzu: Russel, Luke: Das Böse. Eine philosophische Spurensuche (Reclam Denkraum), Ditzingen 2023.

2 Vgl. Schäfer, Christian (Hg.): Was ist das Böse? Philosophische Texte von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart 2014.

3 Vgl. Netzwerk Moraltheologie, abgerufen unter: https://www.domschule-wuerzburg.de/aufgaben/netzwerk-moraltheologie, abgerufen am 22.04.2025 12:59 Uhr.

 

Bildquelle: Katy McCray auf Unsplash

patrick lindermüller

hat katholische Theologie, Philosophie und Interreligiöse Mediation in Augsburg und Jerusalem studiert. Er ist Promovend am Lehrstuhl für Moraltheologie in Augsburg und mit einer 50%-Stelle als Pastoralreferent im Bistum Augsburg mit einem Schwerpunkt zur Prävention von sexualisierter Gewalt angestellt. In seiner Diss denkt er darüber nach, inwiefern Geschichte mehr als Schnee von gestern für die theologische Ethik sein kann. Er beschäftigt sich gerne mit Musik, Kultur und Politik.

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