Am 01. Februar findet seit 2013 der jährliche „World-Hijab-Day“ statt. Zainab Baluch beleuchtet das Rollenbild „der muslimischen Frau“ im Spannungsfeld von Tradition, Interpretation und digitalen Debatten.
Die muslimische Frau und ihre Rolle im Islam sind seit Jahrhunderten Gegenstand vieler gesellschaftlicher sowie theologischer Diskussionen. Die Wahrnehmungen und Positionen der muslimischen Frau haben von den kulturellen Traditionen bis hin zu den theologischen Auslegungen und den modernen Herausforderungen des digitalen Zeitalters etliche Facetten. Jedoch lässt sich vor allem durch den Aufschwung digitaler Medien eine etwas einseitige und von Männern dominierende Sicht nicht untergraben. Eine neue Welle selbsternannter „Online-Gelehrter“ formuliert strikte Vorstellungen darüber, wie muslimische Frauen zu sein und zu leben haben.
Die Entstehung der Kluft: strukturelle und gesellschaftliche Einflüsse
Doch woher stammen diese geschlechtsspezifischen Wahrnehmungen? Diese sind keine Erfindung des Islams, sondern existierten bereits davor im 7. Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel und gehen auf diverse Begebenheiten, wie weibliche Kindstötung, Heiratsmuster und männliche Überlegenheit zurück. Jedoch verschwand dieses geschlechterspezifische Gedankengut nicht mit dem Aufkommen und der Weiterentwicklung des Islams.
Die Kluft, die zwischen den Frauen und Männern in den vorislamischen und lokalen Kulturen entstand, verfestigte sich im muslimischen Denken und trug sich bis in die Gegenwart.1
Die Frau in der islamischen Gelehrsamkeit: Einfluss und Ausschluss
Trotz der bedeutenden Rolle, die Frauen in der frühen islamischen Gesellschaft spielten, war ihre Stellung im späteren Verlauf der islamischen Gelehrsamkeit von erheblichen Einschränkungen geprägt. Auch durch die Expansion der islamischen Welt, dem wirtschaftlichen Wachstum dieser sowie politscher Veränderungen blieben gesellschaftliche Strukturen – darunter die Stellung der Frau – überwiegend erhalten. Durch die Etablierung einer theologisch-rechtlichen Ordnung vom neunten bis zum vierzehnten Jahrhundert wurden die Ansichten über Geschlechterrollen verfestigt. Die Absonderung der Frauen aus dem öffentlichen Leben und ihre Einschränkung in die häuslichen Bereiche,– was sowohl theologisch als auch juristisch legitimiert wurde – wurde deutlich sichtbar.2
Was jedoch die erste Generation der Muslim*innen anbelangt, so wird ersichtlich, dass Frauen aktiv zur islamischen Gelehrsamkeit beitrugen und auch deren unmittelbare Nachkommen keine Schwierigkeiten damit hatten, Frauen als Autoritäten anzuerkennen.3
Bedeutende muslimische Frauen wie ʿĀ’ischa bint Abī Bakr und Ḥafṣa bint ‘Umar – zwei der Frauen des Propheten – galten als Beraterinnen und Expertinnen der göttlichen Botschaft und der Praktiken des Propheten.4 Trotz wichtiger weiblicher Persönlichkeiten im Islam, blieb die islamische Theologie stark von männlichen Gelehrten dominiert. Dies führte dazu, dass Frauen oft auf spezifische Rollen festgelegt wurden und somit kaum an der theologischen Wissensproduktion Teilhabe hatten. Infolgedessen fungierten Frauen nicht als aktive eigenständige Akteurinnen, sondern als Objekte männlicher Interpretation.5
Mubāhala6 : Ein historisches Beispiel weiblicher Beteiligung
Ein Beispiel für die Beteiligung muslimischer Frauen an theologischen und gesellschaftlichen Debatten liefert die folgende Szene der Mubāhala:
„Und wenn jemand mit dir über diese (Wahrheit) streiten sollte, nach all dem Wissen, das zu dir gekommen ist, sag: ,Kommt! Laßt uns unsere Söhne und eure Söhne und unsere Frauen und eure Frauen und uns selbst und euch selbst rufen; und dann laßt uns (zusammen) demütig und inbrünstig beten, und laßt uns Gottes Fluch erflehen auf jene (von uns), die lügen‘“ (3:61).7
Dieser Koranvers behandelt die Szene der Mubāhala, bei der ein öffentlicher Disput zwischen den Muslim*innen und einer christlichen Delegation des Stammes Naǧrān8 über die wahre Natur von Jesu stattfand. Hierbei brachte der Prophet seine Familie – darunter auch seine Tochter Fatima – mit, um das göttliche Urteil über die Wahrheit der jeweiligen Aussagen zu erbitten. Diese Szene verdeutlicht, dass der Prophet selbst die Frauen nicht nur in religiöse, sondern auch politische und soziale Angelegenheiten miteinband.9
Feministische Koraninterpretation: Neue Perspektiven auf alte Texte
Asma Lamrabet kritisiert, wie Muslim*innen an traditionellen Deutungen und Exegesen, die vor Jahrhunderten verfasst wurden und oftmals in Bezug auf die Frau stark vom Literalismus geprägt sind, festhalten. Sie betont, wie der Text einen derartigen Interpretationsspielraum bietet, der es jeder gesellschaftlichen Realität erlaubt, sich in diesem wiederzufinden. Und genau hier kommt eine Neuinterpretation des Korans aus weiblicher Perspektive in Frage. Denn diese erlaubt es Frauen ihre Stellung in der gesellschaftlichen und theologischen Entwicklung eigenständig zu konstruieren und als aktive Partnerinnen an Reinterpretations- und Reformprozessen teilzunehmen.10
Muslimische Frauen als Akteurinnen: Der Kampf um Deutungshoheit
So haben zahlreiche muslimische Frauen trotz der Herausforderungen begonnen ihre Rolle in der Gesellschaft neu zu interpretieren und sich aktiv in die Theologie einzubringen. Darunter beispielsweise Amina Wadud, Asma Lamrabet und Asma Barlas, die für eine differenzierte Lesart der islamischen Texte eintreten.11
So wird argumentiert, dass viele traditionelle Koraninterpretationen von männlichen Exegeten erfolgten und somit oft von ihren kulturellen und sozialen Normen geprägt seien.12
Die digitale Welt: Ein Mittel zur Emanzipation oder Reproduktion patriarchaler Strukturen?
