Wie viele feministische Bücher müssen noch geschrieben werden, um tiefgreifende Bewusstseinsänderungen und konkrete politische Konsequenzen zu bewirken? Das fragt sich nach der Lektüre des Spiegel-Bestseller-Buches „Beklaute Frauen“ von Leonie Schöler, vermutlich nicht nur die Rezensentin, Linda Kreuzer.
Die Namensliste von vergessenen, gering geschätzten oder unbekannten Personen, die Gesellschaften durch ihr politisches, literarisches, wissenschaftliches oder sportliches Engagement gestaltet haben, wäre endlos. Der Untertitel „Denkerinnen, Forscherinnen, Pionierinnen: Die unsichtbaren Heldinnen der Geschichte“ lässt vermuten, dass auf den gut 400 folgenden Seiten des Buches „Beklaute Frauen“ ein paar spannende Portraits warten, ähnlich den Büchern wie „Goodnight Stories for Rebel Girls“, die sich seit ein paar Jahren zunehmender Aufmerksamkeit erfreuen.
Kritischer Blick in die Geschichte(n)
Namen werden zwar genannt und Lebensläufe nachgezeichnet, allerdings wird der Untertitel nicht annähernd dem Konzept des Erstlingswerkes von Leonie Schöler gerecht. Auch werden Freund*innen von chronologischen Darstellungen ihre Schwierigkeiten mit der internarrativen Struktur des Buches haben. In sechs Kapitel bearbeitet Schöler historisch sprunghaft mit dem systematisch-kritischen Blick der patriarchalen Unterdrückung gesellschaftliche Bereiche wie Politik, Kunst, Sport und Wissenschaft genauso wie Biografien berühmter Männer. Sie lässt weibliche Stimmen mit Hilfe persönlicher Dokumente über Kränkungen, Wut, Enttäuschungen und Betrug laut werden, weist auf Errungenschaften und Leistungen hin, stellt aber auch gleichzeitig Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme und Normen in Frage.
„… schon eine Frau zu sein, ist hier ein halbes Verbrechen…“ (Lise Meitner)
„Ausschluss zwecks Machterhalt“
Systematisch geht Leonie Schöler insofern vor, als dass ihr kritischer Ansatz mit dem gesellschaftlichen Vollzug „Ausschluss zwecks Machterhalt“ alle gedanklichen Ausführungen begleitet. Den politischen Ausschlussmomenten werden zwei Kapitel konkret gewidmet, in denen sich Schöler mit der Rolle und Funktion von Frauen in politischen Kämpfen auseinandersetzt. Die Frage nach politischer Einflussnahme und Machtinteressen wird in allen Kapiteln gestellt, sei es über die behindernden Familienverhältnisse politisch aktiver Frauen wie zum Beispiel Eleanor Marx oder der manipulativen, ausschließenden Programmierung von Algorithmen. Im dritten Kapitel widmet sich Schöler zum Beispiel der Suche nach Künstlerinnen im Schatten „berühmter Genies“ und legt dabei nicht nur Strukturen sexueller Gewalt und Ausbeutung, sondern auch durch misogyne Haltung gerechtfertigten Diebstahl geistigen Eigentums in einigen Fällen offen. Geschickt flicht sie in die biografischen Touren die grundsätzliche Infragestellung der Logik des Kunstmarktes oder der Dimensionen des Musen-Begriffs ein. Diesem Prinzip folgend arbeitet sich die Autorin auch an dem Feld „Wissenschaft“ und den damit verbundenen Preisvergabesystem wie dem Nobel-Preis ab: In dem Kapitel „Ohne Auszeichnung“ bekommt die*der Leser*in nicht nur Einblick in den harten Kampf rund um Zugangsbeschränkungen im Bildungs- und Wissenschaftssystem, sondern auch in die Methoden epistemischer Gewaltsysteme. Ausschluss wird nämlich in Schölers Buch nicht nur aus der Perspektive der Kategorie „Frau“, sondern intersektional beschrieben:
