„Verstellte Heiligkeit: Erfahrungen mit Scham und Schuld. Theologische Aufbrüche zu mehr Gerechtigkeit“ – so heißt ein im September erschienenes Buch über das Sprechen über Missbrauch und die gemeinsame Suche nach mehr Gerechtigkeit. Hannah hat es für unsere Reihe Booked gelesen und gibt einen kleinen Einblick.

„Wie kann Theologie helfen, Grundbedürfnisse von Schutzbefohlenen zu achten und Gerechtigkeit nach Machtmissbrauch wiederherzustellen?“ Mit keinem geringeren Anliegen führt Patmos in das Buch „Verstellte Heiligkeit: Erfahrungen mit Scham und Schuld. Theologische Aufbrüche zu mehr Gerechtigkeit“ ein, das am 25. September 2024 in Frankfurt am Main vorgestellt wurde. Dieses Buch existiert im Kontext der Bearbeitung einer „Theologie angesichts des Missbrauchs“ aus dem Maßnahmenkatalog des Missbrauchsaufarbeitungsprojekts des Bistums Limburg. Eine Skizze dieser Theologie findet sich etwa in diesem Artikel von Knut Wenzel.

Die Herausgeber*innen (Klaus Kießling, Elisabeth U. Straßberger, Dewi M. Suharjanto, Knut Wenzel, Hildegard Wustmans) teilen das Buch –

„[a]ngelehnt an die kirchliche Bußtradition, die von Gewissensprüfung, Zerknirschung und Wiedergutmachung spricht“ (9),

wie sie schreiben – in die drei Textgruppen Wahrnehmung, Aussprache und Ausgleich. In diesem Dreischritt werden auch die drei Ebenen des Buchtitels abgebildet: Während sich die ersten Texte um die Beschreibung einer verstellten Heiligkeit drehen und die zweiten Erfahrungen mit Schuld und Scham schildern, skizziert der letzte Abschnitt mögliche Wege hin zu mehr Gerechtigkeit. Angesichts der Vielzahl an Beiträge im Sammelband gibt diese Grundstruktur Orientierung.

Wahrnehmung

Im ersten Abschnitt beschreibt neben anderen Autor*innen auch Alexander Bagattini Asymmetrie und Macht in Beziehungsdynamiken wie z. B. in Care-Beziehungen (70) und weist

„auf den empirischen Zusammenhang zwischen ungleichen Machtverhältnissen und Missbrauch“ (75)

hin. Da von Macht geprägte Beziehungen aber immer Bestand haben würden (und nicht per se missbräuchliche, wenn aber missbrauchsanfällige Strukturen aufwiesen), sei in und um sie herum insbesondere auf Regulation und Transparenz zu achten. (76)

Auf eben die „missbräuchlichen Machtkonfiguration“ (80) blickt Hildegard Wustmans in ihrem Beitrag, welcher spirituellen Missbrauch in den Fokus setzt, und nimmt insbesondere Theolog*innen in die Pflicht, „zum einen, Theologien zu entschlüsseln und zum anderen, diesen eine Theologie angesichts des Missbrauchs entgegenzustellen“. (85)

Aussprache

Der zweite Buchabschnitt konfrontiert die Leser*innen unter dem Titel „Aussprache: Über Scham und Schuld“ mit der Perspektive Leidtragender und der Beschäftigung mit Scham und Schuld. Dabei scheint ein zentrales Motiv das Sprechen über Missbrauch, das Benennen des Geschehenen, schuldiger Personen und der Folgen ihrer Taten zu sein. Martin Schmitz spricht nicht nur von der eigenen Betroffenheit, sondern auch derer, die ihm zuhören. (153) Es wird deutlich, wie die Zuhörenden es nicht dabei belassen dürfen, nicht verstummen dürfen, in ihrer Betroffenheit, sondern Worte angesichts des Unrechts finden müssen, um Betroffenen zur Seite zu stehen. (171) Näher erläutert er:

„Aufarbeitung benötigt Zeit, Zeit des Zuhörens, aber auch Zeit des Handelns“ (153)

und fügt somit der gemeinsamen These der Beträge dieses Buchs – Dialog und Gespräch als produktiver Schritt hin zu mehr Gerechtigkeit – eine Aufforderung hinzu.

