„für andere, für uns“ ist der zweite Roman der österreichischen Autorin Claudia Endrich und 2024 im Bonifatius Verlag erschienen. Es ist ein Roman „über die katholische Kirche, wie sie ist und wie sie sein könnte.“ – so im Klappentext beschrieben – und: „über Machtverhältnisse, ihre Verschiebung und die Kraft echter Berufung.“ Ein Leser:innenrückblick von Magdalena Collinet.
Rita, die Protagonistin des Romans, studierte Theologie in Innsbruck. Ich habe das auch einmal gemacht – katholische Religionspädagogik studiert an der Uni Innsbruck. Rita setzt sich für die Weihe von Frauen ein, für eine Öffnung der katholischen Kirche, sie organisierte als Studentin einen Aktionstag zu diesem Thema (by the way: mit dem Titel „weil Gott es so will“)2 – auch Dinge, die ich tue oder getan habe. Das war’s zwar erst einmal mit den Gemeinsamkeiten, aber noch nie habe ich mich mit einer fiktiven Figur aus einem Roman so identifizieren können wie mit Rita. Innerhalb weniger Tage habe ich das 464 Seiten dicke Buch von Claudia Endrich gelesen und mich ständig gefragt „was tut Rita als Nächstes?“, „würde ich auch so handeln?“, „müsste ich es vielleicht sogar?“. Auch wenn Geschichte und Figuren fiktiv sind, kommen sie kirchlich sozialisierten Personen bekannt vor. Es sind Figuren, die wir (wieder)erkennen, Geschichten, die das Leben schreibt und Sehnsüchte, die (links-katholische) Menschen umtreiben.
Aber nochmal auf Anfang
Rita beginnt ein Theologiestudium und zieht dafür in die Stadt in den Bergen – Innsbruck – weil ihr Großvater dort gelebt und ihr eine Wohnung hinterlassen hat. Die Wohnung ist groß, also vermietet sie ein Zimmer an eine Studienkollegin – Judith – die als ihr Gegenpol funktioniert: laut, lustig, schrill gekleidet und immer gern im Mittelpunkt. Rita hingegen ist sich nicht ganz sicher, wie sie erklären soll, warum sie Theologie studiert (es ist immer ein gutes Studium, um Eltern zu schocken), sie ist lieber allein, ruhig und denkt viel nach. Sie begegnet dem Jesuitenpater Sebastién kurz vor seiner Weihe und zwischen den beiden entwickelt sich eine Beziehung, die dem Zölibat und dem Priester- bzw. Ordensleben widerspricht.
Während die Zeit des Studiums in Rückblenden erzählt wird, spielt sich die literarische Gegenwart des Buches ein paar Jahre später ab: Rita ist die neue Pastoralassistentin in einer kleinen Pfarre in der Nähe von Wien. Sie will endlich als Seelsorgerin arbeiten, nachdem sie einige Jahre in Italien als Bibliothekarin gearbeitet und somit vor der Kirche – aber nicht vor der Seelsorge – geflüchtet ist.
In diesem Moment klopfte es an die Fensterscheibe. Rita sah nur eine kleine Hand und einen braunen Lockenkopf. […] Da stand ein etwa siebenjähriger Junge mit Schulrucksack und blinzelte zu ihr hinauf, sein offener Mund stellte eine beeindruckende Zahnlücke zur Schau.
„Bist du Frau Rita?“
„Ja, die bin ich. Und wer bist du?“
„Maurizio heiße ich. Meine Mamma hat gesagt, dass du mir ein Kreuzzeichen geben kannst, stimmt das?“
[…] „Ich hab gestern die Messe verschlafen, und normalerweise bekomme ich dort immer ein Kreuzzeichen. Ich brauche das heute für den Mathetest, weißt du.“3
Der kleine Maurizio ist einer von vielen Menschen, die Rita an ihrem neuen Wirkungsort begegnen. Der Religionslehrer im Dorf wird ein guter Freund von ihr, die Organistin, die Yoga-Lehrerin… es sind viele Menschen, die diese Pfarre ausmachen und Rita ist für sie alle als Seelsorgerin da. Sie wird angefragt und gebraucht, es gibt immer wieder kleine Stupser, die sie dazu bringen ihre Berufung mehr und mehr zu leben. Gleichzeitig frage ich mich, ob Rita ein zu perfektes Idealbild einer Pastoralassistentin verkörpert. Sie lebt in der Pfarre, in der sie arbeitet, freundet sich mit ihren Arbeitskolleg:innen an, hat fast keine Zeit für Hobbys und nimmt die Sorgen und Nöte ihrer Gemeindemitglieder regelmäßig mit nach Hause. Ist es das, was von Pastoralassistent:innen erwartet wird und was diese von sich selbst erwarten? Vollkommene Hingabe an den Beruf und die Berufung?
