Am 09. Februar findet in New Orleans der Superbowl LIX statt. Zur Zeit der Verfassung des Artikels ist noch nicht klar, welche Mannschaften antreten werden, die Gestaltung der Halftime-Show hingegen steht schon länger fest: Kendrick Lamar wird als erster Rapper alleiniger Headliner sein (SZA wurde letzte Woche als Gast angekündigt). Laurin Ernst zeigt auf, weshalb es sich bei Kendrick Lamar um einen Theologen handelt und warum die Halftime-Show ein Ereignis sein wird, das man sich nicht entgehen lassen sollte.

Vom „Du“ und „Ich“

Ich war schon Hip-Hop affin, als ich in Beziehung zu Kendricks Kunst trat. Ich war schon Theologiestudent, als ich mich das erste Mal einschneidend bewusst in einer Depression wiederfand. Als depressive Person Theologie zu studieren, kam mir wie ein schlechter Scherz vor: So nah dran an all den Quellen, die in Beziehung zum vermeintlichen Sinn des Lebens stehen, und doch unendlich weit getrennt vom eigenen Gefühl einer Ahnung davon. 2020 also trat ich in Kontakt mit „To Pimp a Butterfly“. Ich weiß nicht wie viele Monate ich dieses Album mindestens einmal am Tag hörte, aber mein Spotify Wrapped sah dementsprechend aus. Auf dem Song „u“ findet sich Kendrick am Tiefpunkt seiner Verzweiflung wieder – Seine Selbstzweifel, Verlorenheit und Wut werden zum Spiegelbild. Es hatte allein schon etwas Heilsames, diesen Emotionen beiwohnen zu dürfen. Ehrlicher Schmerz. Nicht allein zu sein. Ein paar Songs später folgt der Titel „i“ – eine Ode an die Selbstliebe, ein Gottvertrauen, eine leidenschaftliche Verpflichtung an den Widerstand, für das Leben. Ich fragte mich: „Wie kamst Du dorthin? Und wenn Du das kannst, kann ich das vielleicht auch?“

Die Rolle von Kunst in der Gesellschaft, ihre politische Dimension, darüber wurde schon zuhauf geschrieben. Aber Kunst ist kein statischer Gegenstand. Kunst wird getan, Songs werden gesungen, Menschen erfahren etwas, tun etwas. Hip-Hop steht als Teil der amerikanischen Geschichte als eine Form des Widerstandes Schwarzer Menschen in diesem besonderen rassistischen System in der Genealogie zu den Spirituals der versklavten Menschen, zum Blues, zu Jazz, Gospel, Soul. In einer Welt, in der die wesentliche Existenz von den gewaltvoll herrschenden hegemonialen Machtverhältnissen verneint wird, ist die Manifestierung der eigenen Innenwelt ein Trotz, ein Widerspruch, Widerstand. Was können wir Theolog:innen noch mehr verlangen, bevor wir etwas für den Raum unserer Hörsäle als würdig erachten?

Gott in der m.A.A.d. City – Stimmen des Widerstands

James H. Cone schreibt in „Spirituals and the Blues”1 darüber, wie letztere Kunstform als vermeintlich säkular verstanden wird, aber doch genau jenen besonderen spirituellen Raum bot für Klage, Leid, und Melancholie, der sich nicht durch falsche Hoffnungsversprechen vertrösten lassen kann. Er beschreibt im Blues eine mystische Dynamik. Darin erinnert er fast mehr an die Spirituals, die durch ihre bemerkenswerte Fähigkeit ausgezeichnet sind, Klage, Leid und Hoffnung allesamt in sich aufzunehmen. Darin steckt ein Gott, die in genau dieser Lebendigkeit, in all dessen Widersprüchlichkeit und Verworrenheit, ihr „Ja“ gibt. Kendrick wurde 1987 in Compton, Kalifornien geboren. Ganggewalt, Drogen, Substanzmissbrauch – eine Jugend der Erwartung eines frühen Todes.2 Die rassistischen Mechanismen Amerikas verschwanden nicht mit der Beendigung der Rassentrennungsgesetze, sie veränderten sich nur. Die Worte von W.E.B. Dubois können auch in Kendricks „Good Kid, M.A.A.d. City” noch widerhallen: “Why did God make me an outcast and a stranger in my own house?”3

