In vielen Gebeten, in denen es um Heilung für Notleidende geht, werden behinderte Menschen oftmals miteinbezogen. Fredi Schönecker erklärt, warum dies problematisch ist und zeigt als pflegendes Elternteil auf, was die (katholische) Kirche und die Gemeinschaft der Gläubigen tun kann.

An die heilende Kraft des Betens zu glauben, ist für die meisten gläubigen (katholischen) Christ*innen nicht ungewöhnlich. Es wird für die Kranken, die Schwachen, die Flüchtenden, die Armen – und, um es kurz zu fassen, – für alle Notleidenden gebetet. Allzu oft werden behinderte Menschen in diese Reihe der Notleidenden aufgenommen, mit positiver Intention, denn schließlich wird für behinderte Personen gebetet. Viele behinderte Menschen berichten davon, dass sie in der Öffentlichkeit angesprochen werden und ihnen von Unbekannten mitgeteilt wird, dass diese für sie beteten.1 In vielen dieser Gebete geht es den fremden Menschen um „Heilung“, die behinderten Personen sollen durch die Kraft des Gebets von ihrer Behinderung „befreit“ werden.

Die Wahrnehmung von Behinderung in biblischen Erzählungen

Diese Wahrnehmung von Behinderung als Last, zum Teil sogar als Strafe, ist im Christentum noch immer weit verbreitet und findet ihren Ursprung in zahlreichen biblischen Geschichten. Im Alten Testament beispielsweise werden Behinderungen als Strafe für Gebotsübertretungen und als Ausdruck von Gottes Zorn und Ferne angeführt.2 Blindheit und Taubheit werden in vielen biblischen Geschichten mit Ignoranz und falschem Handeln verbunden und in der Spätzeit wurden Menschen mit Lernschwierigkeiten im kirchlichen Kontext häufig als besessen bezeichnet und waren brutaler Stigmatisierung und Marginalisierung ausgesetzt.3 Dennoch gibt es auch im Alten Testament Stellen, die eine neutrale bis positive Sicht auf Behinderung zulassen. So wird etwa Mose auserkoren, das Volk Israel zu retten, wenngleich er als Mann ohne Worte beschrieben wird, dessen Mund und Zunge schwer sind (Ex 4,10). Ob Mose lediglich wenig Sprachgewandtheit aufweist, er stammelt oder gar eine Sprachstörung hat, lässt sich nicht eindeutig klären und ist im Grunde auch nicht relevant. Wichtig ist allein die Tatsache, dass JHWH an dieser Stelle einen Mann zum Retter seines geliebten Volkes auserwählt und zu seinem Sprachrohr auserkoren hat, der nach traditionellem Verständnis Defizite aufweist, auf die ein oder andere Art behindert ist.4 Gott vertraut trotzdem (oder vielleicht genau deswegen) auf ihn, niemand sonst soll diese große Aufgabe übernehmen. Auch im Neuen Testament finden sich einige Textstellen, die sich mit Behinderung auseinandersetzen, vor allem im Kontext der sogenannten Heilungs- und Wundergeschichten.

Während Kritik an der wunderhaften Heilung behinderter Menschen in diesen biblischen Erzählungen berechtigt ist, weil damit abermals das Narrativ gefüttert wird, dass Menschen mit Behinderung in ihrem Behindert-Sein nicht vollkommen sind, lassen sich die Geschichten auf zweierlei Weise auch inklusiv deuten.

Zum einen zeugt Jesu Verhalten von einer radikalen Inklusivität, denn in der damaligen Gesellschaft, in der behinderte Menschen kategorisch ausgeschlossen wurden, lässt er sie zu sich kommen, er scheut nicht die Berührung, legt Hand auf und lädt sie sogar aktiv ein, mit ihm zu speisen und zu beten.5 Zum anderen lassen sich die Geschichten auch symbolisch verstehen: Den Evangelisten ging es darum, deutlich zu machen, dass Gottes Wort Augen und Herzen öffnet, dass jene, die das Wort Gottes hören und folgen, aufrecht und mit klarem Verstand durch das Leben gehen; die leibliche Dimension der Heilungen darf dabei in den Hintergrund treten.6

Menschen mit Behinderungen auf Augenhöge begegnen

Der Dämonisierung, Vernachlässigung und Exklusion behinderter Menschen widersprechen auch einer der wichtigsten Lehren Jesu und der Bibel im Allgemeinen: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Mt 22,39). Liebe ist hier nicht als vorübergehendes Gefühl zu verstehen, als eine romantische Zuwendung, sondern als eine Form der bedingungslosen Wertschätzung.

Wer liebt, der begegnet der anderen Person auf Augenhöhe und nimmt sie ernst. Auch behinderte Menschen sind unsere Nächsten und müssen in dieser Konsequenz ernst genommen werden. Sie aus Mitleid in die Gemeinschaft aufzunehmen oder sie als Inspiration zu missbrauchen, wird Jesu Auftrag nicht gerecht.

