Was hat Theologie mit Aktivismus zu tun? In Activist Theology fordert Robyn Henderson-Espinoza nichts weniger als ein radikales Umdenken: Theologie muss raus aus dem Elfenbeinturm – hin zu den Geschichten der Menschen, hin zu politischem Engagement, hin zu lyrischem Protest. Carolin Hohmann beleuchtet Stärken und Schwächen dieses leidenschaftlichen Plädoyers für eine Theologie, die nicht nur denkt, sondern handelt.
„I am a scholar and activist“ – noch immer bin ich verblüfft, wie selbstverständlich dieser Satz vielen US-amerikanischen Theolog:innen auf Tagungen über die Lippen kommt. Wissenschaft und Aktivismus – kann, soll, darf das zusammengehören?
Hinführung: Verwobenheit von Theologie & Aktivismus
Ein klares ‚Ja‘ gibt Rev. Dr. Robyn Henderson-Espinoza in „Activist Theology“ (2019).1 Aktivismus, so die These von Henderson-Espinoza, geht uns alle an: „There is no theology without activism, and there is no activist without theology“ (xiii). Dem Buch vorangestellt wird ein programmatisches Wort der Schriftstellerin und Aktivistin Gloria Anzaldúa: „Vale la pena; Do work that matters.“ Konkretisiert wird dieses Zitat innerhalb von acht Kapiteln, die sich unterschiedlichen Themen aus theologisch-aktivistischer Perspektive widmen. Dabei fließen immer wieder autobiographische Erfahrungen von Robyn Henderson-Espinoza als „mixed-raced Latinx“ (26) und queere Person ein (besonders eindrücklich in Kap. 4: „He [the father, C.H.] [was] seeking to shape and mold me into a Texas Republican. It made life challenging when I came out as a queer person […]. Perhaps I was protesting him and his death-dealing logic?“ (57)). Auch der Aufbau der einzelnen Kapitel bestärkt die These der Verwobenheit von Theologie und Aktivismus; jedes Kapitel schließt mit einem „Call to Action“. Die Vielfältigkeit von Aktivismus wird deutlich im abschließenden Teil, mit dem Kunst als Protestform anhand der Lyrik von Ree Belle, „an on-the-ground activist“ (119), veranschaulicht wird.
‚Activist Theology‘: Ein Definitionsversuch
Die Monographie beginnt, nicht ganz untypisch für (theologische) Publikationen im US-amerikanischen Raum, mit einer Selbstpositionierung. Robyn Henderson-Espinoza beschreibt sich selbst als „intellectual activist“ (1) und damit eine Form aktivistischer Arbeit, die nicht auf der Straße, „on the ground“ (2), stattfindet. Obwohl aktivistische Arbeit im Universitätsbetrieb tendenziell abgewertet oder kritisch gesehen wird, möchte Henderson-Espinoza den Aktivismusbegriff auch für die intellektuelle Arbeit reklamieren (2). Eine bloße Reflexion einer Theologie von und für Aktivist:innen darf hier also nicht erwartet werden (xiii).
Eine ‚Activist Theology‘ verortet Henderson-Espinoza ganz grundlegend an der Schnittstelle von Kirche, Wissenschaft und sozialen Bewegungen (6). Damit wird deutlich, dass eine ‚Activist Theology‘ nicht allein im akademischen Raum entsteht, was keineswegs mit dessen Bedeutungslosigkeit einhergeht: „[I]deas can create change“ (3).
‚Stories of Our People‘: Narrativer Zugang
Die Sicht- und Hörbarkeit marginalisierter Perspektiven steht im Fokus einer ‚Activist Theology‘, die aus dem Elfenbeinturm einer akademischen Theologie zu den „stories of our people“ (7) führen möchte. Auch wenn der Begriff ‚Activist Theology‘ neu erscheint, so ist das ‚Doing‘ einer ‚Activist Theology‘ keineswegs neu (1). Eine Vielfalt an ‚Stories‘ wird als eine Art Gegenentwurf zur weißen, eurozentrischen (theologischen) Wissensproduktion präsentiert (4): „Every theology has a story“ (35). Um die ‚top down‘-Wissensproduktion zu durchbrechen, spricht sich Henderson-Espinoza für Engagement in unseren (kirchlichen) Communities aus (5). Das Ziel einer kollektiven Befreiung wird an mehreren Stellen wiederholt und erinnert an ein Zitat der US-amerikanischen Bürgerrechtlerin Fannie Lou Hamer:
„Nobody is free, until everybody’s free.“
Wenn die Kirche kein Ort ist, an dem wir soziale Veränderungsprozesse anstoßen, dann gibt es noch einiges zu tun, resümiert Henderson-Espinoza (94).
‚Lo Cotidiano‘: Befreiungstheologische Perspektiven
Schon zu Beginn werden befreiungstheologische Anknüpfungspunkte hervorgehoben. Die theologische LatinoXa-Methode ‚Lo Cotidiano‘ (das Alltägliche) hängt stark mit der Bedeutung von narrativen Zugängen zusammen (4). Es ist daher kaum überraschend, dass mit Marcela Althaus-Reid für „doing theology without wearing any underwear“ (35) plädiert wird. Wir sollten, so Henderson-Espinoza, unsere Theologie laut auf den Straßen ausleben, statt uns im Elfenbeinturm zu verschanzen (81). Inkludiert ist dabei eine kritische Selbstreflexion: Mein ‚Lo Cotidiano‘ spiegelt nicht unbedingt die Lebensrealität und Herausforderungen marginalisierter Menschen wider (5). ‚Conscientization‘ (Bewusstseinsbildung) ist mithin ein weiterer Leitbegriff, den Henderson-Espinoza in Anlehnung an Paulo Freire als charakteristisch für eine ‚Activist Theology‘ deutet (5).
