Alle Jahre wieder bestimmen die ersten Kapitel aus dem Lukas- bzw. Matthäusevangelium die Gottesdienste der Advents- und Weihnachtszeit. Wie man sie in diesem Jahr mit neuen Ohren hören kann, zeigt für Jonatan Burger ein neuer Band der Theologin Annette Jantzen.

Der Advent und die Weihnachtszeit sind die Wochen im Jahr, an denen so zumindest für mich wirklich einmal möglichst alles so sein soll wie immer. Die über Jahrzehnte angesammelte Adventsdekoration wird vom Dachboden geholt, Lieder und Geschichten, die von Kindheit an vertraut sind, erklingen wieder und die Plätzchen sollen möglichst genau so schmecken, wie sie schon die Großeltern gebacken haben.

Warum die Weihnachtsgeschichte entstaubt werden soll

Über den Untertitel des Weihnachtsbuchs der Aachener Theologin und Autorin Annette Jantzen, vielen durch ihren Blog Gotteswort weiblich und die kurzen Erzählungen bekannt, in denen Gott zum Kaffee oder auf ein Bier vorbeikommt (Link einfügen), bin ich deshalb erst einmal gestolpert: “Die Weihnachtsgeschichte entstaubt, durchgelüftet, neuentdeckt“.

Dass ein solcher frischer Blick auf das „Kind in der Krippe“ lohnt, beweisen die 15 kurz und übersichtlich gehaltenen Kapitel, in denen jeweils eine Person oder ein Motiv aus den biblischen Texten rund um die Herkunft und Geburt Jesu genauer unter die Lupe genommen werden, aber von Anfang an.

Die Perspektive ist dabei stets eine doppelte und damit zweifach bereichernde: Zum einen gelingt es Jantzen, die altvertrauten Worte in eine zeitgemäße Sprache zu übersetzen. Zum anderen und vor allem legt sie  Motiv für Motiv  die Tiefenschichten der biblischen Texte frei, welche uns heute, rund 1900 Jahre nach deren Entstehung und in einem gänzlich anderen kulturellen Kontext, verloren gegangen sind und die durch unsere ganz eigenen, liebgewonnen, aber eben oft auch idiosynkratischen Weihnachtstraditionen überlagert wurden.

Plädoyer für eine zweistimmige Biblische Theologie

Demgegenüber versucht Jantzen nun die biblischen Texte, welche den ersten Hörer*innen bzw. Leser*innen der Evangelien deutlich stärker als diese selbst vertraut waren, nämlich diejenigen aus dem Ersten Testament, neu zu erschließen. Damit ruft sie neben der (heutigen) Hauptmelodie des Evangelientextes die eigentlich ja für die Autor*innen ursprünglich immer mitlaufende (und ungleich vertrautere) zweite Klavierhand des Ersten Testaments in Erinnerung und bringt die Textwelt und die darin transportierte Theologie  erst richtig zum Klingen.

Die Geburtsgeschichten werden damit wirklich ent-staubt und das Bild von der Krippenszene seiner Patina einer bukolischen, nie wirklich dagewesenen Idylle eines ländlichen Mitteleuropa des 19. Jahrhunderts beraubt, die unsere heutigen Krippen vielerorts noch immer dominiert. Im Gegenzug soweit dies über die geschichtliche Distanz möglich ist werden sie wieder aus der Alltags-, Vorstellungs- und Glaubenswelt des Vorderen Orient des 1./2. Jahrhunderts erschlossen.

Der Innovationscharakter dieses Ansatzes beschränkt sich indes nicht auf exegetische Korrektheit. Vielmehr vermag es Jantzen dadurch, auch für eine heutige, von der Weihnachtsgeschichte ausgehende Theologie wertvolle Denkanstöße zu geben. Aus der Fülle der auch episodenhaft gut lesbaren Kapitel und Motive sei dabei als theologisches Amuse-Gueule nur eines herausgegriffen, dass den gewohnten Cast eines Krippenspiels durcheinanderwirbelt.

Spotlight für den Herbergswirt

Dort hat vielerorts Jahr für Jahr eine Gestalt ihren Auftritt, die anders als die Engel, Ochse und Esel wahrlich kein Sympathieträger ist. Und das, obwohl sie streng genommen in den Erzählungen aus dem Matthäus- und Lukas-Evangelium gar nicht vorkommt. Die Rede ist vom Wirt, der dem spätabends anklopfenden und weitgereisten Paar, Josef und seiner hochschwangeren Partnerin Maria, den Platz in der warmen Herberge verweigert, so dass sie in einem Stall fernab der Stadt, in Kälte und Dunkelheit Zuflucht suchen müssen. Marias Kind erblickt das Licht der Welt deshalb wahrlich nicht an einem einladenden Ort.

