Heute erscheint das neue Buch „Keinzelfall. Wie Heinz ein katholisches Heim überlebte“ von Christiane Florin. Lia Alessandro hat das Buch für y-nachten gelesen und lässt uns an ihren Lektüreeindrücken teilhaben.

Triggerwarnung: In diesem Buch geht es u.a. um sexualisierte Gewalt, Klassismus und Suizid. Ereignisse, in denen sexualisierte Gewalt, missbräuchliches und übergriffiges Verhalten geschieht, werden in dem Buch sehr detailliert dargelegt.

„In Erinnerung an die misshandelten Kinder“ – mit dieser Widmung eröffnet die Politikwissenschaftlerin und Machtanalytikerin Christiane Florin die Auseinandersetzung mit dem Thema Heimerziehung in ihrer jüngsten Publikation. In einem Spannungsverhältnis zwischen der individuellen Geschichte von Heinz1 und dem strukturellen Versagen der Kirchen Deutschlands in der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in Heimkontexten, schlägt Florin eine Brücke zwischen individueller Lebensgeschichte und dem Ausschluss von Heimkindern in den öffentlichen und wissenschaftlichen sowie innerkirchlichen Debatten rund um Macht und Missbrauch. Das Buch ist aufgeteilt in 13 kompakte Kapitel und beinhaltet zum einen die Erläuterung von Heinz (Über)lebens- und Leidensgeschichte und zum anderen die durchgängige Reflexion dieser Geschichte durch Florins investigative Recherchen auf (politik-)wissenschaftlicher und machtanalytischer Ebene.

Ein Einzelfall?

Im Rahmen des ersten Kapitels nimmt Florin die lesende Person von Anfang an mit in die Lebensrealität von Heinz, einem ehemaligen Heimkind. Ein Mensch, geboren 1958 und aufgewachsen in einer Ruhrgebietsstadt. Als eines von zehn Kindern wurde er mit 8 Jahren Vollwaise, nachdem sein Vater sich vor seinen Augen suizidierte und seine Mutter kurz daraufhin starb. Gemeinsam mit einem seiner Brüder wurde er einem katholischen Heim übergeben. „Ich habe neues Fleisch für dich, er hat keine Eltern und wir brauchen nicht aufpassen“2, so erinnert sich Heinz an die ersten Worte seiner Missbrauchstäter:innen, der Erzieherin Schwester Ilse und dem Präses Ott. Was in den Folgekapiteln (Kapitel 3 bis 7) zum Vorschein kommt, ist die Geschichte eines Lebens, das durch sexualisierte Gewalt, Abwertung sowie körperliche Misshandlungen für immer geprägt sein wird.

Es schließt sich die Leitfrage des Buches und die eigentliche Frage von Aufarbeitungsbestrebungen an: „Wie war es möglich?“ (S.130)

Ausgehend von Heinz‘ Albträumen und Erinnerungen beschäftigt sich Florin im Laufe des Buches mit einer individuellen Geschichte, die – wie der Titel des Buches bereits offenlegt – eigentlich kein Einzelfall ist. Auf mehreren Ebenen legt sie die Geschichte von Heinz dar und stellt seine Innenperspektive stets in den Vordergrund. Dies zeigt vor allem der Aufbau des Buches, in dem sie nicht nur ihre eigenen Forschungsbestrebungen und journalistisches Dasein in Bezug auf das Thema Heimerziehung reflektiert (insbesondere Kapitel 2 und 7, 9). Das Besondere – und eigentlich Wesentliche – an dem Buch ist: Heinz kommt in Kapitel 8 selbst zu Wort und schildert aus eigener Perspektive, was er die Jahre über erlebt hat. Florin sieht damit von der gängigen Homogenisierung von Heimkindern und ihrem individuellen sowie öffentlichen Bild als No-Name-Menschen (S. 140) ab.

Vom Einzelfall zum Keinzelfall – oder umgekehrt?

