Noch prägen sie häufig Skyline wie Ortsbild – und doch stellt sich in Zeiten kleiner werdender Kirchen nicht nur die Frage nach der Zukunft deren pastoraler Angebote, sondern auch der oft Jahrhunderte alten Gebäude selbst. Die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland (EKM) ist dabei in Deutschland eine Vorreiterin – mit Aline Ott haben wir darüber gesprochen.
Liebe Frau Ott, seit 2023 ist die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland auf Spotify und Co. mit dem hörenswerten Podcast „Kirche aufgeschlossen“ vertreten. Was ist die Idee hinter dem Podcast?
Dazu muss ich kurz auf die Vorgeschichte eingehen: Die EKM hat sich 2014 bei der IBA Thüringen, das ist die Internationale Bauaustellung, mit der Initiative „STADTLAND:Kirche – 500 Kirchen, 500 Ideen“ erfolgreich beworben. Denn in der EKM gibt es mehr als 4000 evangelische Kirchen und Kapellen, die – das ist eine Besonderheit – meist unter Denkmalschutz stehen, und die Frage ist sehr dringend, wie wir die wertvollen Gebäude erhalten können. Fakt ist: Es wird uns nicht bei allen gelingen.
Gemeinsam mit der IBA und ihrer Expertise haben wir uns 2016 auf die Suche nach kreativen Ideen für Kirchennutzungen gemacht: es gab z. B. einen knallgelben Ideengenerator, mit dem wir durchs Land fuhren. Menschen haben uns viele Ideen-Videos geschickt, wie Kirchen als Orte der Gemeinschaft reaktiviert und Bedürfnisse der heutigen Zeit mit traditionellen Gedanken verbunden werden können. Daraus folgte eine Ideen-Ausstellung zur Lutherdekade und es wurden sieben Ideen ausgewählt, die wir im Laufe der Jahre erprobt und umgesetzt haben. Dabei haben wir leider keinen geheimen „one-size-fits-all“-Plan entworfen, – das ist bei der Kontextualität der jeweiligen Kirchengebäude und unterschiedlichen Menschen schlicht unmöglich – aber wichtige Parameter entdeckt, wie neue Formen von Kirche gelingen können. Gleichzeitig haben wir Netzwerke in die Wissenschaft aufgebaut, etwa zum ökumenischen Forschungsprojekt TRANSARA Sakralraumtransformationen, zwischen den Landeskirchen sowie zu katholischen und europäischen Partner:innen.
Jetzt ist diese Projektpartnerschaft mit der IBA letztes Jahr zu Ende gegangen, für uns geht es aber erst richtig los! Der Podcast ist deshalb der Doppelpunkt: Wir wollen die Erkenntnisse aus dem Projekt weiterdenken, Impulse nach vorne setzen, wichtigen Stimmen der Debatte eine Plattform geben und Erfahrungen teilen. Der Podcast will vor allem Menschen Mut machen.
Die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland ist „steinreich“ – doch all diese historisch bedeutenden und zumeist denkmalgeschützten Kirchen müssen von einer Kirche unterhalten werden, deren Mitgliederzahlen und finanzielle Möglichkeiten – wie überall in Deutschland – schwinden und die sich überdies schon seit Jahrzehnten in einer Diasporasituation befindet. Welche Ansätze oder best-practice-Beispiele gibt es, auch Menschen, die keine Kirchenmitglieder sind, für den Erhalt und die Weiterentwicklung „ihrer“ Kirchengebäude vor Ort zu gewinnen?
Wir sind eine sehr ländliche Landeskirche, was gleichzeitig bedeutet, dass die Kirche oft auf den Dörfern eines der letzten Gebäude ist, das noch erhalten ist. Die Schule ist weg, der Bäcker ist weg. Das Schöne: Beim Kirchengebäude kann jede:r mitmachen, der/die Lust auf Gemeinschaft hat, (ohne dass es besondere Talente wie Tore-schießen für den Fußballverein bräuchte). In unseren Modellkirchen sind gut die Hälfte der Engagierten keine Kirchenmitglieder.
