Am 11. September 2024 wird in Deutschland der Tag der wohnungslosen Menschen begangen. Aus diesem Anlass haben wir einen Obdachlosenseelsorger gebeten, von seinen Erfahrungen zu berichten. Stefan Burtscher ist Seelsorger für obdachlose Menschen in Köln und er erlebt in seiner Arbeit immer wieder: Die Straße ist Gottes so voll!

Seit den 1990er Jahren gibt es in Köln ein seelsorgerisches Angebot für obdachlose Menschen. Seit 2004 mit eigenen Räumlichkeiten und eigener Kirche. An zwei Nachmittagen pro Woche öffnen Sr. Christina Klein OSF und ich, Stefan Burtscher, unterstützt von einem Team von ehrenamtlichen Mitarbeitenden das GUBBIO – benannt nach der franziskanischen Legende vom Wolf von Gubbio.1 Bis zu 50 Gäste finden hier eine Unterbrechung von den Strapazen ihres Alltags auf der Straße und werden mit Kaffee, Tee, belegten Broten und Kuchen versorgt. Dabei treffen sie auf offene Ohren für ihre Sorgen und Fragen. Besonders in den Wintermonaten ist die Nachfrage nach Zelten, Isomatten, trockenen Schuhen und warmen Socken, die wir aus unserer kleinen Kleiderkammer zur Verfügung stellen können, hoch. In den heißen Sommermonaten suchen die Gäste vermehrt nach einer Abkühlung und erkundigen sich nach sicheren Schlafplätzen in der Stadt. Die Besucher:innen von GUBBIO sind vielfältig: Obdachlose Menschen, Menschen, die inzwischen in einer Einrichtung der Wohnungslosenhilfe Unterschlupf gefunden haben, psychisch kranke Menschen sowie Betroffene von Altersarmut – Menschen in allen Facetten der Bedürftigkeit. Manche von ihnen kommen seit Jahren regelmäßig, andere nur sporadisch. Viele kehren nach einer längeren Pause auf Reisen, im Krankenhaus, in der Entgiftung oder im Gefängnis zurück, andere nicht.2

Gast und Gastgeber sein.

Die Gemeinschaft, die sich in GUBBIO trifft, versteht sich als franziskanisch geprägte christliche Personalgemeinde. Sie feiert gemeinsam, wenn es Grund zur Freude gibt, und trauert, wenn jemand aus der Welt der Straße verstirbt und auf dem eigenen Gräberfeld beigesetzt wird. Sie bemüht sich, dort zu helfen, wo es möglich ist, und gemeinsam auszuhalten, wo selbst große Bereitschaft und Engagement keine Verbesserung bringen kann. Ein besonderes Anliegen der Obdachlosenseelsorge liegt in den regelmäßigen pastoralen Angeboten. Diese bestehen aus dem wöchentlichen Bibelteilen zum jeweiligen Sonntagsevangelium, gemeinsam gefeierten Gottesdiensten, Meditationsangeboten, Filmnachmittagen und monatlichen Glaubensgesprächen zu Themen, die sich die Gäste wünschen. Die Beziehungen, die aus diesen Begegnungen entstehen, sind geprägt von gegenseitigem Vertrauen und dem voneinander und miteinander Glauben-Lernen. Besonders intensiv ist dies bei jährlichen Exerzitien erfahrbar, bei denen eine Gruppe aus GUBBIO auf die Suche nach Zeichen der Gegenwart, des Wirkens und der Liebe Gottes im eigenen Leben geht. Genauso wertvoll sind gemeinsame Pilgerfahrten, Wanderungen und Ausflüge, die den Alltag unterbrechen und ein wenig Glanz ins Leben der Menschen bringen.3 In diesen Zeiten des Miteinanders wird spürbar, wie ernsthaft und tief sich die Gäste von der Straße mit den großen Fragen des Lebens und des Glaubens auseinandersetzen und wie für viele von ihnen die persönliche Gottesbeziehung – ganz unmittelbar und lebendig – das Fundament ihres Lebens ist.

Neben den Angeboten in der Kirche von GUBBIO ist es uns Seelsorgenden ein großes Anliegen, auch auf den Straßen und Plätzen Kölns präsent zu sein. Wir möchten nicht nur gelegentliche Besucher:innen bei obdach- und wohnungslosen Menschen sein, sondern als Gäste auf Augenhöhe in ihre Lebenswelt eintreten und das Leben miteinander teilen.

So erfahren wir aus erster Hand, wie die Herausforderungen des Lebens auf der Straße konkret aussehen, sich anfühlen und manchmal auch riechen.