So findet die heilige Familie auch in den meisten Weihnachtskrippen heute zumeist in einem Stall auf der freien Flur Platz; dort, wo allenfalls die Hirten mit ihren Schafherden lagern. Und theologisch steckt hier ja durchaus eine Einsicht darin: Gott wird wirklich Mensch, und das nicht zuletzt, um sich mit allem, was es heißt, ein Mensch zu sein, gemein zu machen und zu solidarisieren. Das schließt Kälte, Einsamkeit und Prekarität nicht aus, sondern ein. Einem solchen Gott ist von Geburt an nichts Menschliches fremd, er blickt nicht enthoben auf das Weltgeschehen hinab, sondern auch mit der Brille eines kleinen Kindes. Soweit, so richtig und sicherlich auch in diesem Jahr Thema der ein oder anderen Weihnachtspredigt.

Die Lektüre des Bandes von Annette Jantzen stellt indes auch dieses gewohnte Bild vom hartherzigen Wirt gründlich vom Kopf auf die Füße (S. 99ff.). Mit Archäologie und Kulturgeschichte im Rücken argumentiert sie, dass die Weihnachtskrippe, wenn es sie gab, gar nicht fernab von Bethlehem im Nirgendwo stand. Denn Vieh und Menschen hätten in den damaligen Häusern des Vorderen Orients, ähnlich wie auch hierzulande lange Zeit üblich, unter einem gemeinsamen Dach gelebt. Getrennt nur durch eine kleine Mauer, in deren Mitte die Futterkrippe für das Vieh eingelassen war.

Solidarität statt Ausgrenzung

Wenn nun in der „Herberge“, dem Nebenzimmer eines Wohnhauses für zahlende Gäste, „kein Platz“ mehr war, das Neugeborene aber in einer solchen Krippe Platz gefunden hat, wären Josef und Maria also nicht einfach an der Tür brüsk abgewiesen worden. Vielmehr hätten sie sehr wohl Platz unter einem Dach gefunden, als Notbehelf zwar beim Vieh, aber immerhin.

Folgt man dieser Lesart der biblischen Texte von Annette Jantzen, dann steht am Anfang der Lebensgeschichte von Jesus nicht eine Erfahrung der Ausgrenzung, sondern der Solidarität. Wie es wirklich gewesen ist, wissen wir schlicht nicht. Die Evangelien von Matthäus und Lukas entstanden erst ein paar Generationen nach Jesu Tod. Es geht das macht Jantzen immer wieder deutlich nicht um historische Faktizität, sondern um in Erzählungen gegossene Theologie.

Liest oder hört man das Weihnachtsevangelium aber in diesem Jahr einmal so, wie es Annette Jantzen vorschlägt, dann darf man es auch als eine Geschichte verstehen, die zeigt, was Gott den Menschen an Mitmenschlichkeit zutraut und was wir uns damit auch selbst zutrauen dürfen. Ein Grund unter vielen, diesen Band rund um das „Kind in der Krippe“ und alle Figuren, die sich noch dort tummeln, als Präsent im Nikolausstiefel oder unter dem Weihnachtsbaum wärmstens zu empfehlen.

Hashtag der Woche: #entstaubt


Jantzen, Annette: Das Kind in der Krippe. Die Weihnachtsbotschaft – entstaubt, durchgelüftet, neuentdeckt. Freiburg: Herder, 2024. 144 Seiten. 18,00 €.

Beitragsbild: Patti Black auf Unsplash

Ein Tipp in eigener Sache

Jeden Samstag im Advent ist im Podcast „Mit Herz und Haltung“ der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen und der Herder Korrespondenz eine Folge mit Annette Jantzen und Moderator Daniel Heinze rund um die Figuren in der Weihnachtskrippe zu hören. Los geht es am 30. November – bei Spotify, Apple Podcast oder YouTube.

jonatan burger (er/ihn)

studierte von 2012-2018 Katholische Theologie in Freiburg und promoviert nun im Fach Christliche Sozialethik. Er ist Referent an der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen und Teil der Redaktion von y-nachten.de.

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