Wir haben sehr gute Erfahrungen mit Beteiligungsworkshops gesammelt. Dazu werden alle eingeladen: der Fußballtrainer, die Metzgereifachverkäuferin, die zugezogene Familie nebenan. In Ellrich haben etwa die Bewohner:innen einen recycling-Gegenstand mitgebracht, der für sie Bedeutung hatte und aus diesem bunten Mix wurden Ideen gesponnen. Plötzlich entstand daraus ein Pizzaofen auf dem Marktplatz vor der Kirche, mit Fließband in die Kirche rein – eine super verbindende und kulinarisch leckere Erfahrung für die Menschen.
Gleichzeitig liegt Ellrich an der ehemaligen Grenze, der Kirchturm wurde weggesprengt, zur NS-Zeit war neben der Stadt ein KZ. Unterschiedliche übergenerationale Wunden, Geschichten, Misstrauen kristallisierten sich an und im Kirchengebäude. Wir boten den Menschen diesen Gesprächsraum. Heute hat Ellrich eine Netzwerkkirche, weil das das Herz der Kirche ist: Menschen zusammenbringen. Es gibt Flohmärkte, Kinoabende oder Konzerte.
Beteiligung heißt auch wie in der Herrbergskirche Neustadt a.S., die Augen offen zu halten nach dem, was Einzelne mitbringen: Die schönen blauen Samtvorhänge, die alle Betten der Herrbergskirchen auf den Emporen rundum umarmen, sind von einer Frau aus Neustadt genäht und in allen vier Herrbergskirchen angebracht. Insofern braucht es auf jeden Fall das aktive Herausgehen aus der Kirche, aus der eigenen Gemeinde, hin zu allen Bewohner:innen. Und es hilft sehr, wenn das von Dritten angeleitet wird, etwa Architekt:innen, die für solche Workshops spezialisiert sind.
Insofern: Best-practise versuche ich als Bezeichnung zu vermeiden, wir sind stellenweise auch gescheitert, manches hat sich in völlig neue Richtungen entwickelt im Lauf der Jahre. Aber good-practise ist es auf jeden Fall!
Das Ziel der EKM besteht nicht in der Umwidmung nicht mehr gebrauchter Kirchengebäude, also etwa einer Profanisierung und anschließendem Verkauf, sondern in der „Quernutzung“. Was verbirgt sich hinter diesem Begriff, wo liegen die damit verbundenen Chancen für Pastoral und Kirchengemeinden, wo aber vielleicht auch Herausforderungen und häufige Stolperfallen?
Das ist richtig. Wir glauben, dass Kirche Kirche bleiben soll. Die heilige Ahnung, die besondere Atmosphäre, die wollen wir ernstnehmen. Quernutzung kann dafür in unterschiedlichen Skalierungen passieren: So gibt es etwa „leichte“ Quernutzungen, wobei Menschen entscheiden, eine Toilette mit in die Kirche einzubauen. Das klingt zwar banal, ist aber für manche ganz entscheidend, um länger an oder in der Kirche zu sein.
Es kann auch bedeuten, eine Art Wand, einen Vorhang oder z. B. Glastüren einzubauen, um so zwei Bereiche in der Kirche zu schaffen. In den Herrbergskirchen ist das durch die blauen Vorhänge symbolisiert. Solche Formen der hybriden Nutzung können ausgeweitet werden, wenn wie in Ellrich etwa die Kirchenbänke ganz rausgenommen werden und modulare Würfel den Kirchenraum füllen: Damit können Tribünen, Gesprächskreise, Tische, Regale gebaut werden. Das Kreuz und der Altar bleiben. Mehr dazu kann in der Folge Treffpunkt Kirche nachgehört werden.
