Im gestrigen ersten Teil des Interviews hat uns die Forschungsgruppe an der TU Dortmund Einblicke in den Aufbau und erste Ergebnisse ihrer aktuellen Forschungsprojekte zu islambezogenen Kontroversen an Schulen und zu Kontroversen im konfessionellen Religionsunterricht gegeben. Das hat Lust auf mehr gemacht! Wir wollen in diesem zweiten Teil also tiefer einsteigen in die Materie. Unsere Redaktionsmitglieder Hannah Ringel und Claudia Danzer danken den Projektbeteiligten Johanna Hanke, Jan-Hendrik Herbst, Lisa Jesse, Meryem Aydogan und Miguel Zulaica y Mugica für das Gespräch über ihre Forschung!
y-nachten.de: Ziel eures Forschungsprojektes über das Diskursfeld Islam ist es ja, den „sicherheitspolitischen“ Blick auf ein monolithisches Islamverständnis im Religionsunterricht zu verlassen und einen „lebensweltlichen“ Zugang zu ermöglichen. Was versteht ihr genau unter diesem lebensweltlichen Zugang?
Die Verknüpfung eines homogenisierenden Islambilds und sicherheitspolitischer Vorbehalte wurde in unterschiedlichen Studien zur Muslimfeindlichkeit herausgearbeitet. Die Differenz zwischen Islam und Islamismus bleibt dabei häufig diffus und unklar. In den bisherigen Ergebnissen unseres Projekts zeigt sich etwa, dass mit bestimmten Forderungen seitens der Schüler*innen, z. B. nach der Einrichtung eines Gebetsraums an Schulen, die Gefahr des Islamismusverdachts und damit ein entsprechendes Identifizierungs- und Stigmatisierungsrisiko verbunden ist. Grundlegende Probleme in diesem Zusammenhang sind, dass pädagogische Akteur*innen bestimmte Verhaltensweisen (z.B. das Tragen von Hijab) als Radikalisierung übergeneralisieren und Kontroversen kulturalisiert und essentialisiert werden. Mit der Rekonstruktion von Triggerpunkten und Diskursorganisationen ist die Hoffnung verbunden, dass Fragen und Konflikte im Kontext von islambezogenen Kontroversen im Sinne Alfred Schütz‘ und Thomas Luckmanns in die Pragmatik der Lebenswelt und konkreter pädagogischer Problembearbeitungsformen überführt werden können, statt sie auf der Folie eines Kulturkampfes zu interpretieren. Ein solches Deutungsmuster hat eher kontraintentionale Effekte zur Folge und spielt eher islamistischen Gruppierungen in die Hände.
y-nachten.de: Ausgangspunkt eures Forschungsprojekts über Kontroversen im katholischen Religionsunterricht ist der Wunsch, den Beutelsbacher Konsens für den Politik- und Geschichtsunterricht für den Religionsunterricht fruchtbar zu machen: Was gesellschaftlich kontrovers diskutiert wird, soll auch kontrovers im Unterricht dargestellt werden. Mit eurem Aufschlag des Schwerter Konsentes habt ihr bereits einen Auftakt gemacht. Was ist euch dabei wichtig?
Genau, der Schwerter Konsent stellt einen fachdidaktischen Aufschlag dar, um klassische Prinzipien schulischer Bildung in einer liberalen Demokratie – etwa das Indoktrinationsverbot und das Kontroversitätsgebot – auf den konfessionellen Religionsunterricht zu übertragen. Dabei wird eine interessante Spannung sichtbar, weil diese Prinzipien aus religionspädagogischer Perspektive (spätestens) seit dem Würzburger Synodenbeschluss zum Religionsunterricht als selbstverständlich gelten; andererseits konfessionelle Bildung in historisch-vergleichender Perspektive und für säkularistische Akteure wie die Giordano-Bruno-Stiftung oder der humanistische Verband das klassische Beispiel dafür ist, dass diese Prinzipien in der öffentlichen Schule missachtet werden. Eine solche Auffassung teilen wir nicht, aber wir glauben, dass der Religionsunterricht eine eigene Art von Grundsätzen – wie sie mit dem Dresdener Konsens (2016) auch für den Ethik- und Philosophieunterricht vorliegen – benötigt, die der spezifischen Fachlogik gerecht werden.
