Wie viel Verletzlichkeit verträgt der Diskurs? In seiner Rezension von Frauke Rostalskis neuestem Buch, „Die vulnerable Gesellschaft. Die neue Verletzlichkeit als Herausforderung der Freiheit“, beleuchtet Dr. Andreas Heek die spannungsgeladene Balance zwischen Schutz und Freiheit. Was bedeutet dies für den innerkirchlichen Dialog und wo liegen die Grenzen eines offenen Diskurses?

Offensichtlich trifft Frauke Rostalski einen Nerv in Bezug auf das derzeitige gesellschaftliche Diskursverhalten. Die vierte Auflage des 2024 erstmals erschienen Buches, das im selben Jahr auch für den Sachbuchpreis nominiert war, spricht jedenfalls dafür. Gefühlt ist Vulnerabilität derzeit in aller Munde: Die einen sprechen in Auseinandersetzungen ziemlich schnell von Übergriffigkeiten, die verletzlich auf den:die Adressat:innen wirkten, die anderen werfen diesen wiederum reflexhaft vor, überempfindlich zu sein.

Die Autorin geht folgendermaßen vor: Im ersten Kapitel stellt sie ihre Hauptthese vor, indem sie Vulnerabilität und Reslilienz als zwei Seiten einer Medaille gegenüberstellt. Als Rechtsphilosophin legt sie im zweiten Kapitel dar, welche schwierige Rolle der Staat im Vulnerabilitätdiskurs einnimmt. Im dritten Kapitel faltet sie bestimmte rechtsbewehrte, Vulnerabilität betreffende Phänomene aus, die die Freiheitsspielräume einschränken. Im fünften Kapitel weitet sie ihre Argumentation auf ein zunehmend empfindlicher werdenden gesellschaftliches Diskursverhalten aus, bevor sie im letzten Kapitel zusammenfassend noch einmal den unbedingt zu lösenden Knoten zwischen Vulnerabilität und Freiheit anmahnt.

Eine juristische Perspektive auf Vulnerabilität und Freiheit

Mitten in diesen Diskurs setzt die Kölner Professorin für Strafrecht und Rechtsphilosophie an. Ihre Argumentation folgt einer juristischen Perspektive. Das ist höchst interessant, aber auch ein spezieller Blick auf das Phänomen. Ihre Kernthese lautet: Je mehr der Staat gesetzlich versucht, Vulnerabilitätsgefahren abzumildern, umso stärker sind die Freiheitsverluste für alle, auch für diejenigen, denen der helfende Staat zur Seite stehen will: die Vulnerablen. Gesetze ermöglichen Freiheit und schränken sie gleichzeitig ein. Je weniger Gesetze nötig sind, desto mehr Freiheit ist möglich, so sieht es die Rechtsphilosophin Rostalski.

Im Übrigen erinnert sie daran, dass Vulnerabilität zwar zum Proprium des Menschseins gehört, aber genau diese Selbsterkenntnis den Menschen auch ermutigen kann, resilient gegen Verletzungen zu werden. Je resilienter Menschenwürden, so Rostalski, umso weniger könnten andere Menschen sie verletzen und umso größer bleibt der Freiheitsraum für alle.

Das Dilemma zwischen Schutz und Freiheit

Dennoch gibt es keine einfachen Lösungen für die beschriebenen Probleme. Rostalski beschreibt präzise und in gut verständlicher Sprache, dass die Rechtsprechung und die ihr zugrundeliegende Gesetzgebung vor einem Dilemma stehen. Das Recht begrenze nicht nur Freiheit, sondern verhelfe auch marginalisierten Minderheiten zu mehr Freiheit. Es müsste also eine Balance gefunden werden zwischen berechtigten, die Würde des Menschen wahrenden Ansprüchen Vulnerabler und den ebenfalls gewichtigen Freiheitsansprüchen aller anderen Bürger:innen. Fünf Jahre nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie gebe es beispielsweise immer noch keine gesellschaftliche Übereinkunft darüber, wer recht gehabt hätte während der Akutzeit der Pandemie: Team Freiheit oder Team Sicherheit. Waren die Einschränkungen notwendig zur Bewahrung der Integrität der Bürger:innen oder schränkten sie diese in ihrer Freiheit ungehörig ein? Schützten die Maßnahmen die Schwachen oder machten sie die Menschen erst schwach? Ja tatsächlich, Vulnerabilität ist eine komplexe Angelegenheit.

