An Weihnachten feiern Christ*innen die Menschwerdung Gottes. Dass der Glaube an einen solchen inkarnierten Gott mit der menschlichen Erfahrungswelt des Krafttrainings einiges gemeinsam hat, durfte Julian Müller erleben.

Der Anspruch nach einer Theologie am Andersort (C. Bauer) weicht gegenwärtig mehr und mehr der Einsicht, dass es keine theologischen Andersorte im eigentlichen Sinne gibt. In einer Welt, die G*tt erschuf und in der er*sie selbst Mensch wurde, handelt es sich schlussendlich bei jedem Ort um einen genuin theologischen. Wird zugleich die explorative Dynamik nicht aufgegeben, da weiterhin gilt, dass sich die Frohe Botschaft nur durch einen Gang in das vermeintliche „Außen“ verstehen lässt, so kann dies bereichernde Irritationen auslösen und dabei helfen, vorgebliche Gewissheiten mit Blick auf die Bestimmung der loci theologici konstruktiv durcheinanderzuwirbeln. Pointiert gilt daher: Theologie am Andersort avanciert zum Anliegen Theologie anders zu orten.1

Dieser Shift hat für mich in den vergangenen Monaten an Bedeutung gewonnen, denn ich durfte in der Kraft- und Fitnesshalle Tübingen (liebevoll als „KuF“ abgekürzt) Erfahrungen machen, die unmittelbar mit der Weihnachtszeit in Verbindung gebracht werden können. Von drei „adventlichen Erlebnissen“ möchte ich berichten.

1. Die Erfahrung tragender Gemeinschaft

Das setting des kleinen, aber sehr gut ausgestatteten universitären Kraftraumes bringt die Atmosphäre einer interessierten Offenheit für die vielen anderen Trainingspartner*innen und „neuen Gesichter“ mit sich. Es dauerte daher tatsächlich nicht lange, bis ich in der KuF in einen festen Kreis an „gym-bros*sis“ verankert war.

Dabei wird meiner Erfahrung nach jede*r genauso angenommen, wie er*sie ist. Unabhängig davon, wie viel Gewicht man bewegt, aus welchem Land man stammt, was man studiert und/-oder arbeitet, welche sexuelle Orientierung sowie Geschlechtsidentität man hat und was für Klamotten man trägt – in der KuF vermittelt einem die Gemeinschaft das grundlegende Gefühl, genau als die*der richtig, gut und akzeptiert zu sein, der*die man ist.

Bestandteil dieser Gemeinschaftsdimension ist ferner, dass man aufeinander achtgibt, andere mit Rat und Tat unterstützt, sich gemeinsam über Erfolge freut und sich bei Niederlagen oder Tiefschlägen, die im Sport, aber eben auch dezidiert im Leben abseits der Hantelbank nicht ausbleiben, wechselseitig Mut zuspricht. Das reicht vom kleinen Dienst des Spottens (man sichert eine*n Trainingspartner*in während einer Übung mit hohem Gewicht ab) bis zum Deep Talk über ein Beziehungsaus, eine schwerwiegende Verletzung oder ein berufliches Fiasko. Der lockere Austausch, der in den Pausen zwischen den einzelnen Übungssätzen stattfindet, kippt so mitunter in eine weitreichende Tiefe.

Die Tatsache, dass G*tt in diese Welt eintritt, bedeutet, dass er eine direkte Gemeinschaft mit uns Menschen eingeht. Er*Sie verbürgt durch diesen Schritt die bedingungslose Annahme eine*r Jeden von uns. Wir sind geliebt, so wie wir sind. Und wir sind nicht allein, denn G*tt kommt uns nahe und teilt unsere Erfahrungen (passendes Motiv: christlich inspiriertes Fitnessmerchandise mit der Aufschrift „Jesus is my spotter“).

2. Die unmittelbare Erfahrung des Leib-Seins und einer „stehenden Zeit“

Das Krafttraining, oder präziser in meinem Fall Powerlifting2, fokussiert die Ausübenden auf das unmittelbare „Jetzt“ und auf die leibliche Existenz. Wer schwere Gewichte bewegt und den Körper bis an seine Belastungsgrenze bringt, wird auf den konkreten Moment und das „seelenvolle Leib-Sein“ (E. Husserl) zurückgeworfen. Dieser Vorgang kann als Befreiung erlebt werden. Während sich nämlich die Muskeln anspannen und man ganzheitlich in der Anstrengung aufgeht, steht die Zeit still. Das Kreisen der Gedanken verstummt und die wabernden Stimmungen verschwimmen für einen Augenblick. Für mich, der unter Depressionen leidet, sind dies rettende Momente, die im Alltag gleichermaßen Struktur bieten, wie Durchbrüche mentaler Belastung offerieren. Mit Maria Widl gesprochen gelingt es hierbei „[…] im und durch den Körper dem Geist neue Flügel wachsen zu lassen.“3