Das lässt sich am Beispiel des Kontroversitätsprinzips verdeutlichen. Besonders im Politikunterricht geht es häufig um Kontroversen, die auf divergierenden Interessen und/oder Urteilskriterien beruhen; nicht aber um Kontroversen zwischen verschiedenen Weltanschauungen, um die es im Religionsunterricht geht. Robert F. Dearden (1981, 39) formuliert den Unterschied in einem wirkmächtigen Aufsatz so: „This is where not just individual criteria but whole frameworks of understanding are different.“ Intra- und interreligiöse Auseinandersetzungen oder Konflikte zwischen religiösen und nicht-religiösen Weltanschauungen folgen aber einer anderen Logik als ethisch-politische Kontroversen, weil sie grundlegender sind – und nicht die Bewertung von Sachverhalten, sondern die Deutung von Welt infrage steht.
y-nachten.de: Was hat eure Forschung bezogen auf den Schulkontext schon ergeben?
In der Forschung deutet sich an, dass solche Kontroversen von Lehrkräften als besonders sensibel und emotional wahrgenommen werden und Lehrkräfte dazu tendieren, diese Themen nicht anzusprechen und zu vermeiden (Überblick z. B. bei Herbst 2023, 16–17). Kontroversen werden zum Teil sogar über Religion definiert, sie seien „anything that’s going to step on people’s cultural or religious toes”; und in Bezug auf Personen, die Kontroversen verhindern, wird vom „that’s-just-what-I-believe move“ und dem „that’s-what-my-religion-says move“ gesprochen. Das Ziel des Schwerter Konsenses ist es, Lehrkräfte zu ermutigen, Kontroversen auch kontrovers zu behandeln und ihnen dafür Orientierungen an die Hand zu geben. Dass es einen solchen Orientierungsbedarf gibt, zeigt u. E. unter anderem die Tatsache, dass Religionslehrkräfteverbände den Schwerter Konsent aufgreifen und der Konsent auch schon international rezipiert wird (z.B. in Spanien, Italienoder Tschechien).
y-nachten.de: Was braucht ihr aus der „Praxis“, damit diese Grundeinsicht für den Religionsunterricht verbindlich wird?
Vor diesem Hintergrund benötigen wir aus der Praxis drei Impulse: Erstens stellt sich für uns die Frage, welche Vorstellungen von Kontroversität Lehrkräfte mitbringen – und wie diese zum Schwerter Konsent passen. Zweitens ist offen, ob Religionslehrkräfte wirklich so zurückhaltend gegenüber Kontroversen sind, wie es Studien aus dem angloamerikanischen Raum und aus anderen Fächern vermuten lassen. Erste Ergebnisse aus dem Projekt lassen sich durchaus anders deuten, insofern Lehrkräfte eine große Offenheit gegenüber dem Unterrichten von Kontroversen signalisieren und einen souveränen Umgang mit ihnen aufweisen, was auch die Auswertung der ersten beiden im Projekt geführten Interviews bestätigt. Und drittens stellt sich die Frage, welche förderlichen und hinderlichen Bedingungen es aus der Perspektive von Religionslehrkräften gibt, kontroverse Themen konstruktiv im Unterricht zu behandeln. Die Ergebnisse unserer Forschung möchten wir auch in die Lehrkräfteausbildung einfließen lassen – zum Beispiel in Form von Fallvignetten aus den Interviews. Zusammengefasst interessiert uns also, ob aus der Lehrkräfteperspektive die von uns formulierten Ansprüche plausibel und praktikabel sind – und was ihrer Realisierung im Schulalltag entgegensteht.
y-nachten.de: Wo seht ihr weiteren Forschungsbedarf? Was sind eure persönlichen Learnings aus eurer Beschäftigung mit diesen Themenfeldern?