Die Begegnungen geschehen ohne jede Bedingung und ohne eigene Absicht, getragen von der Haltung der Wertschätzung, der unverbrüchlichen Bestätigung der Würde eines jeden einzelnen Menschen und der Zusage, dass Gott jeden Menschen bedingungslos liebt. Ein zentraler Orientierungspunkt für das eigene Handeln ist dabei das Bewusstsein, dass echte Begegnung nur auf Augenhöhe gelingen kann. Diese Haltung stellt sicher, dass Hilfe nicht über die Köpfe der Menschen hinweg und an ihren tatsächlichen Bedürfnissen vorbei geschieht. Um diesem Anspruch gerecht werden zu können, hilft die Aufforderung von Papst Franziskus, der dafür wirbt, den „Stallgeruch der Schafe“ 4 anzunehmen, sowie die Erkenntnis von Madeleine Delbrêl: „Die Liebe ist unsere einzige Aufgabe.“5Genauso handlungsweisend ist die jesuanische Frage „Was willst du, dass ich dir tue?“ (Lk 18,41).

Die Begegnungen mit den Menschen auf der Straße sind vielfältig und von intensiven Emotionen geprägt.

Freude, Hoffnung, Trauer und Angst sind allgegenwärtig und durchdringen jede Begegnung – mal offensichtlich, mal im Verborgenen.

Die Straße kann so zum Ort werden, an dem auf eine ganz besondere Weise theologische Erkenntnis gewonnen, Glauben erfahren und glauben gelernt werden kann – weit entfernt von akademischer Theologie, verstaubtem Katechismus oder umständlichem kirchlichem Lehramt. Hier, im unmittelbaren Leben auf der Straße, im ständigen Balanceakt entlang der Grenze zwischen scheinbar normaler Gesellschaft und scheinbar eigentümlicher Existenz außerhalb der Gesellschaft,6 zeigt sich die Welt als Ort, an dem Gottes Gegenwart, Wirken und Liebe sichtbar wird. Manchmal auf den ersten Blick, oft aber auf einen zweiten, von der Sakramentenlehre von Leonardo Boff7 geprägten Blick, ist die Gegenwart Gottes, nicht nur im Sakrament des Zigarettenstummels,8 nicht zu übersehen.

Spuren Gottes

Eines dieser Zeichen der Liebe Gottes in der Welt zeigte sich an einem besonderen Weihnachtsfest während der Corona-Pandemie: Nach einem festlichen Gottesdienst, der von vielen Menschen besucht wurde, gab es ein gemeinsames Weihnachtsmahl und eine Bescherung für alle Anwesenden. Anschließend übernachteten etwa 20 Gäste in der Kirche – für einige nichts Neues, da sie Stammgäste im „Nachtcafé“9 sind. Doch an diesem Heiligen Abend waren es mehr Gäste als sonst, darunter auch zwei Männer, die schon seit 15 Jahren gemeinsam „Platte machen“10. Beide sind suchtkrank und vom harten Leben auf der Straße gezeichnet. Ihre Körper sind krank, die Blicke leer, die Hoffnung auf Besserung längst aufgegeben. Ihre Leben sind untrennbar miteinander verbunden – der eine kann nicht ohne den anderen. Der jüngere der beiden meidet seit Jahren geschlossene Räume, weil es ihm dort zu eng ist. Dennoch blieb er in dieser Nacht dem anderen zuliebe in der Kirche, obwohl er kein Auge zu tat. Wie ein Hirte auf dem Feld wachte er über seinen Freund und saß die ganze Nacht auf einem Stuhl neben ihm, nur unterbrochen von gelegentlichen Zigarettenpausen. Bereits am Abend hatte er uns Seelsorgende beschenkt:

„Hier, ich habe eine Bibel für euch mitgebracht. Ihr könnt sie sicher besser brauchen – ich kann nicht lesen.“

In dieser stillen, regelmäßig von lautem Schnarchen durchbrochenen, Nacht lehrte er uns durch seinen Hirtendienst, was es bedeutet, wenn Jesus uns aufträgt, einander zu lieben (vgl. Joh 15,12). Seine Fürsorge, seine Hingabe und sein Verzicht in dieser Nacht waren ein lebendiges Zeugnis dieser Liebe – ein Zeichen, das berührt und deutlich macht, dass er die Botschaft Jesu mit ganzem Herzen verstanden hat und sie nach seinen Möglichkeiten lebt.

Die Straße ist nicht nur voller Spuren Gottes, sondern auch voller Sehnsucht nach ihm. Diese Sehnsucht zeigt sich auf sehr unterschiedliche Weise bei den Menschen die unterwegs anzutreffen sind. Da ist Peter, der seine Sehnsucht nach Gott seit vielen Jahren mit seinem täglichen, intensiven Studium der Psalmen stillt. Katharina erzählt immer wieder davon, dass sie jeden Tag mit Jesus spazieren geht. „Jesus ist mein Freund, wenn mir im Alltag alles zu viel wird, kann ich zu ihm kommen und bei ihm ruhig werden.“, sagt sie. Und dann ist da Hans. Bei ihm ist die Sehnsucht nach Gott ein ständiges Ringen. Er schwankt zwischen Hoffen und Verzweifeln, denn er hält die Stille Gottes kaum aus. Er kämpft mit Behörden und mit den Widerständen, die ihm das Leben täglich entgegenstellt, und fragt sich immer wieder, warum Gott im Angesicht seines Leides schweigt. In dieser Vielfalt spiegelt sich das ganze Spektrum des Glaubens wider, von tiefer Geborgenheit bis zu verzweifeltem Suchen.