Ein Buch (nur) für Theolog:innen?
Die Autorin Claudia Endrich hat selbst nicht Theologie studiert, sondern Kommunikationswissenschaften und Romanistik. Durch Gespräche mit Theologinnen und ihr Einfühlungsvermögen hat sie es aber geschafft, viele Gefühle, die ich selbst aus meiner Studienzeit kenne, sehr passend in Worte zu fassen.
Manchmal hatte Rita während eines Gottesdienstes das Gefühl, als würde sie sich selbst noch etwas ungläubig von außen beobachten. Wie sie da in der Bank saß, die Knie eng aneinander, manchmal etwas hochgezogen, wie sie die Füße auf der Kniebank abgestellt hatte. Die Hände irgendwo im Schoß verknotet, nicht richtig gefaltet, aber die Linke halt doch mit der Rechten irgendwie verbunden. Seit ein paar Wochen ging sie also regelmäßig in die Messe. Und fragte sich oft, warum überhaupt. Sie hatte das Gefühl, dass sie das tun sollte – als Theologiestudentin. Dass sie hier etwas erfahren würde, ein Geheimnis, das sie unbedingt kennen sollte.4
In meiner Ausgabe des Buches steht bei dieser Stelle am Rand: „So ging es mir anfangs auch“. Einfach so in die Kirche gehen, ohne dass die Eltern es sagen oder man dort eine Aufgabe hat (als Ministrantin)? Und welche Messen entsprechen meiner Spiritualität? Wo finde ich eine Gemeinschaft, die mir gut tut? Diese Fragen beschäftigen am Beginn eines Theologiestudiums bzw. sie haben mich beschäftigt (und ich habe noch keine fertigen Antworten). Der:die Leser:in begleitet Rita bei unterschiedlichen Messen, Liturgien und Sakramenten. Es sind ganze Predigten zu lesen, stille Gebete und liturgische Formeln. Für Theolog:innen bzw. auch für kirchliche Menschen ist das ein Stück Heimat – etwas das bestimmt ganz unterschiedliche Gefühle auslösen kann. Für Theolog:innen ist das auch Teil ihres Berufes, vielleicht sogar Berufung (so wie für Rita). Wie aber liest sich der Text für Menschen, die mit Kirche nichts oder nichts mehr zu tun haben (wollen)? Kann das Buch noch über die übliche Kirchen-Bubble hinaus wirksam werden? Das wird sich zeigen und wäre wünschenswert, denn Ritas Geschichte zeigt (unter anderem), dass nicht alle Menschen, die im System Kirche arbeiten mit den Ungerechtigkeiten des Systems einverstanden sind. Dass Menschen dagegen ankämpfen und trotzdem (noch) Teil dieser Kirche bleiben.
Meine engen Grenzen?
Rita übertritt Grenzen. Offizielle Grenzen der römisch-katholischen Kirche und individuelle, innere Grenzen katholisch sozialisierter Menschen. Bei vielen ihrer Handlungen ist klar, das darf sie nicht, aber nie zeigt sich: das kann sie auch nicht. Rita nimmt Kindern und Jugendlichen die Beichte ab, sie spricht die Taufformel aus einem Impuls heraus, sie segnet und spendet Sakramente – Schritt für Schritt, immer eines nach dem anderen. Nichts davon tut sie aus einem Kalkül heraus, sie hat keinen Plan, um diese Kirche umzustülpen, sie folgt einfach ihrer Berufung und versucht den Menschen als Seelsorgerin beizustehen. Trotzdem merke auch ich als (links-katholische) Leserin, wie Rita meine Grenzen des Sagbaren und Machbaren überschreitet oder zumindest tangiert. Ist ihr Weg der Richtige? Den Anspruch hat nicht einmal die Romanfigur selbst. Sie will nicht, dass ihr alle nachfolgen, sie zieht ihre eigenen Konsequenzen.
