Eine Forschungsgruppe der TU Dortmund beschäftigt sich in zwei Projekten mit religionsbezogenen Kontroversen in der schulischen Bildung: Der Islam in der Kontroverse und Kontroverse Themen im konfessionellen Religionsunterricht. In diesem Interview berichten sie uns über den Aufbau und erste Ergebnisse ihrer Forschungsprojekte. Mit den Beteiligten der Projekte – Johanna Hanke, Jan-Hendrik Herbst, Lisa Jesse, Meryem Aydogan und Miguel Zulaica y Mugica – haben unsere Redaktionsmitglieder Hannah Ringel und Claudia Danzer über ihre Forschung gesprochen. Morgen folgt Teil 2.

y-nachten.de: Aktuell beschäftigt ihr euch in zwei Forschungsprojekten mit dem Thema der Kontroversen im Schulunterricht und speziell im konfessionellen Religionsunterricht. Könntet ihr unseren Leser*innen in Kürze erklären, was eure Forschungsprojekte gemeinsam haben?

In beiden Projekten geht es darum, die Bedeutung von Kontroversen für das schulische Zusammenleben und den Unterricht im Kontext von Religion empirisch zu erforschen. Unter Kontroversen verstehen wir Problemfragen, die wissenschaftlich und/oder verfassungsrechtlich nicht eindeutig zu beantworten und in der Öffentlichkeit umstritten sind. Bei den Forschungsdesigns gibt es jeweils unterschiedliche Schwerpunktsetzungen: Beim NRW-Projekt „Der Islam in der Kontroverse“ stehen eher schulpädagogische Fragen im Blickpunkt, das DFG-Projekt „Kontroverse Themen im konfessionellen Religionsunterricht“ fokussiert didaktische Perspektiven und die Lehrkräfteausbildung.

y-nachten.de: Danke! Nun interessieren uns natürlich auch die inhaltlichen Unterschiede: Worum geht es euch in eurem Forschungsprojekt zu „Kontroversen Themen im konfessionellen Religionsunterricht“?

Im (christlichen) konfessionellen Religionsunterricht werden vielfältige Themen behandelt, die als kontrovers gelten (für den islamischen Religionsunterricht: vgl. die Forschung von Mehmet H. Tuna). Beispielsweise genannt werden können gesellschaftliche (z. B. ‚Migration‘), kirchenpolitische (z. B. ‚Zölibat‘) oder theologische Inhaltsfelder (z. B. ‚Religionskritik‘). Im Umgang mit solchen Inhaltsfeldern gelten religionspädagogisch und auch von kirchlicher Seite politikdidaktische Standards aus dem Beutelsbacher Konsens als bewährt. Besonders hervorzuheben ist hier das sog. Kontroversitätsgebot. Dieses besagt, dass kontroverse Themen offen, multiperspektivisch und nicht-direktiv zu unterrichten sind. Ein kontroverser Religionsunterricht in diesem Sinne ermöglicht es, zentrale Ziele religiöser Bildung – wie z. B. religionsbezogene Urteilsfähigkeit – zu erreichen. Studien aus anderen Ländern und Fächern deuten nun an, dass das Unterrichten solcher Kontroversen für (Religions-)Lehrkräfte viele Herausforderungen mit sich bringt, was wir für den konfessionellen Religionsunterricht in Deutschland überprüfen und genauer untersuchen möchten. Dazu erforschen wir quantitativ und qualitativ, was evangelische und katholische Religionslehrkräfte zu drei Fragen denken: 1) Welche Themen sollten als Kontroversen unterrichtet werden? 2) Wie sollten Kontroversen unterrichtet werden? 3) Und welche förderlichen Bedingungen gibt es, um Kontroversen zu unterrichten?

y-nachten.de: Was ist die inhaltliche Grundlage eures Forschungsprojektes „‚Der Islam‘ in der Kontroverse“?

Mit dem Projekt „Der Islam“ in der Kontroverse soll ein Beitrag zur anwendungsorientierten Grundlagenforschung im Bereich Radikalisierung und Kontroversität basierend auf einem qualitativ ausgerichteten Studiendesign geleistet werden. Gegenstand des Projekts sind islambezogene Kontroversen, die meist in der Alltagskommunikation implizit präsent sind, sich in Konflikten wie etwa dem Streit um einen Gebetsraum an vielen Schulen manifestieren, bei zeithistorischen Ereignissen wie dem Anschlag der Hamas am 07.10.23 thematisch werden, aber auch zum Gegenstand des Unterrichtsgesprächs werden können. Auf der Grundlage der dokumentarischen Methode werden Diskursorganisationen von islambezogenen Kontroversen im Kontext von Gruppendiskussionen rekonstruiert, d. h. wir schauen uns an, wie schulische Akteur*innen (Lehrer*innen, Schüler*innen und Eltern) miteinander und getrennt voneinander über entsprechende Kontroversen diskutieren, welche Normalitätsvorstellungen und Differenzkonstruktionen verwendet werden und welche Triggerpunkte die Diskurse bestimmen. Ziel des Projekts ist es, konstruktive Umgangsformen in der schulischen Praxis auszuleuchten, insbesondere vor dem Hintergrund der multiplen, mit den Kontroversen verbundenen Problemzusammenhänge. In islambezogenen Kontroversen werden Stereotype, diskriminierende Narrative und Rassismen produziert und reproduziert und bieten eine Gelegenheitsstruktur für die politische Agitation islamistischer und völkisch nationalistischer Gruppen. Dennoch ist die Präsenz von Kontroversen an Schulen auch ein Indikator für gelungene Integration, sofern diese auf einen Partizipations- und Gestaltungswillen hinweisen.

y-nachten.de: Wie kann man sich eure forschungspraktische Zusammenarbeit vorstellen?