Nun stellt sich die Frage, ob mit dem Aufkommen sozialer Medien diese männliche Deutungshoheit verstärkt wird. Einerseits ermöglichen Plattformen wie Instagram und Youtube muslimischen Frauen sich aktiv an Debatten zu beteiligen. Vor allem ist seit den 1960er-Jahren während der „Islamic-Revival-Bewegung“13 eine starke Beteiligung von Frauen in der Da’wa14 -Szene sichtbar.15 Andererseits verstärken dieselben Plattformen auch die konservativen Narrative, die den Bemühungen der Frauen entgegenstehen und die traditionellen Geschlechterrollen weiter festigen.16 Dies zeigt, dass der digitale Raum sowohl ein Mittel der Emanzipation als auch ein Werkzeug zur Verfestigung konservativer Strukturen sein kann.
Hashtag der Woche: #WorldHijabDay
(Beitragsbild: sofdoug)
1 Vgl. Anwar 2008: 16f.
2 Vgl. Stowasser 1994: 7f.
3 Vgl. Ahmed 1992: 47.
4 Vgl. Decker 2013: 384ff.
5 Vgl. Anwar 2008: 19f.
6 Bei der Mubāhala auch bekannt unter dem Namen „Ordalie“ (aus dem Französischen) handelt es sich um einen alten Brauch, bei dem sich die beiden gegnerischen Parteien gegenüberstanden und in einem verbalen Duell ihre eigenen Behauptungen entgegenschleuderten. Sie riefen dabei die göttliche Gerechtigkeit an, um im Sinne eines Gottesurteils die Wahrheit erkennen zu können, die jedoch nur einer der Parteien zugunsten kommen konnte. (Vgl. Lamrabet 2016: 102).
7 Asad 2009: 118.
8 Naǧrān ist eine Stadt im südwestlichen Saudi-Arabien.
9 Vgl. Lamrabet 2016: 58ff.
10 Vgl. ebd.: 13.
11 Vgl. Barlas 2002 & Wadud 1999: 19.
12 Vgl. Barlas 2002.
13 Die „Islamic-Revival-Bewegung“ bezeichnet eine Bewegung, die in den späten 1970er und frühen 19080er-Jahren an Bedeutung gewann. Das Ziel war es, die Rolle des Islams als grundlegendes Element in der Gesellschaft zu betonen. Diese „Rückbesinnung auf die religiösen Prinzipien“ kann als eine Reaktion auf die Herausforderungen der Moderne betrachtet werden. Hierbei wird eine Rückkehr zu den Wurzeln des Islams angestrebt, die den säkularen Einflüssen und der westlichen Dominanz entgegenwirkt. (Vgl. Babeair 1993: 6.)
14 Der Begriff „Da’wa“ wird häufig mit „Propagierung des Glaubens“, „Zeugnis ablegen“ oder „Missionierung“ übersetzt. Ursprünglich bedeutet dieser Begriff jedoch „rufen“ oder „einladen“. Somit kann dies als eine Einladung zum Islam für Nicht-Muslim*innen als auch eine Ermahnung von Muslim*innen, sodass diese ein tugendhaftes Leben führen, verstanden werden. Die Da’wa als Form der Einladung an Nicht-Muslim*innen war vor allem in der Frühgeschichte des Islams von besonderer Bedeutung. Jedoch wurde der Fokus im Lauf der Zeit, insbesondere während der Kolonialzeit und der Entstehung modernen Staaten auf die „Ermahnung“ von Muslim*innen gelegt. Denn diese sollten ihre religiösen Pflichten ernst nehmen. (Vgl. Moore 2014: 268ff.)
15 Vgl. Malli 2024: 468ff.
16 Vgl. ebd.: 345ff.