Menschen mit Behinderung defizitorientiert wahrzunehmen und stets anzunehmen, sie seien weniger fähig, ganz gleich, ob es sich um körperliche, emotionale oder intelligenzbasierte Fähigkeiten handelt, entspricht, wie am Beispiel Mose verdeutlicht, nicht Gottes Vorstellung davon, welche Rolle Menschen mit Behinderung in seinem Schöpfungsplan einnehmen sollen. Denn behinderte Menschen sind, wie alle anderen Menschen auch, nach Gottes Ebenbild geschaffen und individuell begabt. Sie von unterschiedlichsten Aufgaben und Verantwortungsbereichen auszuschließen ist nicht nur unchristlich, sondern führt zu einem großen Verlust an Ressourcen innerhalb unserer Gemeinschaften, da ihre wertvollen Perspektiven und Talente auf diese Weise verloren gehen.

Die Rolle der katholischen Kirche

Die (katholische) Kirche muss Strukturen schaffen, in denen behinderte Menschen nicht nur Positionen am Rand einnehmen können (wie etwa in Kirchen, in denen Rollstuhlfahrer*innen nicht bedacht werden), sondern sie in ihrer Gänze immer und überall gesehen und gehört werden. Das bedeutet unter anderem, dass behinderte Menschen in der pastoralen Praxis mitgedacht werden. Menschen mit Behinderung sollten in der Gottesdienstsprache Erwähnung finden und repräsentiert sein. Barrierefreiheit darf nicht nur bedeuten, eine Rollstuhlrampe anzubieten.

Die Gemeinde muss für Diversität ihrer Mitglieder sensibilisiert werden. Es muss deutlich gemacht werden, dass alle Menschen willkommen sind, unabhängig davon wie ihre Körper aussehen oder welche Geräusche und Bewegungen sie machen.

Im Neuen Testament verkündet Paulus: „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus.“ (Gal 3,28). Dieses Versprechen der Gleichheit und Gerechtigkeit gilt für alle Menschen, also natürlich auch für behinderte Menschen. Paulus‘ Worte erinnern uns daran, dass (körperliche) Unterschiede vor Gott nicht wichtig sind und wir dürfen uns selbst regelmäßig daran erinnern, dass diese Vision kein leeres Versprechen bleibt. Bei jeglichen pastoralen Angeboten sollte dabei stets bedacht werden, dass Menschen mit Behinderung selbst die besten Expert*innen sind und bei allen Überlegungen miteinbezogen werden müssen.7Abschließend geht es natürlich nicht darum, behinderte Menschen aus unseren Gebeten auszuschließen. Es geht vielmehr darum, nicht für die Heilung von behinderten Menschen zu beten (außer es ist ihr expliziter Wunsch). Die Gemeinschaft der Gläubigen muss ihre Perspektive auf Behinderung verändern. Sie darf behinderte Menschen nicht bevormunden und Behinderungen weder dämonisieren noch romantisieren. Es sollte nicht um Heilung gebetet werden, sondern darum, dass Menschen mit Behinderung in dieser Welt und in ihren Gemeinden gehört und respektiert werden und dass ihnen dieselben Chancen zuteilwerden wie allen anderen Gläubigen auch.

Hashtag der Woche: #Behinderung


Beitragsbild: Foto von geralt

1 Vgl. Deutschlandfunkkultur: Julia Watts Belser im Gespräch mit Kirsten Dietrich https://www.deutschlandfunkkultur.de/behinderung-und-glaube-wieso-soll-mein-koerper-kein-100.html, letzter Aufruf 7.10.2024.

2 Vgl. Oeming, Manfred: „Auge wurde ich dem Blinden, und Fuß dem Lahmen war ich!“ (Hi 29,15). Zum theologischen Umgang mit Behinderung im Alten Testament. In: Behinderung – Theologie – Kirche. Beiträge zu diakonisch-caritativen Disability Studies, Band 1: Inklusive Kirche. Eurich, Johannes/Lob-Hüdepohl, Andreas (Hrsg.), Stuttgart 2011, S. 81.

3 Vgl. Ebd. S. 82.

4 Vgl. Ebd. S. 98.

5 Vgl. Kliesch, Klaus: Blinde sehen, Lahme gehen. Der heilende Jesus und seine Wirkungsgeschichte. In: Behinderung – Theologie – Kirche. Beiträge zu diakonisch-caritativen Disability Studies, Band 1: Inklusive Kirche. Eurich, Johannes/Lob-Hüdepohl, Andreas (Hrsg.), Stuttgart 2011, S. 104ff.

6 Vgl. Ebd. S. 104-105.

7 Vgl. Bindseil, Christiane: Inklusiver Gottesdienst. Theorie und Praxis am Beispiel eines Heidelberger Projektes. In: Behinderung – Theologie – Kirche. Beiträge zu diakonisch-caritativen Disability Studies, Band 1: Inklusive Kirche. Eurich, Johannes/Lob-Hüdepohl, Andreas (Hrsg.), Stuttgart 2011, S. 203.

fredi schoenecker

studiert Anglistik, Germanistik und Katholische Theologie, arbeitet als studentische Hilfskraft für die Professur Religionstheologie und Religionswissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt. Fredi ist pflegendes Elternteil und im Bereich der Gleichstellungsarbeit aktiv.

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