Was bedeutet es, sozialethisch zu denken und zu forschen angesichts der ökologischen Krise? Verändert die Klimakatastrophe, wie wir aus christlicher Sicht Ungerechtigkeiten sehen, beurteilen und wie wir handeln? Diese Fragen haben sich die Teilnehmenden beim Forum Sozialethik 2024 gestellt. Seit 1990 wird dieses Forum, unterstützt von der Kommende Dortmund, jährlich von jungen Sozialethiker*innen aus dem deutschsprachigen Raum gestaltet. Edith Wittenbrink gibt einen Einblick in die Themen und Diskussionspunkte der Tagung.

Auf der Suche nach Neuorientierungen

Das Vorbereitungsteam aus Timo Hartmann, Esther Jünger, Pavlos Leußler und Alexandra Palkowitsch stellte das Treffen vom 9.-11. September in der Katholischen Akademie Schwerte unter den Titel: „Gegen das Aus im gemeinsamen Haus! Die ökologische Krise – Paradigmenwechsel in der Christlichen Sozialethik?“ Folgerichtig schlugen sie zum Einstieg thesenhaft vier Bereiche vor, in denen Paradigmenwechsel festzustellen sind oder nötig sein könnten:

  1. im grundlegenden Verständnis des Verhältnisses von Mensch und Natur, weg von einem Anthropozentrismus hin beispielsweise zu einem Biozentrismus
  2. bezüglich der Fragen nach der Verantwortung für die zerstörerischen Veränderungen im Kontext der Rede vom Anthropozän
  3. in der kirchlichen Sozialverkündigung, in der die Enzyklika Laudato Si’ 2015 einen grundlegenden Kurswechsel in der Beschäftigung mit gesellschaftlichen Fragen als untrennbar mit ökologischen verknüpft eingeleitet haben könnte
  4. im Selbstverständnis der christlichen Sozialethik, weg von einer primär gesellschaftskritischen hin zu einer transformatorischen Disziplin, die sich aktiv in Veränderungsprozesse einbringt.

12 Beiträge von Studierenden, Promovierenden und Habilitierenden in der Sozialethik und angrenzenden Gebieten beleuchteten dann ein breites Spektrum an Zugängen zu den aufgeworfenen Fragen. Im Programm sind alle Themen und Vortragenden zu finden – hier soll es anhand von Beispielen um einzelne lohnende Linien gehen, die sich ausmachen ließen.

Welche Kategorien helfen weiter?

Um eine Alternative zum Anthropozentrismus vorzuschlagen, stellte Simon Reiners Sorge als nötiges neues Paradigma vor, und zwar anschließend an Donna Haraway1 mit Blick auch auf mehr-als-menschliche Beziehungen:

Da das Verhältnis zwischen Menschen und Pflanzen, Tieren sowie unbelebter Natur in der Krise ist, brauche es ein neues Verständnis von Verantwortung.

Für Reiners sind daher statt abstrakter Handlungsimperative sorgsame Geschichten ein verheißungsvoller Weg, um sich ethisch mehr-als-menschlichen (Über-)Lebensformen zu widmen. Als Beispiel beschrieb er das so genannte Eco-Commoning als ein vernetztes, prozessorientiertes Sorgen und Pflegen der Welt, in Kooperation zwischen menschlicher und nicht-menschlicher Natur. Auch weitere Beiträge nahmen eine solche posthumanistische Perspektive ein, um ganz grundlegende Veränderungen etwa von Wirtschaftssystemen zu fordern. Bei aller Zustimmung zu der Diagnose und zu der Notwendigkeit, narrative Dimensionen von Ethik stärker in den Blick zu nehmen, ergaben sich daraus neue Fragen: Bleibt nicht eine wichtige Asymmetrie dadurch bestehen, dass nur Menschen Schuld an der Krise tragen und bewusst Verantwortung übernehmen können? Und könnte so eine fundamental ansetzende Kritik vielleicht sogar verhindern, dringend nötige konkrete Maßnahmen zur Begrenzung ökologischer Katastrophen voranzutreiben?

Hin zu ökologisch-sozialer Gerechtigkeit?