Ich begegne dem auferstandenen und vergebenden Christus, der mit seinem Tod aus Liebe die Spirale aus Hass und Gewalt durchbrochen hat, wenn ich Ramona treffe. Im Alter von sieben Jahren wurde sie zum ersten Mal von ihrem eigenen Großvater vergewaltigt. Ihre Mutter glaubte ihr nicht und hat sie immer wieder zu ihm gebracht. 50 Jahre später sitzt sie neben mir und sagt:

„Meinen Hass bekommen sie nicht. Ich mache in der Spirale von Gewalt und Hass nicht mit. Sie haben vieles in meinem Leben zerstört, aber ich habe gelernt, sie nicht mehr zu hassen. Seitdem kann ich wieder leben, ich bin nicht mehr nur Opfer, ich lebe mein Leben.“

Die Frau weiß es nicht, aber sie hat mir dabei geholfen, das Geheimnis von Ostern, die Botschaft, dass die Liebe den Hass besiegt, besser zu verstehen.

Ich begegne Christus, der seinen Jüngern die Füße wäscht, wenn ich Josef die Haare schneiden darf. Seit über 20 Jahren lebt er auf der Straße. Und entsprechend ist er vom Leben gezeichnet. Seine Beine sind übersäht mit offenen Wunden, sein Körper voller Narben, Zähne hat er kaum noch welche, seit zwei Jahren sitzt er im Rollstuhl. Dusche oder Badewasser hat er seit sehr langer Zeit gemieden. Er hat so viel Schlimmes auf der Straße erlebt, dass er kaum noch jemanden an sich heranlässt. Und doch fragt er mich eines Tages ob ich ihm seine Haare schneiden kann. So stehen wir eines Dienstagnachmittags auf dem Gehweg vor GUBBIO und er lässt sich von mir die Haare schneiden. Vorbeigehenden Passant*innen entgeht bestimmt nicht, dass ich für‘s Haareschneiden so gar kein Talent besitze und doch ermutigt mich Josef dazu weiterzumachen. Es ist aber nicht mein haareschneidender Liebesdienst, der mich an die Fußwaschung Jesu erinnert.

Es sind seine Erlaubnis, ihn berühren zu dürfen, ihm die Haare schneiden zu dürfen, seine Offenheit, seine Berührbarkeit und sein völlig unbegründetes Vertrauen, womit er mir die Füße wäscht.

Hashtag der Woche: #obdachlosundgottesvoll


Beitragsbild: Der Kölner Dom vom Bahnhof aus fotografiert, von Stefan Burtscher

 

1 Vgl. Von Celano Thomas, (Übersetzung von Koch Raimondo) Die Fioretti des heiligen Franziskus von Assisi, Assisi 1985, S. 86 ff.

2 Mehr zur Arbeit der Obdachlosenseelsorge in Köln unter: https://gemeinden.erzbistum-koeln.de/gubbio_obdachlosenseelsorge/start/ [28.08.2024].

3 Vgl. Domin Hilde, Die Heiligen, in: Nur eine Rose als Stütze: Gedichte, Frankfurt am Main 1994, „Wir essen Brot und leben vom Glanz“.

4 Vgl. Papst Franziskus, Predigt bei der Chrisam-Messe, Gründonnerstag 28. März 2013, abrufbar unter: https://www.vatican.va/content/francesco/de/homilies/2013/documents/papa-francesco_20130328_messa-crismale.html [28.08.2024].

5 Vgl. Schleinzer Annette, Die Liebe ist unsere einzige Aufgabe: Das Lebenszeugnis von Madeleine Delbrêl, Kevelaer 2019, S.62.ff.

6 Vgl. Luther Henning, „Grenze“ als Thema und Problem der Praktischen Theologie in Religion und Alltag, Stuttgart 1992, S. 45 ff.

7 Vgl. Boff Leonardo, Kleine Sakramentenlehre, Düsseldorf 1994.

8 Vgl. Ebd. S.33ff.

9 Das Nachtcafé ist ein niederschwelliges Übernachtungsangebot für obdachlose Menschen, das von verschiedenen Kirchengemeinden in Köln zwischen November und März ermöglicht wird. In Gemeinderäume, Kirchen o.ä. erhalten die Gäste einen warmen und sicheren Schlafplatz, ein warmes Abendessen und ein einfaches Frühstück und werden von ehrenamtlichen Mitarbeitenden betreut.

10 Umgangssprachlich für „obdachlos sein“. Die „Platte“ ist der Schlafplatz bzw. das Lager von einem obdachlosen Menschen.

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stefan burtscher

studierte katholische Theologie in Innsbruck. Er ist Pastoralreferent und Obdachlosenseelsorger in Köln und promoviert in Münster im Fach Pastoraltheologie zum Thema "Theologie der Straße".

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