Dass es sich bei Heinz Fall um keinen Einzelfall handelt, wird im Laufe des Buches in mehrfacher Hinsicht deutlich. Heinz selbst berichtet von seiner Kontaktaufnahme weiterer Betroffener aus ebendiesem Heim, seinen Erfahrungen als Teil eines Betroffenen-Beirats (Kapitel 10) auf der Suche nach „Wir-Menschen“ (S. 116), Gesprächen mit der Caritas sowie unzähligen Anträgen auf Schadensersatz. „Doch das Gefühl der Ohnmacht bleibt.“ (S. 146)

Sowohl in der Öffentlichkeit als auch in innerkirchlichen Debatten fühlt sich Heinz als Mensch mit Würde nicht wahrgenommen, nicht verstanden. Nach zwei Jahren Recherche kommt auch Florin zu dem Schluss, dass Kinder „wie er“ in den 1960er-Jahren als minderwertig galten und Aufarbeitungsbestrebungen von den Verantwortlichen bis in die Gegenwart ausgeblieben sind.

Kritikpunkte Florins zum Thema Heimerziehung

Im Laufe der Lektüre lassen sich einige wichtige und sehr erhellende Kritikpunkte mit Blick auf das Thema Heimerziehung festhalten:

Zurecht geht es in erster Linie um die Schuldgeschichte der Kirchen und ihren Sozialverbänden. Auf erschütternde Art und Weise wird während der Lektüre dieses Buches das gängige Bild von Caritas und Diakonie – für das Gute, die Sorge um Schwache und soziale Wärme stehend – angezweifelt. Laut Florin zeigen die Einrichtungen kein sichtbares Interesse, die sogenannte Einzelfall-These kritisch in Frage und sich dieser „Vergangenheits- und Gewissensforschung“ (S. 69) zu stellen. Der eigene Antrieb der Kirchen und ihrer Sozialverbände fehle dabei und wenn, dann gehe es primär um eine imagesensible Auseinandersetzung mit dem Thema. Zu verzeichnen sei aktuell eher die Frage nach Prävention, das Vergangene finde kaum Beachtung.

Eine Schuldgeschichte sei ebenfalls über die Kirchen hinaus zu beobachten. Keine deutsche Bundesregierung habe Initiative zur tatsächlichen Aufarbeitung ergriffen, eine systematische, unabhängige Auseinandersetzung bleibe bis heute aus.

Ein möglicher Grund laut Florin sei das kooperative Verhältnis zwischen dem Staat und den kirchlichen Sozialverbänden im Sinne eines ökonomischen Nutzens durch einen beispielsweise kostengünstigen Pflegesatz (S. 74. 148). Eine Schuldgeschichte verlange demnach Konfrontation und müsse u.a. sowohl die Rollen der Kirchen als auch der Jugendämter, des Staates und der Öffentlichkeit in die Aufarbeitungsprozesse miteinbeziehen.

Aus theologisch-wissenschaftlicher Perspektive fällt ebenso der Appell an die Wissenschaft ins Auge. Durch die Darlegung der wenigen Studien, die es zu dem Thema Heimerziehung gibt, zeigt Florin auf: die Verantwortungsfrage bleibt weiterhin ungeklärt, eine fehlende wissenschaftliche Auseinandersetzung sichtbar. Heimkinder werden sowohl gesamtgesellschaftlich als auch in wissenschaftlichen Kontexten kaum als Individuen wahrgenommen, ein „Vorwurf des Klassismus liegt in der Luft“ (S. 117). Die wenigen Studien zeigen auf, dass sich die Zustände in deutschen Heimen zwar seit den 60er/70er Jahre verbesserten, jedoch weiter keine angemessene Gedenkkultur in Sicht sei. Soziale Ausgrenzung, die Stigmatisierung und Nicht-Wahrnehmung von Heimkindern in Gesellschaft und Wissenschaft bleibe (Kapitel 10). Auch sei die Rolle von Frauen als Täterinnen in ebendiesen Kontexten kaum untersucht (Kapitel 9). Der Missbrauch durch Frauen an Männern oder Jungen habe gesamtgesellschaftlich betrachtet einen ganz anderen Stellenwert als umgekehrt. Letztlich zeigt das Buch aber auch die Schwierigkeiten der historischen Rekonstruktion und Aufarbeitung auf. In Florins Rekonstruktionsbestrebungen aller Beteiligten (Kapitel 11 bis 13) wird ebenfalls deutlich, dass Akteneinsichten nicht immer möglich oder kaum vorhanden sein können oder dass beispielsweise Zeitungsartikel ein verzerrtes Bild des tatsächlich Geschehenen konstruieren.