Der als Mystiker betitelte Schwarze Theologe Howard Thurman wurde 1899 in Florida geboren und nahm im Civil Rights Movement die Rolle eines Seelsorgers, u.a. für Martin Luther King Jr., ein. Sein Grundlagenwerk „Jesus and the Disinherited“4 verdeutlicht, dass Gott nicht nur Mensch wird und sich an die „Enterbten“ wendet, jene in der Gesellschaft mit dem „Rücken zur Wand“, sondern er wird selbst zu einem solchen Menschen. „Die Enterbten“ der Gesellschaft sind nicht nur Adressat:innen, sondern Subjekte der Offenbarung. Die Konsequenz, die ich für mich selbst daraus als Theologe ziehe: Theologische Forschung muss als sekundäre Praxis verstanden werden, ich als Forscher werde Schüler von Ereignissen, Wissenssystemen und Praktiken, über die ich nicht verfügen kann. Das irritiert, das fordert heraus, das stellt einen selbst immer wieder neu vehement in Frage. Das ist Theologie. Transformativer Widerstand. Theologie muss, von ihrem Gegenstand her gedacht, selbst eine Befreiungspraxis sein. In ihrer Form als akademische wird sie wohl immer eine privilegierte Praxis bleiben, aber wenn ihr leidenschaftlicher Selbstvollzug vor diesem Hintergrund selbst-dekonstruktiv wirkt, soll es auch recht sein.

„Mr. Morale and the Big Steppers“ als Theologie narrativen Widerstandes

2022 erschien Kendrick Lamar’s „Mr. Morale and the Big Steppers”. Wenn ihr eine Stimme hören wollt, die in der Wirklichkeit ihrer kommunalen Leidensgeschichte sich selbst auf intimste Suche nach Heilung und Transformation begibt, ohne etwas schönzureden – eine „Theologie des Gesichtverlierens“5, eine Christologie des Göttlichen in jedem Individuum skizziert, um am Ende einer eigenen so großen Leidensgeschichte wie black trauma gegenüberzustehen und zu verkünden: „This is transformation!“6 – setzt euch mit diesem Album hin. Das ist Unterbrechung nach Metz, das ist narrativer Widerstand im Sinne einer Theologie der Befreiung, das ist Mystik, das ist Spiritualität, so essenziell und doch ganz real in der Welt, verwoben in Geschichte, Kultur, Politik. Kendrick ist nicht im Music Business, sondern im „Human Business“7.

Also, eine Bitte von mir an meine „fellow Kartoffel-Theolog:innen“:

Ich erzähle von Kendrick, weil es mich nicht in Ruhe lässt, dass ein solcher Körper von Kunst in der Welt existieren und wirken kann, ohne dass wir alle unsere Köpfe danach umdrehen. Dass Black Theology in Deutschland und viel mehr noch Hip-Hop in der deutschen Theologielandschaft, so wenig Raum besitzen, ist nicht die Schuld von Black Theology oder Hip-Hop. Was ist also mit unserer „Mystik der offenen Augen“? Hat sie schon begonnen, zu hören? Schaut euch Kendricks Halftime-Show an. Hört ihm zu, seht zu, was da passiert. Wenn die Fremdheit euch dabei in Impulsen von Ablehnung überkommt, setzt euch Ihnen aus. Und wenn ihr einfach nichts versteht, dann seid beruhigt: Es gibt unfassbar viel zu lernen, und das ist schön.

 

Hashtag der Woche: #kendricklamar


(Beitragsbild @Lost Places Spiegel Bild – Kostenloses Foto auf Pixabay)

[1] James H. Cone, The Spirituals and the Blues. An Interpretation, fiftieth anniversary edition, Maryknoll NY: 2022.

[2] Siehe die persönliche Anekdote Lamars im Kontext seines Songs „Sing About Me, I’m Dying of Thirst“: https://genius.com/1144878 (21.01.2025).

[3] W.E.B. Dubois, The Souls of Black Folk, Boston: 2022, S. 3.

[4] Howard Thurman, Jesus and the Disinherited, Boston 2022.

[5] Titel meiner Magisterarbeit, welche sich mit Mr. Morale and the Big Steppers auseinandersetzt.

[6] Kendrick Lamar: „Mother I Sober“ – Mr. Morale and the Big Steppers, 2022.

[7] Vgl. Kendrick Lamar: „Purple Hearts“ – Mr. Morale and the Big Steppers, 2022.

Laurin Ernst

beendet dieses Semester sein Studium der katholischen Theologie in Tübingen, wofür er in seiner Magisterarbeit mit Kendrick Lamar arbeitet. 2023 absolvierte er das Zertifikatsstudium "Black Theology and Ministry" an der Catholic Theological Union in Chicago, USA.

One Reply to ““Kendrick Made You Think About It, But He Is Not Your Savior.” – Wie ein Rapper den Superbowl zum theologischen Lernort macht”

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