In Tirol gibt es Fastnachtstraditionen, die wenig bis gar nichts mit Fasching oder Karneval zu tun haben. Ein Konglomerat aus Bräuchen, Ritualen, Regeln und Abfolgen, die in keinem Lehrbuch stehen und doch scheinbar immer schon da waren. Magdalena Collinet aus dem y-nachten.de Redaktionsteam hat sich heuer die Fastnacht in Telfs etwas genauer angesehen und bespricht ihre Erlebnisse mit dem passionierten Fastnachtler Jesse Grande.

Telfs, am 2.2.2025: Frühmorgens geht eine eigene Fastnachtsgruppe durch den Ort und trägt symbolisch eine Sonne mit sich. Die Sonne wird angebetet, dass sie doch gutes Wetter bringen möge – auf der Homepage zur Telfer Fastnacht wird berichtet, dass es dadurch nachweislich seit 1890 kein schlechtes Wetter bei einem Fastnachtsumzug in Telfs gab. Als Innsbruckerin fahre ich etwas skeptisch später am Vormittag durch den Nebel, aber siehe da, als der Umzug um 11 Uhr dann beginnt, strahlt die Sonne von einem wolkenlosen Himmel. Es folgen stundenlange Aufzüge von mehr als 10 Gruppen mit Wägen, Aufführungen, Musik und ganz viel Brauchtum. Ich hab irgendwann aufgehört zu zählen und versucht mich mitreißen zu lassen. Aber als Zuseherin und Nicht-Telferin werde ich wohl nie nachvollziehen können, was dort genau passiert und woher die Begeisterung für das alles kommt. Also hab ich einen echten Fastnachtler gefragt: Was macht ihr da eigentlich genau und wann beginnt das Spektakel?

Jesse Grande1: Am Josefitag des Vorjahres (19. März) findet eine Sitzung von allen Fastnachtlern statt und dort entscheidet man, ob man in die Fastnacht geht. Und dann beginnen bald alle mit den Vorbereitungen. Wägen werden gebaut und Aufführungen geplant. Eigentlich werden schon in den fünf Jahren davor Ideen gesammelt. Für jeden ist während der Vorbereitungen die Fastnacht das Wichtigste. Und das ist es eigentlich das, was mir am besten gefällt: Wenn Menschen etwas mit Leidenschaft machen und voll hinter der Sache stehen. Alle ziehen an einem Strang – das ist schon richtig cool. Die ganzen Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten und vielleicht – wenn man so will – gesellschaftliche Klassen, in denen wir im Alltag leben, alles wird gesprengt. Da sitzen dann diejenigen, die wenig verdienen, mit denen, die viel verdienen, am Tisch. Der eine ist ein Freiheitlicher und der andere ein Grüner und die trinken dann miteinander einen Schnaps. Wir haben eine gemeinsame Leidenschaft und die überschreitet alle Grenzen.

Magdalena: Und wann beginnt es dann so richtig? Wann gehen die Vorbereitungen über in die tatsächliche Fastnacht?

Jesse: Am Dreikönigstag wird der Naz ausgegraben – eine Puppe, die für die Zeit der Fastnacht die Geschäfte des Bürgermeisters bzw. die Leitung der Gemeinde übernimmt. Der Naz regiert in der Fastnacht. Und am Ende – am Faschingsdienstag am Abend – graben wir ihn wieder ein für fünf Jahre. Das wird ein trauriges Ereignis, alle beweinen das Ende der Fastnacht. Aber wenn ich ehrlich bin: Die Fastnacht ist auch hart. Es ist eine wunderschöne Zeit, aber es ist sehr anstrengend. Ich brauch dann schon wieder die fünf Jahre, dass ich wieder die körperliche Fitness erreiche, um in die Fastnacht zu gehen.

Magdalena: Kannst du mir erklären, woher die Fastnacht kommt?

Jesse: Ich glaub, dass es aus einem kalendarischen Fehler kommt. Vor der gregorianischen Kalenderreform gab es keinen richtigen Kalender – das Jahr ist sich sozusagen nie ausgegangen und deshalb gab es Tage (rund um den Jahreswechsel) ohne Datum. In jedem gängigen Rechtsverständnis braucht man für ein Delikt ein Datum und daher war es eine gesetzlose Zeit. Und das ist es heute auch noch. Aber eigentlich wissen wir nicht, woher das alles kommt, weil die Fastnachtler selbst keine Aufzeichnungen gemacht haben. Es soll auch nicht zu viel festgehalten werden, sondern das ist alles mündliche Tradition. Und es handelt sich dabei auch um eine massive Gesellschaftskritik.

