Holy queerness Sebastian? Diese Geschichte erzählt ein neues Buch über den bekannten Heiligen. Mara Klein hat es für uns gelesen und berichtet, was es bedeutet, wenn queere Heiligenstorys nicht nur zwischen den Zeilen zu finden sind.

Nackt, sinnlich und von Pfeilen durchdrungen – so unerwartet erotisch präsentiert sich der Heilige Sebastian seit der Renaissance in der christlichen Ikonografie, seit der Moderne in der Popkultur und seit einem Jahr auch auf dem Einband des ihm gewidmeten Buches SEBASTIAN. In Co-Autor*innenschaft durch Stephanie Höllinger und Stephan Goertz verfasst, beschäftigt sich das Werk über 6 Kapitel mit der Rezeptionsgeschichte des Heiligen Sebastian in (mindestens) drei Facetten: als Märtyrer, als Pestheiliger und als queere Ikone. Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung ist dabei vor allem die Beobachtung, dass sich die Figur des Sebastian als „lebendige Legende“ (9) längst der Kontrolle der römisch-katholischen Kirche entzogen hat (#goodforhim). Eine theologische Rezeption unorthodoxer Auslegungen und Aneignungen blieb bis jetzt jedoch aus – genauso wie eine kirchliche Reanimierung des Heiligen, etwa im Rahmen der Corona-Pandemie, in der „der ehemals prominenteste Seuchenheilige in päpstlichen Ansprachen keine Beachtung mehr“ (10) findet.

Catering to queer nerds: Ein Buch voller fangirl* Momente

Im Sinne unorthodoxer Auslegung möchte ich gleich zu Beginn transparent machen, dass ich das Buch liebe. Noch nie habe ich ein wissenschaftliches Buch gelesen, dass in solch müheloser Weise so viele meiner eigenen Hyperinteressen anspricht: Von (kirchen)geschichtlichen Ausführungen und kunstgeschichtlichen Bildanalysen, über Literaturanalyse, Popkultur und queere Subkultur-Geschichtsschreibung, bis hin zu theologischer Einordnung und Deutung passiert auf den doch recht kompakt gehaltenen 174 Seiten extrem viel.

SEBASTIAN. Märtyrer – Pestheiliger – queere Ikone von Stephanie Höllinger und Stephan Goertz. Verlag Herder, 1. Auflage 2023, Gebunden, 240 Seiten         ISBN: 978-3-451-39882-7

Für historisch, literarisch und/oder theologisch interessierte Menschen, die es gewohnt sind, queere Auslegungen zwischen den Zeilen selbst entwerfen zu müssen (und dafür kritisiert zu werden), ist die Selbstverständlichkeit und die Fachlichkeit, mit der die Autor*innen solche Auslegungen selbst anbieten und belegen fast schon eine emotionale Überforderung – im positiven Sinn.

Dabei kommt es an vielen Stellen zu Verknüpfungen, die ich nie erwartet hätte, jedoch nach der Lektüre ständig ungefragt erklären werde: Zum Beispiel sind vielen queeren Menschen der 1895 für Homosexualität verurteilte irische Autor Oscar Wilde und der deutsche Arzt und Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld, dessen progressives Institut in Berlin 1933 durch die Nazis geschlossen wurde, ein Begriff. Doch diese beiden Namen plötzlich durch Sebastian in einem Zusammenhang zu sehen (ausgerechnet!) mit dem Unfehlbarkeits-Papst, Pius IX.? Das ist definitiv eine neue Erfahrung, die ich an dieser Stelle nicht weiter spoilern möchte.

„Kein Freund von Vereindeutigung“ (114): Facettenreichtum im Querschnitt der Geschichte

Wenngleich die Thematisierung von Sebastians „außertheologische[r] Widergeburt“ (76) im queeren Sinn sicherlich der Grund ist, warum ich für die Rezension angefragt wurde, ist das Thema keineswegs überzogen oder einseitig dominierend. Im Gegenteil: Eingebettet in eine größtenteils chronologisch aufgezogene Rezeptionsgeschichte, zeigt das Buch vor allem, wie sich anhand der Darstellung des Heiligen theologische Vorstellungen, Entwicklungen und Debatten der jeweiligen Zeit spiegeln.

Wie kommt es überhaupt dazu, dass ein „historisch nicht fassbarer“ (13) Heiliger aus seinem legendär zugeschriebenen Ruheort, der Kloake Roms, zu dem Pestheiligen und später zur Pop-Ikone aufsteigt?