„Solange sich an diesen Verhältnissen nichts ändert, werden Frauen, queere Personen, BIPOCs oder Menschen mit Behinderung weiter den Kürzeren ziehen. Wir können jetzt in Kleinkriegen untereinander herfallen und uns gegenseitig die Schuld geben – oder wir erkennen das grundlegende Problem, das sich nur gemeinsam beseitigen lässt.“ (S.223)
Vernetzt, schnell und persönlich
Die Autorin Leonie Schöler arbeitet als Historikerin, Journalistin und Moderatorin. Der Stil ihrer Vermittlungsmethoden ist Ausdruck des Edutainment-Bereichs in Sachen Geschichtswissen und politische Bildung auf Social-Media-Kanälen und der Produktion von Webvideos und Fernsehdokumentationen. „Beklaute Frauen“ ist ihr erstes Sachbuch und spiegelt sowohl transdisziplinäre Arbeitsweise als auch sprachliche Kultur ihrer bisherigen Tätigkeitsfelder wider. Das hat auf mich, deren aktuelle Rezeptionsbrille stark durch den akademischen Text-Diskurs beeinflusst ist, streckenweise irritierend gewirkt. Die lockere Verwendung von Ausrufezeichen und das „Nachschieben“ von Sätzen, die Empörung bzw. klare moralische Bewertungen enthalten, braucht das Buch, dessen Inhalt sehr umfassend recherchiert und gut aufbereitet wurde, nicht. Werte ich den in manchen Passagen lockeren Umgangston als Versuch einer gegenhegemonialen Erzählung und Bemühens eines leicht verständlichen Sprachstils, dann kann ich über ironisch bewertende Kommentar-Sätze wie „Wirklich außerordentlich großzügig!“ (S.122) im Kontext der Frage nach der Erwähnung von Frauen in Vorwörtern ihrer berühmten Ehe-Männer oder Wörter wie „Geschmäckle“, „Beklauen“ oder „verhunzt“ zufrieden hinweglesen. Das Einflechten von historischen Kontexten und die teilweise großen thematischen Brückenschläge sind für ein populärwissenschaftliches Buch beachtlich, erzeugen beim Lesen aber auch gedankliche Geschwindigkeiten, die ein Grundwissen feministischer politikwissenschaftlicher Theorie voraussetzen.
Was leistet das Buch?
Die außerordentliche Leistung des Buches liegt auf der einen Seite im Verweben von aktuellen (wissenschafts-)geschichtlichen Erkenntnissen mit transparent formulierten politischen Ansprüchen und auf der anderen Seite dem Hör- und Sichtbarmachen nicht nur der Leistungen von Frauen, sondern auch ihrer Lebensgeschichten, die durch strukturelle Unterdrückung geprägt waren. Die Einarbeitung von persönlichem Archiv-Material aus Briefen, Tagebucheinträgen, Notizen lässt sehr eindrückliche und bewegende Bilder von Personen entstehen. Ihr gelingt schlussendlich auch der Sprung in die Gegenwartskritik mit ihrem Exkurs in die digitale Welt und den sich fortschreibenden Ausschlussmechanismen, inklusive eines persönlichen Erfahrungsberichts über Hass im Netz. Der Großteil der bisher erschienenen Rezensionen lobt das Buch und empfiehlt es als edukatives Geschenk. Inwiefern sich Personen, die bisher wenig Offenheit feministischer Lektüre gegenüber gezeigt haben, sich von dem Stil einnehmen lassen und eigene Privilegien reflektieren, ist schwer einzuschätzen. Den zahlreichen Fakten und Analysen, kann sich allerdings niemand verschließen, die*der an die Möglichkeit einer gerechten Gesellschaft glaubt.
Hasthag der Woche: #BeklauteFrauen
Beitragsbild: Physikerin Lise Meitner mit Studentinnen (Sue Jones Swisher, Rosalie Hoyt and Danna Pearson McDonough) auf den Stufen des Chemie-Gebäudes des Bryn Mawr College. Courtesy of Bryn Mawr College. (April 1959)
Hinweis: y-nachten.de wurde ein Rezensionsexemplar vom Verlag gratis zur Verfügung gestellt.