„Weil oans sag i da nämlich scho, wir ham da jetzt an Monat lang Anarchie khab und es hat niemand gschlägert, es ham alle gschafft, es sind alle guat auskemmen und die Leit ham aufeinander aufpasst. Und wenn oana mal drüber war und nimma hoamgfunden hat, dann hat ma ihn hoambracht. Die Leit helfen zamm!“2

Es ist eine unheimlich friedliche und eine gesetzlose Zeit. Es ist ein Beweis dafür, dass wir zentralisierten Zwang nicht brauchen. Also wir habe in Telfs keine Polizei gebraucht in der Zeit – wir sind allein ausgekommen.

Magdalena: Das ist natürlich eine schöne Utopie, die du da zeichnest und die ihr lebt. Aber darauf muss ich dann schon auch kritisch antworten und sagen, ihr lebt da eine Utopie ohne Frauen. Denn immer wenn von der Telfer Fastnacht die Rede ist, kommt relativ schnell die Feststellung: In die Fastnacht gehen nur Männer. In jeder Gruppe sind nur Männer dabei – und verkleiden sich dann teilweise als Frauen. Sogar die Musibanda, in der du bist, besteht nur aus den männlichen Mitgliedern der Marktmusikkapelle Telfs. Wo sind die Frauen in der Geschichte?

Jesse: Es ist schon so, dass die Frauen ganz präsent sind in der Zeit und ganz wichtig sind. Jede Gruppe hat zum Beispiel ihre Gotl3, die sie unterstützt und dafür viel Anerkennung bekommt. Die Frauen helfen bei unterschiedlichsten Sachen mit. Die Schleicher zum Beispiel – die Kerngruppe der Telfer Fastnacht und namensgebend für das Schleicherlaufen – werden von ihren Frauen angezogen. Unterstützend sind Frauen also sehr viel beteiligt.

Magdalena: Das wäre mir zu wenig – unterstützend tätig sein. Und ich finde, das ist Augenauswischerei. Es ist doch verständlich, wenn Frauen auch vorne mit dabei sein wollen.

Jesse: Mein Zugang zu dem ganzen ist, dass Frauen ja nicht verboten ist, dass sie auch eine Fastnacht machen. Ich find das sogar cooler, wenn Frauen ihr eigenes Ding machen. In Imst gibt’s zum Beispiel eine Weiberfastnacht. Frauen als Fastnachtlerinnen gibt es schon in einigen Dörfern, aber das ist halt erst später entstanden, das hat keine alte Tradition. Bei uns ist es eine sehr alte Tradition, die man übernimmt und da übernimmt man halt auch gewisse…

Magdalena: Diskriminierungen?

Jesse: Regeln. (lacht)

Magdalena: Aber was mich dann wiederum beim Fastnachtsumzug genervt hat, waren die „sprechenden Gruppen“ (diese nehmen in einem kurzen Theaterstück die Politiker*innen und gesellschaftliche Themen auf’s Korn), die als beinahe einziges Thema Witze über’s Gendern gemacht haben. Und da stehen dann Männer in Frauenkleidern, die teilweise so schön geschminkt sind, dass sie nicht als Cis-Männer zu erkennen sind und schimpfen über Gendern und über Queerness!

Jesse: „Des stimmt und damit isch des eigentlich a schu fertig gredt, weil für mi isch des ganze a a Parodie auf de was schimpfen.“4 Eigentlich werden dort auch die Stammtischparolen parodiert.

Magdalena: Und diese Männer stellen die Stammtischparolen auch förmlich dar. Mir kommt vor, sie parodieren sich da auch selbst. Aber gut, belassen wir es dabei. Ich würde gerne noch über eine Gruppe reden – nämlich die Wilden. Diese Figuren sind vollkommen mit Baumbart (eine Flechte, die von Bäumen herabhängend wächst) bekleidet und tragen eine Maske, eine sogenannte „Larve“. Und die Wilden ziehen den „Pånznåff“ in einem Fass mit. Der „Pånznåff“ sieht ein bisschen aus wie ein Clown, er schlägt mit Tschinellen und zeigt dem Publikum die Zunge. Über diese Figur wird vor und während der Telfer Fastnacht aber wohl am meisten diskutiert. Der „Pånznåff“ ist die zweitwichtigste Figur neben dem Naz. Er zeigt nicht nur dem Publikum, sondern hauptsächlich den Regierenden – den Landeshauptleuten – und damit der Staatsmacht die Zunge. Um die Zunge weiter rausstrecken zu können, werden ihm im Vorfeld zwei der unteren Schneidezähne gezogen. Warum?