Bei unseren Treffen im Juni und Juli haben wir die sozialwissenschaftliche Studie „Triggerpunkte“ diskutiert, in der es um den gesellschaftlichen Kontext von Kontroversen geht. Die interessante und vieldiskutierte These in der Studie lautet, dass die Gegenwartsgesellschaft nicht prinzipiell polarisiert ist, sondern sich nur dann Konflikte und Debatten entzünden, wenn sog. „Triggerpunkte“ berührt werden. So seien viele Menschen für die Gleichstellung der Geschlechter, aber gegen inklusive „Gendersprache“; sie träten für Umweltschutz, aber gegen „Veggie-Days“ ein. Die drei Sozialwissenschaftler, die die Studie herausgegeben haben, arbeiten nun vier Typen von Triggerpunkten heraus, um ihre „Mechanik“ zu klassifizieren: Menschen werden getriggert, wenn 1) sie sich ungleich behandelt fühlen; 2) gegen ihre Normalitätsvorstellungen verstoßen wird; 3) sie Sorge vor einem Kontrollverlust haben; 4) sie sich in ihrer Autonomie eingeschränkt fühlen. Dieses Diagnosetool ist erst einmal sehr hilfreich für uns. Es lässt sich heranziehen, um Gruppendiskussionen im Projekt „Islam in der Kontroverse“ zu deuten (analoge Methodik: Fokusgruppengesprächen). Es ist aber auch hilfreich, um nachzuvollziehen, wann Schüler:innen oder Lehrkräfte im Unterricht echte Kontroversen anstoßen. Bisherige Forschung deutet an, dass im Religionsunterricht gerade Triggerpunkt 4, das Gefühl der Schüler:innen in ihrer Autonomie eingeschränkt zu sein, wirksam ist.
y-nachten.de: Inwiefern hängt diese Theorie mit euren Projekten zusammen?
Ein Vergleich mit der Triggerpunkte-Studie ermöglicht uns, einen Forschungsbeitrag der beiden Projekte näher zu bestimmen. Wir stellen nämlich fest, dass die vier Typen von Triggerpunkten nicht ausreichen. In der Studie wird so auch kein Vollständigkeitsanspruch erhoben und es wird dezidiert erklärt, dass nur eine begrenzte Auswahl von Konfliktfeldern analysiert wird, wobei religiöse Konflikte tendenziell ausgeklammert werden. Zwar finden sich die vier genannten Typen auch bei religionspolitischen oder kirchenpolitischen Konflikten (z. B. religiöse Symbole im öffentlichen Raum oder Frauenordination). Aber hiervon zu unterscheiden sind noch einmal religiöse und theologische Konflikte (z.B. Sinn der Geschichte und Bilderverbot). Bei diesen haben wir eine eigene Logik entdeckt, die über die Triggerpunkt-Studie hinausgeht: Wir sprechen hier von Sinndestruktion und Sakralitätsverletzung. Jeweils ein Beispiel: Wenn ein muslimischer Schüler sein Entsetzen darüber äußert, dass sein muslimischer Biologielehrer ihm die Evolutionstheorie näherbringt, dann kann sich darin die Zerstörung einer Sinnperspektive artikulieren, weil die Evolutionstheorie als Herrschaft des Zufalls gedeutet wird. Und wenn sich religiöse Personen über blasphemische Darstellungen erregen (z. B. Kunstwerke oder Karikaturen), kann sich darin das Gefühl zeigen, dass hier Heiliges verletzt wurde. Aber auch theologische (z.B. bibelwissenschaftliche) Konflikte können sich natürlich an den vier in der Studie herausgearbeiteten Triggerpunkten entzünden. Das wird etwa deutlich, wenn man das Gleichnis der Arbeiter im Weinberg in der Sekundarstufe I behandelt und die Schüler:innen sich in der großen Tendenz darüber entrüsten, dass alle Arbeiter – unabhängig von ihrer Arbeitszeit – einen Denar Arbeitslohn erhalten (Triggerpunkt 1: Ungleichbehandlung).
y-nachten.de: Vielen Dank für das Interview!
Projektbeteiligte und Interviewpartner:innen:

Johanna Hanke ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Kontroverse Themen im konfessionellen Religionsunterricht“.
Jan-Hendrik Herbst leitet das DFG-Projekt „Kontroverse Themen im konfessionellen Religionsunterricht“.
Lisa Jesse ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im NRW-Projekt „Der Islam in der Kontroverse“.
Meryem Aydogan ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im NRW-Projekt „Der Islam in der Kontroverse“.
Miguel Zulaica y Mugica leitet das NRW-Projekt „Der Islam in der Kontroverse“.
Hashtag der Woche: #LeitkulturStreitkultur
(Beitragsbild: privat)