Die rhythmischen und auf Wiederholung der einstudierten Bewegungsabläufe angelegten Übungen ermöglichen überdies eine fokussierte Sammlung und Konzentration. Wenn man möchte, kann von einem Beten mit dem Bizeps die Rede sein. Eine Liturgie, die sich sensibel dafür zeigt, dass Menschen einen Körper haben und ein Leib sind, weiß, dass Exerzitien und Exercises mehr verbindet als nur ihre gemeinsame Wortherkunft.4

Die Tatsache, dass G*tt in diese Welt eintritt, bedeutet, dass er*sie sich inkarniert. G*tt wird Fleisch. Von der Krippe über die berauschende Hochzeitsfeier zu Kana und den qualvollen Tod am Kreuz bis zur leibhaftigen Auferstehung und Himmelfahrt hat man sich Jesu leibliche Existenz zu vergegenwärtigen. Diese Dimension gilt es gegen dualistische und mitunter leibfeindliche Traditionen zu verteidigen. Wieso bspw. kann eine Aussage wie „Beten mit dem Bizeps“ auf gedankliche Widerstände stoßen?

3. Die Erfahrung von verdankter Selbst-Transzendenz

Wer regelmäßig in angemessener Weise trainiert, wird durch einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess entlohnt. In diesem Zusammenhang kommt es zu wiederkehrenden
Erfahrungen der Selbst-Transzendenz. Selbstüberwindung und Überwindung des Selbst gehen hierbei Hand in Hand. Die stundenlange Arbeit an sich ist jedoch nur die halbe Miete, denn die sich einstellenden Erfolge sind nicht nur Frucht des persönlichen Einsatzes, sondern immer auch irgendwie „verdankt“.

Die Leitmaxime „no pain, no gain“ sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass dem* einen* eine bestimmte Übung leichter fällt als der* anderen*, dass das genetische Lotterielos Weichen stellt und dass jener zähe Prozess der Überwindung eines Leistungs-Plateaus sich nicht allein mit noch mehr Training bis zum endgültigen Muskelversagen bewerkstelligen lässt. Kein Trainingsplan ohne rest days. Kein langfristiger Erfolg ohne das Glück, Verletzungen vermieden zu haben. Hinzu kommt die Gefahr, dass das Leistungsprinzip unter ausufernden Optimierungserwartungen zu einem gefährlichen Selbstzweck gerinnt, der Schwächen und Vulnerabilitäten, die wir alle teilen, notwendigerweise kaschiert.

Simone Weil vermerkt in ihrem – auch vom Titel her überaus passenden – Werk Schwerkraft und Gnade folgendes: „Die Quelle der sittlichen Kraft, wie der Körperkraft […] liegt außerhalb des Menschen. Da er sie jedoch im Allgemeinen findet, erliegt er – wie im Körperlichen – der Täuschung, sein Dasein trage den Grund seiner Erhaltung in sich selbst.“5

Die Tatsache, dass G*tt in diese Welt eintritt, bedeutet, dass mit dem Advent eine Zeit des geduldigen Wartens auf Veränderung und Selbst-Transzendenz beginnt. Bethlehem steht für die Zusage einer noch ausstehenden Umgestaltung dieser Welt, die einerseits Ruhe und Kraft spendet, andererseits zum persönlichen Einsatz animiert. Christliche Existenz bewegt sich dabei zwischen den Polen eines Indikativs der Zusage und eines Imperativs der Nachfolge und weiß folglich um das spannungsreiche Zueinander von Schwerkraft und Gnade, Aktion und Kontemplation, Stärke und Schwäche.

Hashtag der Woche: #kuf


Beitragsbild: Sven Mieke auf Unsplash

1 Feige, Andreas (Hg.), Theologie anders orten. Aufbrüche einer jungen Generation von Theologinnen und Theologen, Würzburg1 2023.
2 Powerlifting, oder zu Deutsch Kraftdreikampf, setzt sich aus den drei wettkampfbasierten Disziplinen des Bankdrückens („bench press“), Kniebeugens („squat“) und Kreuzhebens („deadlift“) zusammen.
3 Widl, Maria, Sport und Spiritualität – ein spannungsreiches Verhältnis, erschienen in: Lebendige Seelsorge 74 (1/2023), S. 14-19, 14.
4 Bauer, Christian, Fitnesstheologie, https://christian-bauer.blog/fitnesstheologie/ (Stand 10.10.2024).
5 Weil, Simone, Schwerkraft und Gnade, Berlin 2021, S. 9.

julian müller

studierte Theologie und Philosophie in Tübingen sowie Innsbruck und promoviert derzeit in Praktischer Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen.

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