Der Juni als „Pride-Month“ sorgt für die öffentliche Sichtbarkeit von queerem Leben und sexueller Vielfalt in allen Lebensbereichen – auch der Religion. Fredi Schönecker und Sabine Ahmadzai haben einen genaueren Blick auf Queerness im Islam geworfen und setzen bei y-nachten ein sichtbares Zeichen dafür.

Queer und muslimisch zu sein wird in Deutschland oftmals als Widerspruch empfunden.1 Diese Ansicht verläuft entgegen der Lebensrealitäten vieler queerer Muslim*innen, die sich teilweise ganz selbstverständlich als muslimisch und religiös bezeichnen, wie aus Interviews mit Akteur*innen in Deutschland hervorgeht.2 Auch die Auseinandersetzung mit historischen Quellen und der Schrifttradition zeugen von der Vereinbarkeit queer und muslimisch zugleich zu sein.3 So existieren genderfreundliche Herangehensweisen an kritische Textstellen des Koran. Ein Beispiel dafür ist die Geschichte um den Propheten Lot, welche teilweise als vermeintlicher Beweis herangezogen wird, dass der Koran Homosexualität ablehne und bestrafe.4 Vielmehr wird aber innerhalb der Schrift anstatt von Queerfeindlichkeit ein Schöpfungs- und Menschenbild transportiert, das von Diversität geprägt ist: „Zu seinen Zeichen gehört auch die Schöpfung der Himmel und der Erde und die Verschiedenartigkeit euerer Sprachen und euerer (Haut-)Farben. […]“.5 Der Begriff für „Farben“ kann hier auch sehr vielfältig gelesen und interpretiert werden.6

Das Thema Queerness im Islam

Darüber hinaus wird deutlich, dass in Deutschland das Thema Queerness im Islam eng an Muslimfeindlichkeit geknüpft ist und Anfeindungen nicht zwangsläufig aus der eigenen muslimischen Community kommen, sondern an beiden Enden des politischen Spektrums zu finden sind. Gegner*innen halten einen genderfreundlichen Umgang im Islam unter Muslim*innen für unmöglich, da sie dem Islam Rückständigkeit vorwerfen. Daher haben vor allem queere Muslim*innen häufig mit intersektionalen Anfeindungen zu kämpfen.

In rechts-konservativen Kreisen werden häufig der muslimische Glaube als etwas Fremdes und Queerness als modernes „Modephänomen“ wahrgenommen. Auffällig ist, dass dabei häufig ein tolerantes „europäisches“ Selbstbild präsentiert und zum eigenen Vorteil funktionalisiert wird:

Um den Islam als Feindbild darzustellen, wird sich auf die eigene vermeintliche Toleranz berufen, die jedoch genau da endet, wo es die eigene, auf patriarchalen, sexistischen und heteronormativen Strukturen konstruierte Sicherheit bedroht.

Aber auch in der linken (queeren) Szene ist antimuslimischer Rassismus nicht selten. Während liberal und links orientierte Menschen das Recht auf (körperliche) Entscheidungsfreiheit in den Vordergrund rücken, werden Religionen und vermeintlich unreflektierte Mitglieder von Religionsgemeinschaften teilweise als Bedrohung sexueller Identität wahrgenommen und Befreiungsnarrative aus der Kolonialzeit reproduziert.

Zum Kolonialismus im Umgang mit Queerness im Islam

Besonders in der Debatte rund um die LGBTQIA+ -Community wird davon ausgegangen, dass die europäisch-westliche Herangehensweise an das Thema automatisch toleranter und offener ist und dass muslimisch geprägte Länder von dieser europäischen Art des Umgangs lernen könnten und sollten.

Viel zu selten wird dabei zum einen die Vielfalt des Islams in Betracht gezogen und zum anderen werden die noch heute bestehenden Konsequenzen des Kolonialismus im Umgang mit Queerness kaum bedacht.

Dabei war der Kolonialismus in diesem Zusammenhang einschneidend, denn im Zuge dessen wurden anderen Ländern und Kulturen europäische, häufig christlich basierte Werte- und Normsysteme aufgezwungen. Dazu gehörte unter anderem die streng binäre Geschlechtsordnung, mit der die bereits in Europa erprobten patriarchalen Machtstrukturen etabliert werden sollten und abweichende Systeme wie Matriarchate oder fluidere Geschlechts- und Gendervorstellungen unterdrückt wurden.

