Paul Draganoff nimmt den Begriff unter die Lupe und zeigt auf, welches Potenzial eine feministische Betrachtung der Männlichkeit Jesu bietet. Zudem diskutiert er, wie die Kirche als ‚Gegenpol zu Formen patriarchaler Dominanz‘ wirken kann.
„Toxische Männlichkeit“ ist für die einen ein Unwort, für die anderen eine treffende Beschreibung männlichen Verhaltens. Oft ist davon auf Social Media zu hören, wenn es um das Patriarchat und patriarchale Konstrukte von Männlichkeit geht. Trotz der weiten Verbreitung handelt es sich einerseits, auch mangels einer anerkannten Definition, um einen umstrittenen Begriff. Und andererseits ist in theologischen Publikationen kaum bis gar nicht davon zu lesen. Doch sollte die Fraglichkeit und Pluralisierung von Männlichkeiten, die sich in Phänomenen wie toxischer Männlichkeit im negativen widerspiegelt, aus folgenden Gründen ein Thema für Theologie und Theologische Ethik sein.
Was meint „toxische Männlichkeit“?
Einerseits meint der Begriff ein antifeministisches, queerfeindliches und frauenfeindliches*Verhalten von Männern als Ausweis ihrer vermeintlichen Männlichkeit. Andererseits geht es um ein für Männer selbst schädliches Verhalten aufgrund patriarchaler Geschlechterstereotypen. Letztlich ist es ein Dominanzverhalten von Männern über andere und über sich selbst.
Diese Dominanz sich selbst gegenüber zeigt sich etwa in einem falschen Verständnis von Selbstbeherrschung, die zu einer Unterdrückung aller als „Schwäche“ auslegbaren Emotionen führt, aus der aber auch die Dominanz über das Umfeld folgt. So ist etwa das risikoreiche Autofahren mit Männlichkeit verknüpft, was zu mehr männlichen als weiblichen Verkehrstoten führt. Ebenso wird toxische Männlichkeit mit einem hierarchisch abwertenden Verhältnis v.a. gegenüber Frauen und alternativen Formen von Männlichkeiten verbunden.
Auch wenn Autor:innen wie Boris von Heesen lieber von toxischen männlichen Verhaltensweisen sprechen, um das Missverständnis zu vermeiden, dass Männer von Grund auf toxisch wären,1 halte ich dennoch am Begriff fest, um damit die „Kosten“ des Patriarchats für Männer selbst auszudrücken. Als Gegenbegriff zu Connells Konzept der patriarchalen Dividende2 kann so Männern aufgezeigt werden, wie sie von der Bekämpfung des Patriarchats profitieren könnten. Zudem hilft es, theologische Reflexionen über Männlichkeit auf ihre Rechtfertigung patriarchaler und (selbst-)schädlicher Stereotypen zu untersuchen.
Ein Thema für die Theologische Ethik?
Einem Diskurs über und einer Pluralisierung von Männlichkeiten steht die reaktionäre Verengung auf eine „natürliche“ oder „gottgegebene“ Maskulinität gegenüber, die sich auch theologischer Begründungen bedient. Zudem sind die vielen Gewalttaten von Männern an Frauen, Kindern und LGBTQI*-Personen jedes tragische Mal ein Weckruf, sich mit patriarchalen, an Dominanz orientierten Männlichkeitsidealen auseinanderzusetzen. Als leidvolle Erfahrungen, die Menschen auf der ganzen Welt in vielfältiger Art und Weise täglich durchleben müssen, sind sie ein Zeichen der Zeit, die somit auch einer theologischen Reflexion bedürfen.
Influencer*innen, die eine „Rückkehr zur echten Männlichkeit“ fordern oder die den Feminismus dafür verantwortlich machen, dass viele junge Männer heute zu „verweichlicht“ seien, um attraktiv auf Frauen zu wirken, haben auf Social Media ein großes, v.a. junges und männliches Publikum. Diese Influencer*innen wie Andrew Tate oder sog. Pick-Up-Artists verbreiten ein Männlichkeitsideal, das antifeministisch, frauenfeindlich, homophob und letztlich selbstschädlich ist. Und gerade darin ähneln sie in der Argumentation rechtsextremen und auch so manchen kirchlichen Widerständen gegen einen „Genderismus“, der die „traditionelle“ Familie und das „christliche Abendland“ zersetze.
Diese Phänomene drücken neben der Suche vieler junger Männer nach einer männlichen Identität auch die Einsamkeit aus, die viele betrifft. Dies zeigt sich beispielsweise in der Subkultur der sogenannten Incels.3 Doch diese geben dem Feminismus und der sexuellen Befreiung der Frau die Schuld an der Misere der Männer. In dieselbe Logik fügen sich dann die „80/20-Regel“4 und die Rede von Alphas, Betas und Sigmas ein,5 sodass die als verweichlicht und damit unattraktiv bezeichneten Männer wieder zur vermeintlich natürlichen, mitunter gottgewollten, Männlichkeit zurückkehren sollen. Damit wird die Täter-Opfer-Umkehr vollendet: Nicht das Patriarchat, das (selbst-)schädliche Männlichkeitskonzepte hervorbrachte, ist schuld, sondern der Feminismus, der die Toxizität der männlichen Sozialisation in patriarchalen Kontexten aufzeigen und bekämpfen will.