Ein weiterer Zugang war, angesichts der Krisenfolgen ökologische Gerechtigkeit selbst als sozialethisches Paradigma auszubuchstabieren. Noreen van Elk wies mit Blick auf die christliche Friedensethik darauf hin, dass eine Rezeption der komplexen außertheologischen Forschungslage zum Thema Klimakrise und Konflikte Not tut. Sie skizzierte einen möglichen Paradigmenwechsel zu einem neuen Grundverständnis von ökologisch-gerechtem Frieden, in dem Schöpfungsverantwortung entweder als neue Säule im bisherigen katholischen Verständnis von gerechtem Frieden oder sogar als Basis aller weiterer Faktoren (wie Menschenrechtsschutz und Demokratieförderung) fungieren könnte.

Wie in der Friedensethik ist es heute in sämtlichen sozialethischen Feldern dringend nötig, die Veränderungen von Grundannahmen aufgrund der ökologischen Krise zu durchdenken.

Impulse für Politik und Wirtschaft

Wie müssten politische Prozesse sich verändern, um endlich angemessen auf die Krise reagieren zu können? Ivo Frankenreiter stellte Felix Heidenreichs „Republikanismus der Nachhaltigkeit“2 als Vorschlag für einen politischen Paradigmenwechsel vor, der die Gestaltung von Lebenswelten stärker ins Zentrum stellt. Er reflektierte Heidenreichs Vorschläge zum Beispiel für neue Beteiligungsformen wie Bürgerräte kritisch-konstruktiv und stellte ergänzend fest, dass diese institutionellen Schutz benötigen vor gefährlichen Dynamiken wie von rechts außen und dass es gesellschaftliche Vermittlungsinstanzen brauche. Zu diesen zählte er Religionsgemeinschaften.

Nicht nur hier war also das Plädoyer zu hören, theologisch-kirchliche Traditionen und Räume intensiver für Diskurse zum Umgang mit der ökologischen Krise zu nutzen – was auch eine Aufgabe für Sozialethiker*innen impliziert, wenn diese ihr Fach als Brücke zwischen Kirche und Gesellschaft verstehen.

Offene Fragen und viel Inspiration

Interessanterweise nur am Rande zur Sprache kamen Fragen nach spezifischer Schuld und Verantwortung, jenseits „der Menschheit“ als Ganzes: Es wurde thematisiert, dass manche lieber von „Kapitalozän“ sprechen, um fossile Konzerne als Krisenverursacher sichtbar zu machen.

Was aber könnte die Rolle von Sozialethik sein angesichts des bleibenden Einflusses solcher Akteure, gezielter Desinformation und Individualisierung von Verantwortung?

Eindeutige Antworten auf die Leitfragen gab es nicht, dafür zahlreiche Denkanstöße in verschiedenste Richtungen. Dank umsichtiger Programmplanung ermöglichte unter anderem ein „Paradigmenspaziergang“ im Wald, die Meta-Fragen in kleineren Gruppen zu diskutieren. Die Gelegenheit, einen spirituellen Zugang zu dem Thema zu finden, bot eine ebenfalls vom Tagungsteam vorbereitete Wort-Gottes-Feier.

Nicht nur beim Forschungsaustausch am ersten Abend, bei dem eigene Projekte und Fragen diskutiert werden konnten, sondern auch insgesamt zeigte sich an den drei Tagen wieder einmal der große Wert dieses Forums auch jenseits der fruchtbaren inhaltlichen Debatten: Die Gelegenheit, sich kennenzulernen, wiederzutreffen, zu vernetzen und voneinander zu lernen macht dieses Format in unterschiedlichen Phasen des sozialethischen Lernens, Forschens und Arbeitens attraktiv. 2025 wird sich das Forum vom 15.-17. September dem Thema Demokratie widmen und damit sowohl auf Entwicklungen angesichts der Wahlen dieses und nächstes Jahr reagieren als auch an offene Fragen zu politischen Herausforderungen angesichts der ökologischen Krise anknüpfen.



Hashtag der Woche: #SozialethikForFuture

Beitragsbild: Kevin Snyman auf pixabay

1 Haraway, Donna J. (2016): Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthulucene; Durham.

2 Heidenreich, Felix (2023): Nachhaltigkeit und Demokratie. Eine politische Theorie; Berlin.

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edith wittenbrink

ist überzeugte Wiederholungsteilnehmerin auf dem Forum Sozialethik. Sie promoviert zu weißen Privilegien und Rassismus aus dekolonialer Perspektive und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Sozialethik der katholisch-theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

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