Für andere, für mich. Für andere, für mich. In Ritas Kopf rotierten seine Worte. Bestimmt glaubten viele, dass sie selbstsüchtig handelte. Dass sie es nicht ertragen konnte, nicht die Macht zu haben, nicht im Zentrum zu stehen. Für andere. Ging es nur um sie selbst? Oder auch um die vielen anderen Frauen, die empfanden wie sie? […] Nach der Messe kam eine der frisch Gefirmten zu ihr und fragte, ob sie sie umarmen dürfe. […] „Mir hat die Vorbereitungszeit wirklich gut gefallen. Und ich habe mich gefragt, ob ich nicht einmal das werden könnte, was Sie sind.“ Rita hob die Augenbrauen. „Was, Pastoralassistentin?“ – „Nein.“ Das Mädchen schüttelte entschieden den Kopf. „Priesterin.“5
Weil Gott es so will?
Zweimal wird im Buch explizit auf das Buch „Weil Gott es so will. Frauen erzählen von ihrer Berufung zur Diakonin und Priesterin“ (herausgegeben von Sr. Philippa Rath) hingewiesen. Der Roman liest sich wie eine breite Ausfaltung eine dieser Berufungsgeschichten. Es ist die Einladung, einmal tiefer zu schauen. Wie wächst eigentlich eine Berufung? Ab wann kann sie als solche bezeichnet werden? Rita zeigt uns, dass es (meistens) nicht einfach „boom!“ macht und die Berufung ist da. Es ist ein Weg, ein Prozess, den man*frau Schritt für Schritt durchlebt und irgendwann nicht mehr zurückkann. Dann heißt es: Weitergehen. Für andere und für uns.
Hashtag der Woche: #füranderefüruns
Beitragsbild: @Priscilla Du Preez auf unsplash
2 Vgl. S. 69.
3 S. 21.
4 S. 33f.
5 S. 318 f.
Danke für den Hinweis auf das Buch. 📕 Ich bin gespannt darauf, auch wenn der Roman 424 Seiten umfasst. Auch wenn das Titelbild eine Frau im kirchlichen Priesters zeigt. Das macht mich nachdenklich,,denn dieses Gewand signalisiert die Unterordnung unter einem noch immer absoluten hierarchischen Männersystems. Dieses System wird auch Frauen auffressen. Dazu gibt es heute von Theologinnen und Theologen genügend theologische und soziologische Einwände. Zudem: die Rolle des Priesters und der Seelsorgerin/ des Seelsorgers sind zwei sehr verschiedene Rollen. Die Rollenträger vieler heutigen in Ausbildung befindlicher Priesteramtskandidaten ziehen sich wieder auf die typisch katholischen Rolle der letzten beiden Päpste zurück, zuerst und praktisch ausschliesslichen Tätigkeit als Spender der Sakramente zurück. Seelsorgerinnen, wie ich sie in den letzten fünfzig Jahren kennengelernt habe, – ich war lange im Leotungsgremium des Bistums Basel tätig, – haben sich zuerst der Seelsorge gewidmet und waren in der Erschaffung von den dafür auch nötigen Ritualien schöpferisch. Bischöfe, Domherren, Dekane und Pfarrer, aber auch Gläubige, leider oft auch Frauen, haben diese Pastoralassistenntinnen oft zu spüren gegeben, dass sie diese Seelsorge ablehnen und auch bekämpfen. Ob das in diesem Roman auch zur Sprache kommt? Schliesslich: Gerade diese Ablehnung von Frauen in der Kirche hat dazu geführt, dass Pastoralassistentinnen sich überfordert haben und doppelt soviel gearbeitet haben, als das eine vertragliche Regelung gefordert hat. „Berufung“ als eine Überforderung des „Allmächtigen Vaters im Himmel“ der vom Ortsbischof oder dem Ortspfarrer vertreten wurde. Ein spiritueller Berufungsbegriff, der Krankheit, Depression oder Sucht zur Folge hat, ist kein Segen, sondern ein Fluch. – Da die Autorin auf Instagram zu finden ist, werde ich mich über ihre Leseabende kundig machen. – Ihnen aber, Frau Collinet, wünsche ich für Ihre Dissertation und den damit verbundenen Arbeiten ein gutes Gelingen.
Danke für die Rezension. Ich freue mich schon auf die Lesung von Frau Endrich und ganz besonders auf den Tag, wo ich als Mann von einer römisch-katholischen Priesterin ein Sakrament gespendet bekomme. Weil Gott es so will.