Geschlechtervorstellungen und Diversität

Diese Vorgehensweise lässt sich anhand unzähliger kolonialisierter Länder demonstrieren, so zum Beispiel auch an Indonesien, welches auf eine sehr heterogene Religionsgeschichte zurückblickt und neben islamischen auch durch andere asiatische Einflüsse geprägt wurde. Ebenso unterstützte das Zusammenleben einer Vielzahl von unterschiedlichen ethnischen Gruppen seit Jahrhunderten ein besonders tolerantes Verständnis von Diversität. So gab es beispielsweise bei den indigenen „Bugi“, schon lange vor der Kolonialisierung im 15. Jahrhundert, fünf anerkannte Genderbezeichnungen: Männer, Frauen, calalai (transgender Frauen), calabai (transgender Männer) und androgyne Schaman*innen, genannt bissu. Auch heute gibt es noch ein zusätzlich zu Mann (Pria) und Frau (Wanita) anerkanntes Geschlecht, nämlich das der Waria. Dies bezeichnet Menschen, die mit männlich gelesenen Körpern zur Welt kommen, sich aber nicht oder nur begrenzt mit dem ihnen zugeschriebenen Geschlecht identifizieren.7 Die Waria und andere non-binäre Geschlechtsvorstellungen innerhalb Indonesiens und anderen muslimischen Ländern sind seit Jahrhunderten bekannt. Doch im Zuge der Kolonialisierung gingen Akzeptanz und Respekt, mit denen diesen Menschen begegnet wurde, zunehmend verloren, sodass sie heute oft Anfeindungen ausgesetzt sind. Ebenfalls Erwähnung finden muss an dieser Stelle das Problem des radikal-fundamentalistischen Islams, der in vielen ehemals kolonialisierten Ländern durch die plötzlichen Rückzüge der Imperialmächte und dem daraus entstandenen Machtvakuum erstarkte.8

Genderfreundliche und offene muslimische Communitys

Heutzutage hilft ein Rückbezug zu den vielfältigen Gendervorstellungen vielen queeren Muslim*innen sich selbstbewusst mit ihrer Identität auseinanderzusetzen, ebenso wie die Beschäftigung mit Textquellen und religionsethischen Überlegungen. Daraus resultiert eine neu errungene Selbstverständlichkeit, mit der queere Muslim*innen ihr eigenes Identitätsverständnis beispielsweise in Kunst und Poesie zum Ausdruck bringen, indem sie ihre eigene Geschlechter- und Genderidentität zurecht als etwas „natürliches“ und „von Allah geschaffenes“ interpretieren.9

Zudem haben Safe Spaces wie genderfreundliche und offene muslimische Communitys oder Möglichkeiten von Zusammenschluss und Empowerment, wie Events von Aktivist*innen eine hohe Relevanz.

Es wird überdies deutlich, dass einerseits zwar der Wunsch nach (wieder) mehr Sichtbarkeit besteht, aber trotzdem ein besonderes Bedürfnis nach geschützten Räumen für Verständnis und Austausch allem voransteht.

So sind queere Muslim*innen eben irgendwie beides: (Un)sichtbar.


Hashtag der Woche: #muslimqueer

(Beitragsbild: @alexandergrey)

Co-Autorin:

Sabine Ahmadzai

studierte an der Goethe-Universität Frankfurt Religionswissenschaft und Ethologie. Aktuell promoviert und arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Katholische Theologie für die Professur Religionstheologie und Religionswissenschaft und ist für die AIWG im Projekt „Jugend, Religion und Gesellschaft“ tätig.

 

1 Der Begriff „queer“ kann in diesem Text sowohl die von der heterosexuellen Norm abweichenden Sexualität als auch, die von der Binarität abweichenden Geschlechts- und/oder Genderidentität einer Person umfassen.

2 Vgl. Sirri, Lana (Hrsg.), „‘Übrigens wir sind queer‘ – queer Muslim_a*s“, S.113-136 in: Einführung in Islamische Feminismen, Berlin 2017.

3 Vgl. El Omari, Dina, „Feministische und geschlechtersensible Hermeneutik in der Koranexegese“, S. 67-118 in: Amirpur, Katajun / El Omari, Dina / El Maaroufi, Asmaa, Eine Frage des Geschlechts? Islamisch-theologische Perspektiven für eine gendergerechte Theologie der Gegenwart, Baden-Baden 2023.

4 Vgl. “Liberating Qur’an: Islamic Scripture”, S. 33-72 in: al-Haqq Kugle, Scott Siraj, Homosexuality in Islam. Critical Reflection on Gay, Lesbian and Transgender Muslims, London 2010.

5 Der Koran, übers. Max Henning, hrsg. Murad Wilfried Hofmann, Kreuzlingen / München, 2001. Hier: 30,22.

6 Vgl. Al-Haqq Kugle, Homosexuality in Islam, S. 46.

7Eine empirische Studie zur Religionspraxis beschäftigt sich beispielsweise mit den Waria und ihrem Religionsverständnis vgl. Garcia Rodriguez, Diego. Gender, Sexuality and Islam in Contemporary Indonesia: Queer Muslims and Their Allies. London New York: Routledge, Taylor & Francis, 2024.

8 Vgl. Garcia Rodriguez, Gender, Sexuality and Islam in Contemporary Indonesia.

9 Düzyol, Tamer (Hg.), ARAF Un:::Sichtbar, Münster 2021, S. 16/17.

 

 

 

 

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fredi schoenecker

studiert Anglistik, Germanistik und Katholische Theologie, arbeitet als studentische Hilfskraft für die Professur Religionstheologie und Religionswissenschaft und ist im Bereich der Gleichstellungsarbeit aktiv.

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