Diskursvulnerabilität und die Gefahr der moralischen Grenzziehung

Nachdenklich stimmen auch Rostalskis Analysen über die von ihr so bezeichnete „Diskursvulnerabilität“ Darunter versteht sie  „eine besondere Verletzlichkeit in der gegenseitigen Kommunikation, die auf ganz unterschiedlichen Gründen beruhen kann […] Dabei kann es angesichts einer Konjunktur allgemeiner Vulnarbilitätszuschreibungen alles andere als überraschen, wenn sich dieser Trend einer verstärkten Empfindlichkeit in der Art und Weise niederschlägt, wie die Gesellschaft miteinander kommuniziert“ (S. 106). Eine demokratische Gesellschaft lebe von Diskussionen, von der Auseinandersetzung, vom Ringen um das bessere Argument. Wird aber in einem solchen Aushandlungsprozess zu schnell eine moralische Linie mit Bezug auf die Vulnerabilität der Beteiligten oder im Namen von Vulnerablen gezogen, würden, so Rostalski, offene Diskussionen eingeschränkt, und somit auch die demokratischen Aushandlungsprozesse. In ihrem vehementen Plädoyer für einen möglichst freien Austausch von Gedanken ist ihr hingegen auch bewusst, dass es in solchen Diskursen Grenzen des Sagbaren gibt. Doch wo genau liegen diese Grenzen? Eine eindeutige Antwort darauf kann Rostalski letztlich nicht geben. Dennoch ist der Hinweis essenziell, dass eine vollständige Vermeidung von Verletzungen nie ausgeschlossen werden kann. Würde das höchste Ziel einer Gesellschaft der Ausschluss jeglicher Verletzlichkeit sein, wäre ein freier Diskurs nicht mehr möglich. In demokratischen Gesellschaften ist genau dieser jedoch konstitutiv. Folgt man Rostalskis Gedankengang, so kommt eine demokratische Gesellschaft nicht umhin, Verletzung in Kauf zu nehmen als Preis für den freien Austausch von Ideen. Die Grenzen von Freiheit liegen in dem, was man altmodisch vielleicht Anstand nennen könnte.

Lehren für innerkirchliche Debatten

Dieses ausgesprochen wichtige Buch gibt Anlass, auch die innerkirchlichen Debatten unter dem Aspekt einer möglicherweise überbetonten Vulnerabilität zu betrachten. Diskursteilnehmende werden – so ließe sich Rostalskis Argumentation auf die kirchliche Debatte übertragen – dazu aufgefordert, die persönliche Vulnerabilität nicht als Waffe zur Durchsetzung eigener Positionen einzusetzen. Machtvolle Diskurshoheit wird nicht nur durch das kirchliche Lehramt ausgeübt, sondern mitunter auch von Personen oder Gruppen, die ihre eigene Vulnerabilität in moralisch überhöhter Weise und zum Teil mit großer Reichweitenstärke in sozialen Medien zum Ausdruck bringen. Das Schlimme daran ist noch nicht einmal die Vergiftung des Diskurses selbst, die kontroverses Sprechen immer schwerer macht. sondern wenn sich eine moralisch im Recht wähnende Macht von Vulnerablen auf die tatsächliche Macht einer in demokratischen Diskursverfahren ungeübten Kirchenführung trifft. Dann kommt es zu Verhärtungen, Polemiken und sogar zu Gesprächsabbrüchen auf beiden Seiten. Dabei könnte am Ende genau das verloren gehen, was für kirchliches Handeln essenziell ist: kompromisslos auf der Seite der Schwachen zu stehen.

Was hilft?

Was hilft in solchen Situationen? Wenn jede Person im Diskurs sich selbst etwas zurücknimmt, ist bereits viel gewonnen. Wenn darüber hinaus wohlwollendes Zuhören und das ehrliche Zugehen auf den:die andere:n möglich werden, ist die Grundlage für einen produktiven Diskurs gelegt – einen Diskurs, der kreative Lösungen für komplexe Probleme finden kann. Frauke Rostalski ist für die nachdenklichen Analysen zu danken und dafür, dass sie sich nicht scheut, für alle Seiten Unbequemes ausgesprochen zu haben.

Hashtag der Woche: Vulnerabilität

(Beitragsbild: Saad Chaudhry)


Die Redaktion dankt dem Verlag für die Bereitstellung des Buches zur Rezension: Rostalski, Frauke: Die vulnerable Gesellschaft. Die neue Verletzlichkeit als Herausforderung der Freiheit, München (C.H.Beck) 42025.

 

dr. andreas heek

Leiter Arbeitsstelle Männerseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz und Koordinator der Bundesarbeitsgemeinschaft der Queerbeauftragten in den Deutschen Diözesen.

One Reply to “Booked: Die vulnerable Gesellschaft”

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