Gleichzeitig hängen der Bau und theologische Fragen super eng zusammen und verschiedene Glaubensüberzeugungen werden an den baulichen Entscheidungen sichtbar oder wandeln sich mit: Glaube ich, dass es eine Pfarrperson braucht, die frontal zu mir spricht und entsprechend die Bestuhlung darauf ausgerichtet sein sollte? Oder braucht es dialogorientierte Formate, runde Sitzanordnungen, vielleicht sogar Bewegungsformate? Was passiert, wenn nicht nur die Sonntagmorgen-Form als Gottesdienst bezeichnet wird, sondern das alltägliche Engagement der Menschen zum Gottesdienst wird? Wenn sich wie in Roldisleben die Menschen für die Natur engagieren: Im Garten um die Kirche zieht ein Bienenstock ein, es gibt ein Wabenpavillon mit Tischen und einen angelegten Kräutergarten, wo die umliegenden Schulklassen hautnah Natur erleben dürfen. Sonntags-Gottesdienst findet in der Kirche dennoch statt, die Wände sind dabei umschmückt von einer Wildblumen-Galerie, die eine benachbarte Fotografin ausstellt.
Quernutzungsprozesse sind immer Aushandlungsprozesse, die mit den Menschen vor Ort stehen und fallen. Mit den Kirchenräumen sind viele Emotionen, biographische Erinnerungen, Glaubensvorstellungen verbunden. Ein „Weiter so“ ist trotzdem an sehr vielen Orten nicht mehr möglich.
Vielleicht kennen Sie den Spruch: Wer ein Schiff bauen will, sollte nicht anfangen Holz zu sammeln, Planken zu sägen, Arbeit zu verteilen. Sondern in den Menschen die Sehnsucht nach dem Meer wecken. In unserem Fall: Nach dem „MEHR“. Die Herausforderung ist zu fragen: Warum wollen wir uns engagieren? Was ist der MEHRwert? Wer wollen wir, hier, heute sein? Was treibt uns an?
Von Quernutzungen profitieren alle, wenn sie gut gemacht sind. Gemeinden brauchen dafür unserer Erfahrung nach Impulse von außen. Gleichzeitig darf die Idee nicht aufgedrückt sein. Die Menschen, die sich engagieren, müssen dafür brennen. Sonst geht das Projekt wieder ein, diese Erfahrung haben wir auch machen müssen.
Als Kirche, die Wert auf die Bewahrung der Schöpfung liegt, so viele Gebäude zu besitzen, ist auch ein Chance, selbst einen großen Beitrag zur Bekämpfung der Klimakrise zu leisten. Denn bestehende Gebäude klimaneutral zu gestalten, wäre ein wertvoller Schritt für die Zukunft. Welche Rolle spielt das Thema Klimaneutralität in Fragen des Gebäudemanagements?
Unbedingt. Grundsätzlich gelten die Vorgaben der EKD-Klimaschutzrichtlinie, das Ziel ist eine (weitgehende) Klimaneutralität bis 2045. Die neue Klimaschutzrichtlinie und der Klimafonds der EKM zielen auf ein Vorgehen ab, welches sog. „Gebäudekonzeptionen“ zur Voraussetzung macht. Denn das größte Einsparpotential liegt im strukturierten Überlegen: Was brauchen wir wirklich? Die Gemeinden der EKM erarbeiten dafür seit einigen Jahren Gebäudekonzeptionen, d. h. es wird konkret in den Blick genommen, wo Gebäudebestand reduziert werden kann, etwa durch Zusammenlegung von Nutzungen und die Aufgabe wenig genutzter Räume und Gebäude.
In den kommenden Jahren stehen zudem umfassende Sanierungen fast aller Heizungen an. Außerdem hat unsere Baureferatsleiterin Elke Bergt maßgeblich Bewegung in die Debatte gebracht, dass Photovoltaikanlagen trotz Denkmalschutz auf Kirchendächern angebracht werden können.