Neben antifeministischen Argumenten kommen auch religiöse vor, wonach die natürliche und von Gott legitimierte hierarchische Ordnung der Geschlechter gefährdet und das Leid vieler junger Männer die Folge dessen sei. Hier gilt es, moderne, feministische Theologien zu rezipieren, die kritisch solche theologischen Argumentationen und religiösen Narrative bearbeiten.
Positiv kann die theologische Ethik Konzepte von Caring Masculinities6 aus der kritischen Männerforschung übernehmen, also Männlichkeiten, die sich nicht an Idealen hegemonialer Männlichkeit orientieren, sondern an Werten der feministischen Care-Ethik.
Die Männlichkeit Jesu als Potential?
Zudem könnte eine neue Diskussion über die Männlichkeit Jesu fruchtbringend sein. Gerade der Mann Jesus vereint weiblich konnotierte Eigenschaften wie Geduld, Empathie und Liebe mit männlich konnotierten Eigenschaften wie Macht, Herrschaft oder Wut. Diese, von manchen als ambivalent erfahrene, Männlichkeit Jesu machte es etwa im 19. Jahrhundert für etliche Theologen notwendig, Jesus in die Männlichkeitsideale der Zeit einzupassen. Gleichzeitig wurde auch die sog. „female Christology“ bekämpft, in der sich Frauen mit Christus identifizieren konnten, um sich gegen die göttlich und natürlich „legitimierte“ Unterordnung der Frau zu wenden.7
Heute könnte gerade diese vermeintliche Ambivalenz Jesu Vorbild für neue Männlichkeitskonzeptionen sein. Kann man hier nicht eine Parallele zur Entwicklung der Caring Masculinities sehen, da Jesus in patriarchalen Gesellschaften weiblich konnotierte und damit meist abgewertete Eigenschaften, wie Geduld, Barmherzigkeit, Empathie in seiner Männlichkeit vereint? Denn selbst die ach so weibliche und damit ins Private verbannte Liebe wird bei Christus zu einem leitenden Prinzip.
Die Potentiale sind also vorhanden, doch fehlt es noch an der Thematisierung toxischer Männlichkeit und patriarchaler Strukturen in der Mainstream-Theologie. Die Theologische Ethik könnte säkulare Konzepte wie die Caring Masculinities in Form eines fruchtbaren Dialogs aufgreifen und um theologische Prinzipien und Modelle erweitern. Die Praktische Theologie könnte darauf aufbauend entsprechende pastorale Konzepte entwickeln. Die Kirche hätte damit die Chance, als Gegenpol zu Formen patriarchaler Dominanz-Männlichkeiten aufzutreten. So wäre es beispielsweise möglich, in Formen der Firm- und Ehevorbereitung alternative Konzepte von Männlichkeiten zu thematisieren.
Es gilt also, die Zeichen der Zeit zu erkennen und die vielfältigen Potentiale zu nutzen, um Männlichkeiten jenseits von Dominanz, Herrschaft und Gewalt gegen andere und letztlich gegen sich selbst zu konzipieren. So kann ein theologischer Beitrag gegen den antifeministischen Backlash geleistet werden, der zudem auch Männern zeigen soll, wie sie selbst von einer Abschaffung des Patriarchats profitieren könnten.
Hashtag der Woche: #toxischemännlichkeit
Beitragsbild: Gift Habeshaw auf Unsplash
1 Vgl. Von Hessen, Boris: Was Männer Kosten. Der hohe Preis des Patriarchats, München 2022, 15.
2 Vgl. Connell, Raewyn: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Wiesbaden 42015, 133: Damit sind alle Vorteile gemeint, die (v.a. weiße) Männer qua ihrer Geschlechtszuordnung in einer patriarchalen Gesellschaft genießen und die auch der Grund sind, warum so viele Männer dem Feminismus und dem Einsatz für mehr Geschlechtergerechtigkeit gleichgültig bis negativ gegenüberstehen.
3 Involuntary Celibate (=Incel) Men ist eine Internet-Subkultur mehrheitlich junger Männer, die sich durch den Feminismus um ihren Anspruch auf Sex mit Frauen betrogen fühlen. Der sich daraus entwickelnde Frauenhass kann bis zu Anschlägen führen (siehe Elliot Rodger). Zum Thema: Kracher, Veronika: Incels. Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults, Mainz 2020.
4 Aufgrund der sexuellen Befreiung der Frau und des Feminismus würden sich 80% der Frauen die attraktivsten 20% der Männer (Alphas) aufteilen können, sodass für die restlichen 80% Männer keine Frauen mehr übrigbleiben und sie so zu Einsamkeit verdammt seien. [Allein schon in diesen Formulierungen zeigt sich ein problematisches Frauenbild].
5 Vgl. Kaiser, Susanne: Politische Männlichkeit. Wie Incels, Fundamentalisten und Autoritäre für das Patriarchat mobilmachen, Berlin 2020, 28.
6 Vgl. Elliott, Karla: Caring Masculinities. Theorizing an Emerging Concept, in: Men and Masculinities 19 (3/2016), 240-259.
7 Vgl. Schubert, Anselm: Christus (m/w/d). Eine Geschlechtergeschichte, München 2024.