Fazit

Die außerordentliche Leistung des Buches liegt auf der einen Seite in der Verschränkung einer individuellen Lebensgeschichte mit aktuellen Erkenntnissen in den Forschungen rund um das Thema Heimerziehung. Es zeigt auf, dass sich hinter dem Sammelbegriff Heimkind eine Bandbreite an unterschiedlichen Lebensrealitäten befindet. Das Buch regt durch die Geschichte von Heinz zum Denken an und kann als absolute Leseempfehlung geltend gemacht werden. Es erschüttert durch die besonders intimen Einblicke von Heinz und fordert gleichzeitig dazu auf anzuerkennen, dass Heimkinder keine homogene Gruppe sind und Lebensrealitäten von intersektionellen Abwertungskategorien betroffen sind. Dass Schutzbeauftragte bewusst sadistische Intentionen in Heimen ausgelebt haben und es keine Konsequenzen dafür gab. Dass Kinder missbraucht und vergewaltigt wurden, Menschenrechtsverletzungen dabei stattgefunden haben. Auf der anderen Seite bleibt die Erkenntnis, dass Verantwortungstragende von den Kirchen und ihren Sozialverbänden über den Staat bis hin zu den einzelnen Menschen ihrer Verantwortung nicht nachgekommen sind. Dass es wissenschaftliche, politische und öffentliche Auseinandersetzungen, Recherchen und (historische) Aufarbeitungen benötigt, damit Heinz und alle anderen Heimkinder mit ihren Erinnerungen nicht allein bleiben. Damit deutlich wird, dass der vermeintliche Einzelfall kein Einzelfall ist und sich kein Einzelfall je wiederholt.

Hashtag der Woche: #keinzelfall

(Beitragsbild: Lucho Morales)


1 Die Namen der Beteiligten hat Christiane Florin geändert, die Orte der Geschehnisse vage gehalten.

2 Christiane Florin, Keinzelfall. Wie Heinz ein katholisches Heim überlebte, Patmos Verlag 2024, 7.

Das Buch „Keinzelfall. Wie Heinz ein katholisches Heim überlebte“ wurde der Autorin freundlicherweise als Rezensionsexemplar von der Verlagsgruppe Patmos bereitgestellt.

lia alessandro

hat Germanistik, Philosophie und Theologie studiert und promoviert aktuell in der Religionsphilosophie an der Professur für Theologie in globalisierter Gegenwart, Goethe-Uni Frankfurt.

2 Replies to “Booked: Keinzelfall – Vom Überleben in einem katholischen Heim

  1. Dass dem Thema Heimkinder und Heimerziehung durch diesen Artikel Beachtung verschafft wird, ist sehr zu begrüssen!
    Ob dieser überaus hoch-akademisch verfasste Artikel der niederträchtigen Sachlage, in welcher sich diese, meist aus einfachsten Verhältnissen stammenden Menschen befanden, gerecht wird, bezweifle ich allerdings.
    Ich musste viele der komplizierten Satzstellungen mehrfach lesen, um die Aussage zu verstehen. Was nicht immer gelang.
    Aus meiner früheren Freiwilligen-Arbeit in einem Krankenheim und einem Heilsarmee Wohnheim sind mir, 72-jährig, einige der beschriebenen Knechte und Heimkinder persönlich bekannt. Ich bezweifle, dass sich diese Menschen verstanden gefühlt hätten, was hier über sie geschrieben wurde.

    1. Hallo Beat Schwab, vielen Dank für die Rückmeldung.
      Das Buch von Florin fragt genau nach dieser Spannung zwischen der Akademisierung und dem sich-verstanden-fühlen. Es setzt also tatsächlich den Akzent, den Sie beschrieben haben. Dabei spielen Fragen eine Rolle wie: Wer wird angesprochen/gesehen? Wer wird gehört bzw. wer hat eine Stimme? Wer darf/kann wo/wann/wie/warum teilhaben?
      In diesem Artikel habe ich einen Fokus auf die wissenschaftliche Reflexion zum Thema gelegt, das stimmt. Dabei ging es mir vor allem darum, das Thema Heimerziehung – eben genau wie Florin fordert – dort sichtbar zu machen.
      Viele Grüße

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