Ohne ein kritisches Bewusstsein für die Komplexität sozialer Ungleichheiten bleibt Aktivismus inhaltsleer.
‚Poetry of Protest‘: Ringen mit der Welt
„The struggle never wanes“ (51) klingt erstmal wenig mutmachend, und doch sieht Henderson-Espinoza gerade dieses Ringen als Anstoß für soziale Veränderung (43), die den Glauben an einen befreienden Gott einschließt: „God is in the struggle. God is in the change that is becoming“ (53). Protest als Hoffnungsträger ist vielfältig, und in den Fokus rückt besonders eine Form: „poetry of protest“ (61). Während (akademische) Theologie häufig theorielastig sei, könne Theorie durch Lyrik in eine Story überführt werden, die durch Reim und Rhythmus ein Bild des Denkens schaffe, das zum Einsatz (resp. Aktivismus) gegen soziale Ungleichheit mobilisiere (63). Die Bedeutung der (lyrischen) Arbeiten von Menschen „on the ground“ (120) ist für Henderson-Espinoza keine theoretische, sondern eine praktische Frage. Dementsprechend schließt auch die Monographie mit Gedichten von Ree Belle, um sich einem (theologischen) Denken anzunehmen, das in Geschichten des Ringens und der Hoffnung auf eine bessere Welt verortet ist (121). Ein Beispiel:
Black Fire
You Resist and rage,
in your rhyme is passion unheard
And in your step is a walk away from the
Disbelief that sits in the response of the oppressed
Yet lack in outrage at the things others should detest
Audacious claims and commentary
But none have stopped to hear your pain (129)
‚So what?‘: Ein Resümee
Ohne Zweifel ist das inhaltliche Anliegen einer ‚Activist Theology‘ angesichts der Zunahme sozialer Ungleichheiten von Bedeutung. Insofern ermuntert und ermutigt die Monographie zu einer kritischen Überprüfung des (eigenen) Theologietreibens. Wir sollten, so Henderson-Espinoza, die Frage nach dem „so what?“ in unser theologisches Denken einbeziehen (90). Aktivismus, der auch künstlerische Formen einschließt, wird als Durchbrechen des Schweigens charakterisiert: „Silence has always been a struggle for me“ (59).
Die Publikation kann zudem dazu ermutigen, den Blick auf Errungenschaften von Aktivist:innen, die in theologischen Arbeiten oft vergessen werden, zu lenken.
Interessant wäre eine kritischere Auseinandersetzung mit ‚Aktivismus‘. Der tendenziell unreflektierte Gebrauch von ‚Aktivismus‘ scheint zu suggerieren, dass Aktivismus per se positiv sei und keiner ethischen Legitimation bedürfe. Dies übersieht, dass auch aktivistische Ziele ethisch qualifiziert werden müssen.2 Inhaltliche Unschärfen zeigen sich ferner im inflationären Gebrauch von Ausdrücken wie „collective liberation“, der Gefahr läuft, dass die formulierten Ziele an Stärke und Bedeutung verlieren. Sehr vage bleiben zudem die theologischen Ausführungen, die sich tendenziell auf die Nennung von bekannten Allgemeinplätzen beschränken. Die Selbstbeschreibung als „intellectual activist“ (87) lässt offen, inwiefern damit nicht eine Hierarchie von Aktivist:innen produziert wird; ebenso wäre zu fragen, weshalb theologischer Aktivismus hier ausschließlich als intellektueller Aktivismus gelesen wird (87). Offenbar wird die Erweiterung des Aktivismusbegriffs auf intellektuellen Aktivismus nicht konsequent entfaltet. Die Hierarchie wird gewissermaßen umgedreht, wenn Henderson-Espinoza für eine Privilegierung von Aktivist:innen gegenüber Wissenschaftler:innen plädiert (7). Unklar bleibt, weshalb es eine solche Hierarchisierung braucht, wenn Wissenschaftler:in- und Aktivist:in-Sein zusammengedacht werden. Ähnlich kritisch ist m. E. die Ausblendung einer Theorie-Praxis-Dialektik, wenn allein Theorie den Ausgangspunkt bildet, die dann in die Praxis überführt werden muss (6/10/77).
Auch wenn nicht jede:r Theolog:in Aktivist:in und nicht jeder Aktivismus theologisch sein muss, so ist eine Sensibilität für die ‚Welt da draußen‘ und Engagement für die Mitgestaltung einer gerechten Welt auch (oder gerade) in der Theologie angemahnt. Zu Recht weist Henderson-Espinoza darauf hin, dass ein solches Engagement kein einmaliges Ereignis ist (109). Es geht nicht um Aktivismus um einzig des Aktivismus willen (55). Eine ‚Activist Theology‘ erhebt nicht den Anspruch einer neuen, eigenen Theologie, sondern ist vielmehr als Aufruf an uns Theolog:innen zu verstehen: „Do you want to be a revolutionary or a charlatan? What is your call and vocation?“ (29)
#ActivistTheology
Beitragsbild: Clay Banks auf Unsplash
1 Henderson-Espinoza, Robyn (2019), Activist Theology, Minneapolis: Fortress Press
2 Vgl.: Heimbach-Steins, Marianne (2022), Sozialprinzipien, in: Heimbach-Steins, Marianne/Becka, Michelle/Frühbauer, Johannes J./Kruip, Gerhard (Hg.): Christliche Sozialethik. Grundlagen – Kontexte – Themen. Ein Lehr- und Studienbuch, Regensburg: Verlag Friedrich Pustet, 170–186, 180.