Ausgleich

Die Perspektiven des dritten Teils stehen unter dem programmatischen Titel „Ausgleich: Konkrete Impulse zu mehr Gerechtigkeit“ und widmen sich den ebenfalls im Buchuntertitel in Aussicht gestellten theologischen Aufbrüchen. So berichten etwa Lisa Straßberger und Dewi M. Suharjanto von Gesprächsformaten, die im Anschluss an Christa Pelikans „restorative justice“ soziale, partizipatorische und wiedergutmachende Elemente beinhalteten, um eine gemeinsame Arbeit an der Möglichkeit der wiederhergestellten Gerechtigkeit zu rahmen. (241)

Am Ende des Sammelbandes kehren die Texte damit zurück zur verstellten Heiligkeit, um diesen mit eben jenen Impulsen zu Gerechtigkeit zu konfrontieren:

„Heilig meint in diesem anthropologischen Zusammenhang die religiöse Codierung der Unverfügbarkeit. Missbrauchsverletzung verstellt nicht nur intersubjektiv Beziehungen, sondern verletzt auch das Verhältnis zu sich selbst und damit sozusagen den Zugang zur eigenen Heiligkeit.“ (331)

Nicht nur aus dieser Perspektive müssen sich Aufbrüche zu mehr Gerechtigkeit an den Bedarfen der Betroffenen messen lassen.

Was zu sagen bleibt

Die Kürze der Darstellung und die kleine Auswahl der Texte, die hier einen Platz finden konnten, vermögen das maximal anfänglich zu vermitteln, aber dieses Buch zeigt ein gemeinsames Suchen nach Worten über das, was oftmals als Unaussprechbar geframed wird und bietet Marker und Stützen auf der Suche nach mehr Gerechtigkeit. Was die Leseerfahrung dabei insbesondere bereichert ist die große Vielfalt der Beiträge und ihrer Perspektiven. Als Leser*in darüber zu urteilen, wie man diesem Thema gerecht werden kann, scheint vermessen – denn wie das Maßband an Gerechtigkeit anlegen? Aber der kaleidoskopische Blick auf die gemeinsame Suche in diesem Sammelband überzeugt deshalb, weil sie Platz lässt für verschiedene Facetten, bei gemeinsamer Einigkeit darüber, dass ein Stehenbleiben in der verstellten Heiligkeit niemals gerecht sein kann. Die sowohl in ihren Fachperspektiven und ihren Themenzugängen, aber eben auch in ihrer Art diversen Beiträge stehen so nicht nur durch das Gerüst der drei Kapitel nebeneinander, sondern auch zueinander, indem sie eine gemeinsame Grundvoraussetzung – dass Kommunikation und Dialog Richtung weisen können – stärken und Impulse auf die Frage bieten, mit der Patmos diesen Sammelband ankündigt, und die zu Beginn dieses Textes steht.

 

Hashtag der Woche: #gerechtundheilig


(Bild: @Kranich17)

Hier findet ihr das Buch (und alle Zitate): Kießling, Klaus; Straßberger, Elisabeth U.; Suharjanto, Dewi Maria; Wenzel, Knut; Wustmans, Hildegard (Hg.): Verstellte Heiligkeit: Erfahrungen mit Scham und Schuld. Theologische Aufbrüche zu mehr Gerechtigkeit. Ostfildern: Grünewald, 2024.

hannah ringel (sie/ihr)

studierte in Freiburg katholische Theologie. Hannah hat mal für die Kirche zum Thema Digitalisierung gearbeitet ─ jetzt macht sie das für eine Unternehmensberatung. Außerdem werkelt sie an einer Dissertation zu den Themen Ethik und Digitalität und nutzt seit dem Foto hier links keine Einwegkaffeebecher mehr, versprochen! Hannah ist Teil der Redaktion von y-nachten.de.

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