Derzeit gibt es zwei ganz konkrete Kooperationsfelder: Erstens arbeiten wir in einem gemeinsamen Forschungskolloquium zusammen: Hier stellen wir uns unsere Forschungsmethoden, Daten, Interpretationen und Ergebnisse vor, die wir dann in einem interdisziplinären und multimethodischen Setting diskutieren können. Auch pragmatische Fragen, etwa dazu, wie wir empirische Forschungsprozesse organisieren, besprechen wir in diesem Kontext.

Zweitens planen wir eine gemeinsame Publikation: Im nächsten Jahr wird eine internationale Sonderausgabe der Religionspädagogischen Beiträge zum Thema „Religion and Controversies in Schools“ erscheinen, zu der bereits ein Paper publiziert worden ist.

 y-nachten.de: Welche ersten Ergebnisse zu den Forschungen zum Thema der praktischen Dilemmata in schulischen Kontexten könnt ihr schon mit uns teilen?

Aufgrund unserer Interpretationen können wir differente Typen der diskursiven Hervorbringung von Kontroversität rekonstruieren, die wir derzeitig konkretisieren und mit Reflexionsformen und Diskursorganisationen dimensionieren. Hierbei lassen sich grob Typen der diskursiven Bearbeitung von Containmentstrategien und diskursiven Widerstandsformen bei allen Akteursgruppen (Lehrpersonen, Schüler*innen und Eltern) unterscheiden, die sich wiederum in verschiedene Subtypen einteilen lassen. Bei allen Typen zeigen sich potenziell problematische Kulturalisierungsformen oder klassizistische Verständigungsversuche, in denen problematische Verhaltensweisen anhand sozio-ökonomischer Differenzen erklärt werden. Der Typus „Diskursiver Widerstand“ sticht jedoch besonders heraus, weil diesem eine Otheringstruktur konstitutiv ist (z.B. Islam vs. Europa) und dieser Typus auf einer gefestigten und selbstreferentiellen Wir-Ihr-Anderen-Ordnung basiert. Allen Typen sind Professionalisierungsfragen immanent, der letzte Typus dürfte speziell vor dem Hintergrund von Diskriminierungserfahrungen von besonderer Bedeutung sein.

Zudem konnten wir eine Reihe für den Islamdiskurs typische Triggerpunkte erfassen – Kopftuch, Gebet, Gewalt – aber auch weitere Chiffren als Auslöser für Kontroversen herausarbeiten. Für uns überraschend war etwa die diskursive Funktion der Chiffre „Juden“. Jüdisches Leben wurde ausgehend von differenten Diskurspositionen und positionierten Teilnehmenden u.a. dafür instrumentalisiert, Ungleichbehandlung zwischen muslimischen und jüdischen Lebensformen zu problematisieren, Antisemitismus bei muslimischen Schüler*innen anzusprechen und damit Normalitätsbrüche und auch Entgrenzungsbefürchtungen aufzurufen. Erstaunlich ist, dass dies nicht notwendig ausgesprochen werden musste, sondern dieses Deutungsmuster ein geteiltes implizites Wissen darstellt. Bei dieser Chiffre lassen sich u.a. Polarisierungseffekte und Wechselwirkungen von (sich radikalisierenden) Diskurspositionen nachzeichnen, wie aber auch bei der Frage nach Geschlechtlichkeit. Ferner sind wir auf Triggerpunkte gestoßen, die spezifisch religiös konnotiert sind und bei denen theologische Argumente eine signifikante Rolle spielen, z. B. Bilderverbot. Diesbezüglich arbeiten wir projektübergreifend an einer Konflikttheorie in Bezug auf Sakralität und Sakralitätsverletzung.

y-nachten.de: Vielen Dank für die spannenden Einblicke! Morgen folgt Teil 2.

Projektbeteiligte und Interviewpartner:innen:

Johanna Hanke ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Kontroverse Themen im konfessionellen Religionsunterricht“.

Jan-Hendrik Herbst leitet das DFG-Projekt „Kontroverse Themen im konfessionellen Religionsunterricht“.

Lisa Jesse ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im NRW-Projekt „Der Islam in der Kontroverse“.

Meryem Aydogan ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im NRW-Projekt „Der Islam in der Kontroverse“.

Miguel Zulaica y Mugica leitet das NRW-Projekt „Der Islam in der Kontroverse“.

Dr. Jan-Hendrik Herbst, Meryem Aydogan, Johanna Hanke, Dr. Miguel Zulaica y Mugica. Es fehlt: Lisa Jesse.

Hashtag der Woche: #LeitkulturStreitkultur


(Beitragsbild: privat)

Forschungsgruppe Religionsbezogene Kontroversen

Johanna Hanke ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Kontroverse Themen im konfessionellen Religionsunterricht“. Dr. Jan-Hendrik Herbst leitet das DFG-Projekt „Kontroverse Themen im konfessionellen Reli-gionsunterricht“. Lisa Jesse ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im NRW-Projekt „Der Islam in der Kontro-verse“. Meryem Aydogan ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im NRW-Projekt „Der Islam in der Kontroverse“. Dr. Miguel Zulaica y Mugica leitet das NRW-Projekt „Der Islam in der Kontroverse“.

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