Wie ändern sich die theologischen Konnotationen des Martyriums von der Zeit der Christ*innenverfolgung in der Antike über die Erfahrung von Seuchen im Mittelalter hin zu modernen Interpretationen z. B. im Kontext des Ersten Weltkrieges oder der AIDS-Krise? Wie steht Sebastian über den Boxer und Aktivsten Muhammad Ali in Verbindung mit den Themen „race, religion, and the Vietnam War“ (144)? Die Antworten auf diese und andere Fragen führen Leser*innen nicht nur in die Geschichte eines Heiligen ein, sondern auch fast beiläufig in verschiedene Strukturen des Unrechts, die uns bis heute beschäftigen.

Aber auch alle, die historische Abrisse als zu langatmig empfinden und von den immerhin „eigentlich“ in der Moraltheologie beheimateten Autor*innen eine in dieser Disziplin verankerte Synthese erwarten, werden nicht enttäuscht. So bietet das sechste und letzte Kapitel theologische Schlussbetrachtungen zur Orientierung, die v. a. in der Aufschlüsselung des Heiligen als widerständiger Unterdrückter eine theologisch-ethische Interpretation ermöglichen:

Die Figur des Sebastian „nimmt Krankheit, Strukturen der Verfolgung, Diskriminierung und Ungerechtigkeit als reale Notlagen wahr und erkennt sie doch nicht als Letztantwort an“ (167).

Wegweisende Rezeptionsgeschichten: Ein queer-fokussiertes Resümee  

Die Dokumentation und theologische Durchdringung Sebastians als historisch belegbarer Identifikationspunkt für queere Christ*innen gibt nicht nur der Ikone selbst eine neue Strahlkraft:  Sie wirft auch Licht auf seine Betrachter*innen, die allzu häufig im Dunkel der Geschichte verblieben, ausgeklammert, weggedeutet oder übergangen wurden. Höllinger und Goertz zeigen in ihrem dichten und facettenreichen Buch, dass eine Aufarbeitung queerer Rezeption von christlicher Tradition auch für die Theologie möglich und lohnend ist.

Wenngleich die Autor*innen keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben (10), werden trotz allem Positiven natürlich gerade nicht-männliche Leser*innen die einseitige Fokussierung auf männliche Homosexualität, -romantik und -erotik kritisch zur Kenntnis nehmen. Wo sind die weiblichen, wo die gender-queeren Blicke auf Sebastian (die über Feminisierung für den männlichen Blick hinausgehen)? Dass es erstere gibt, kommt erst spät mit Verweis auf die Künstlerin Louise Bourgois zur Sprache und mündet in dem wichtigen Hinweis,

dass die Identifikation mit dem Heiligen für alle Relevanz hat, „die wie Sebastian zu den Getroffenen zählen“ (172).

Dennoch deutet sich in dieser Richtung noch viel Spielraum für weitere Forschung an – nicht vornehmlich zu Sebastian, sondern auch zu anderen Ikonen, deren Präsenz eine Strahlkraft weit über den „geordneten“ heteronormativen Katholizismus hinaus hat; Jean d’Arc und die Heilige Kümmernis seien an dieser Stelle als prominente Beispiele benannt. Hier bleibt zu hoffen, dass das Buch als richtungsweisend weitere inspirieren wird.

Gerade diesen Monat, wo sowohl der Tag des inter* Gedenkens (Intersex Day of Remembrance, 8.11.) als auch der Tag der Erinnerung an die Opfer von Trans*feindlichkeit (Transgender Day of Remembrance, 20.11.) anstehen, inspiriert Höllinger und Goertz‘ SEBASTIAN vielleicht in besonderer Weise, Allerheiligen auch als Auftrag zur Spurensuche wahrzunehmen: Nach den ungesehenen Martyrien queerer Menschen im Alltäglichen, nach den verschütteten Anknüpfungspunkten in der christlichen Tradition und nach den besonderen und herausfordernden Biografien der Heiligen, die oft in ungeahnter Weise queerer sind, als zunächst vermutet.

Hashtag der Woche: #queereikone


Beitragsbild: @Isi Parente auf unsplash

mara klein (er*sie/ihm*ihr/sein)

arbeitet am Institut für Christliche Sozialwissenschaften der Universität Münster in einem Forschungsprojekt zu Geschlechtervielfalt in Recht und Kirche. Dey ist Aktivist*in für die Rechte queerer Menschen in der katholischen Kirche und setzt sich dafür u. a. als Teil des Synodalen Wegs ein. Wenn daneben noch Zeit ist, gibt es da theoretisch auch noch eine Dissertation zum Thema Geschlechtervielfalt…

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