Wer heute in Deutschland Theologie studiert und eine Tätigkeit bei einer der beiden großen Kirchen anstrebt, wird wohl sein ganzes Berufsleben ein „Weniger“ mitgestalten. Wo liegt bei allen Herausforderungen, die das mit sich bringt, Stichwort „Trauerarbeit“, der Reiz einer solchen Tätigkeit? Welche Skills oder Eigenschaften sollte man mitbringen?
An den quergenutzten Kirchen zeigt es sich so schön: Wir verwalten nicht den Niedergang. Wir gestalten Kirche. Hier müssen alte Gepflogenheiten transformiert und teilweise verabschiedet werden, damit neue, für die Menschen lebensdienliche Formen von Kirchen wachsen. Ich persönlich liebe das sehr, hier passiert Evangelium, hier müssen wir uns alle wirklich ehrlich fragen: Woran glaube ich? Was passt in unseren Kontext – ob lokal, sozial oder spirituell? Mittlerweile ist an fast allen kirchlichen Stellen angekommen: Die Dinge verändern sich, ob mit oder ohne uns. Mich dann aktiv gestaltend einzubringen, macht mir viel Spaß.
Wenn wir stärker in den Sozialraum hinein Kirche denken wollen, wünsche ich mir mehr kontextsensible Theologie in den Ausbildungsinhalten, die einer pluralen Gesellschaft auch theologisch gerecht wird. Wir müssen in den Ausbildungen lernen, uns mit eigenen Glaubensbiographien und -vorstellungen auseinanderzusetzen und authentisch dazu zu sprechen. Nur so kann aus der schwindenden Quantität eine neue Qualität kirchlichen Lebens wachsen. Wir brauchen liturgische Neugier und Lehrformate, in denen gestalterisch der Umgang mit Kirchenräumen erprobt wird. Mir fiele noch vieles ein …
Bei den eigenen Kirchengebäuden in der EKM ein Lieblingsbeispiel zu nennen, ist bestimmt schwierig. Deshalb zum Abschluss der Blick über Thüringen hinaus: Wo gibt es eine Kirchen / ein Nutzungskonzept, bei dem Sie sich dachten, „Toll gemacht, da nehme ich mir Ideen mit“?
Das ist in der Tat sehr schwer! Es gibt tolle, kleine wie große quergenutzte Kirchen. Bei zukunft-kirchen-raeume.de findet man etwa viele innovative Beispiele aus NRW.
Mich persönlich hat eine Erfahrung während meines Studium in Brasilien sehr geprägt. Ich habe in São Paulo eine Kirche besucht, die zur Wohnung für Menschen ohne Obdach wurde. An den Seiten standen Betten, fein gemacht, mit Knick im Kopfkissen. Bei Donna saß neben dem Kissen ein kleiner Teddybär. Sie hat mich durch die Kirche geführt, mir die sorgsam ausgewählte Kunst an den Wänden erklärt, mich mit zu den gemeinsamen Mahlzeiten genommen. Die Menschen haben eine neue Form von Gemeinschaft dort etabliert, unterstützt von zwei ehemaligen Taizé-Brüdern. Als wir Stühle im Kreis der Kirche aufstellten und gemeinsam die Seligpreisungen beteten – „selig sind die, die arm sind“ – ich reiche Deutsche mit in dieser kleinen, heiligen Gemeinschaft, da habe ich beinahe demütig Evangelium neu verstanden und die Geborgenheit der Kirchenmauern tief gespürt. Sie wurden offene Räume der Gastlichkeit, Schutzräume und gleichzeitig grenzüberschreitender Gemeinschaft. Das hat mich extrem berührt.
Mehr Informationen sind auf der Homepage zu finden: https://www.kirchen-aufgeschlossen.de
Hashtag der Woche: #kircheaufgeschlossen
Beitragsbild: My Life Through A Lens auf Unsplash