Jesse: Das ist ein Opfer. Ich glaube, dass viele von den Traditionsfastnachten in ihrem Kern Opferkulte sind. Durch das Opfer wird die Zeit auch gut abgeschlossen. Mehr kann ich dazu nicht sagen – es ist halt so. Darüber gibt es auch viele Presseberichte und Kritik.

Magdalena: Es ist also eine Art von religiösem Kult?

Jesse: Auf jeden Fall hat es mit Religion zu tun, aber kommt aus einer vorchristlichen Zeit und wir wissen wenig über die Ursprünge.

Magdalena: Ich finde ja, die sogenannte fünfte Jahreszeit zeigt uns wie gegensätzlich das Leben sein kann. Also Faschingsdienstag und Aschermittwoch sind zwei Tage, die gegensätzlicher nicht sein können. Der eine Tag ist laut und bunt – der andere ruhig und mit dem Aschekreuz auch grau.

Jesse: Ja, genau. Diese Gegensätze sind wichtig für das menschliche Leben. Und da fällt mir noch was ein: Eine Sache erzähl ich dir noch! Am Aufführungstag gehen wir von der Musibanda mit den Wilden durch den Ort, in der Früh. Es war da noch sehr ruhig, der Nebel hing zwischen den Häusern und vor der Tabaktrafik stand auf einmal die Gotl von den Wilden alleine da. Und es ist so, dass alle Gruppen eine Form haben, wie sie ihre Leute hochleben lassen und die Wilden haben einen „Wilden Schroa“ (einen Schrei oder Ruf). Schreien ist da der falsche Begriff, sie lassen „an Schroa oh“.

„Und de Mander ham ålle die Gotl gsechn und håm ålle ihren Schroa ungfongen. Und echt, mir hat’s die Ganslhaut augstellt, des hat mi so berührt. De ham ihr Gotl gsegn und nåchand is da die ganze Emotion aus de Manda ausakemmen.“5

Für mich hat das auch mit Ekstase zu tun. Wann darf man das schon? Alle rufen das gleiche aus und zwar aus voller Brust. Jeder holt richtig Luft und gibt alles! Und das darf und tut man nie – außer vielleicht man ist Sänger in einer Metal-Band. Und ich glaub auch, dass der das Mensch braucht. Wenn er das regelmäßig tut, dann hat er nicht das Bedürfnis, Gewalt auszuüben. Wir haben etwas in uns drin und das muss man rauslassen – deshalb wurden ja diese Rituale geschaffen.

Magdalena: Also dein Wunsch für die Welt: „Låssts manchmal an Schroa oh und dann geht’s euch besser!“

 

Hashtag der Woche: #Schroa


(Beitragsbild: Magdalena Collinet)

1 Jesse Grande ist hauptberuflich Musiker und Seelsorger bei der Katholischen Jungschar in der Diözese Innsbruck. Nur während der Fastnacht alle fünf Jahre ist er hauptsächlich Fastnachtler. Wer sich für seine Arbeit interessiert, findet Infos unter https://jessegrande.at.

2 Manche Ausdrücke von Jesse werden im Sinne der Authentizität im Dialekt widergegeben. Sinngemäße Übersetzung: Wir hatten nun einen Monat lang Anarchie und es ist nichts passiert, alle haben aufeinander aufgepasst.

3 Gotl = (Tauf-)Patin

4 „Damit ist das eigentlich schon geklärt, weil für mich ist das auch eine Parodie auf diejenigen, die schimpfen.“

5Sinngemäß: Die Wilden haben einen speziellen Schrei oder Ruf, den sie in dem Moment alle gemeinsam – und ohne ein Zeichen oder Abmachung – für ihre „Gotl“ gemacht/vollführt haben.

magdalena collinet (sie/ihr)

hat das Studium Lehramt für Volksschulen in Stams und der Katholischen Religionspädagogik in Wien und Innsbruck abgeschlossen. Sie ist Leiterin des Frauenreferats der Diözese Innsbruck und arbeitet an ihrem PhD in Pastoraltheologie an der Uni Innsbruck.

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