Bereits im März fand das Netzwerktreffen1 für Nachwuchswissenschaftler*innen im Bereich der Moraltheologie statt. Dieses Jahr stand das Spannungsfeld von Ethik und Geschichte im Fokus. Hendrik Weingärtner nahm am Treffen teil und gibt einen Einblick in die Themenvielfalt der Tagung.
(K)eine historische Hypothek?
Nach wie vor werden im Bereich der Theologischen Ethik Qualifikationsarbeiten mit historischem Zuschnitt publiziert, in denen sich die AutorInnen mit der Disziplinen- und Konzeptgeschichte ihres eigenen Faches auseinandersetzen. Auch wenn die Anzahl an wissenschaftlichen Veröffentlichungen mit diesem spezifischen Fokus im Vergleich zu früheren Generationen abgenommen hat, wird dem historischen Arbeiten innerhalb der Theologischen Ethik weiterhin ein hoher Stellenwert beigemessen. Das ist weit mehr als das Vermächtnis einer vergangenen Wissenschaftskultur. Nicht zuletzt das Bewusstsein, das wesentliche Impulse für eine Erneuerung des Faches von einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Tradition ausgingen, begründet diese Wertschätzung. Im Spannungsfeld von Ethik und Geschichte tun sich aber noch weitere Verknüpfungen auf, die für eine zeitgenössische theologisch-ethische Reflexion bedeutsam sind.2 Wer einen historischen Zuschnitt wählt, erhofft sich davon Anstöße für die ethischen Fragen, die sich in der Gegenwart stellen.
Ethik und Geschichte
Ethik und Geschichte sind wechselseitig aufeinander zu beziehen. Der Rekurs auf die Geschichte innerhalb der Ethik ereignet sich dabei nicht nur im Rahmen einer Disziplinengeschichte, sondern wird auch im Konzept der Geschichtlichkeit relevant. Des Weiteren lässt sich auch in biographischer Perspektive auf die eigene Lehr- und Forschungstätigkeit als Theologische Ethiker*in zurückblicken. Diese Zugriffe eint die Intention, einerseits die ethischen Diskurse der älteren und jüngeren Vergangenheit zu reflektieren, zeitgeschichtlich-kulturell zu verorten und hinsichtlich ihrer Bedeutung für gegenwärtige Fragen der Ethik zu erschließen. Andererseits lässt sich durch den Einblick in die Pluralität ethischer Entwürfe die situative Bedingtheit des Ethos erkennen, vor der Verabsolutierung bestimmter Normen und Werte warnen und für den Werte- und Normenwandel sensibilisieren. Aber auch im Rahmen einer Wissenschaftsethik sowie im Kontext der Erinnerungskultur treffen sich Ethik und Geschichte, wenn nach Werten und Normen im Prozess der Gewinnung und Vermittlung von (kirchen-)geschichtswissenschaftlichen Erkenntnissen gefragt und um eine angemessene Erinnerungskultur im Umgang mit der Vergangenheit gerungen wird. Beide Perspektiven kommen schließlich dort zusammen, wo angesichts vergangener Ereignisse bewusst nach einem tragfähigen und gut begründeten Handeln von Menschen im Horizont aktueller Herausforderungen und mit Blick auf die Zukunft nachgedacht wird.
Vielfältige Perspektiven
Ethik und die eigene Lebensgeschichte
Eingeleitet durch das biographisch verankerte Impulsreferat von Josef Schuster SJ stand zuerst die Entwicklung des Faches nach dem II. Vatikanischen Konzil auf dem Netzwerktreffen zur Diskussion. Im Rückblick auf seine eigene Lehr- und Forschungstätigkeit zeigte der emeritierte Moraltheologe die Themen auf, die sich aufgrund zeitgeschichtlicher Bedingungen zur Bearbeitung aufdrängten. Diesem Einstieg stellte Christiane Kuropka ausgehend von der Biographie Friedrich Feuerbachs, Bruder des bekannten Religionskritikers, die Frage gegenüber, ob Ethik überhaupt unabhängig von der eigenen Lebensgeschichte betrieben werden kann. Auch wenn die beiden Vorträge nicht unmittelbar aufeinander verwiesen waren, ergaben sich über die Tagung hinweg einige spannende Bezüge.
Geschichte als Erkenntnisort der Ethik?
Angestoßen durch den signifikanten Relevanzverlust der lehramtlichen Moralverkündigung erörterte Tim Zeelen die Bedeutung der Geschichte als Topos der Moraltheologie.
Die Begründung ethischer Urteile ist wesentlich von der Situation abhängig, in der ein solches Urteil getroffen werden soll.
Ereignisse und Situationen sind konstitutiv für die Begründung guten und verantwortlichen Handelns, weshalb die konkret erlebte Gegenwart auch als Bewährungsprobe theologisch-ethischer Reflexion zu begreifen ist. Wie Geschichte, verstanden als kulturelles Gedächtnis und somit ein interdisziplinäres Gespräch zwischen Theologie, Geschichts- und Kulturwissenschaft für die Theologische Ethik fruchtbar gemacht werden kann, exemplifizierte Patrick Lindermüller. Unter Rückgriff auf Jan Assmann zeigte er an der Ansprache Roman Herzogs zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus 19963 auf, wie kollektiv geteiltes Wissen über Ereignisse der Vergangenheit die theologisch-ethische Reflexion von heute bestimmen kann. Diese Verbindung erweist sich gerade dann als aktuell und relevant, wenn aus der Erinnerung heraus Gegenwart und Zukunft gestaltet werden soll.
Mit einer rechtshistorischen Betrachtung des kanonischen Rechts im 13. Jh. machte Christoph Sötsch deutlich, dass kontextuelle Ausprägungen des Ethos und darauf bezogene Ergebnisse ethischer Reflexionen der Vergangenheit nicht unhinterfragt übernommen werden dürfen. Historisch bedingte ethische Urteile, wie die Bedingung des guten Glaubens als Voraussetzung der Verjährung im Kanon 41 des IV. Laterankonzils, bedürfen der Aktualisierung, wenn damit Antworten auf ethische Fragen in Gesellschaften des 21. Jahrhunderts gegeben werden sollen. Gefühle verorten den Menschen nicht nur in der Geschichte, sondern prägen auch sein Handeln. Dass Emotionen als Reaktionen auf subjektive Erfahrungen des Menschen zu verstehen sind, die auf die Geschichtlichkeit seiner Existenz hinweisen und sittliches Handeln entscheidend beeinflussen, skizzierte Jonas Klur in Auseinandersetzung mit der „neuen Phänomenologie“ von Hermann Schmitz.
Geschichte der Ethik
Demgegenüber legten die ReferentInnen der letzten beiden Vorträge den Schwerpunkt auf die Fachgeschichte der Moraltheologie im 20. Jh. und die sich über die Jahrhunderte entwickelten Begründungstheorien der Ethik. Der Kirchenhistoriker Stephen Wißing verortete das von Alfons Auer entwickelte Konzept der „Autonomen Moral“, das die deutschsprachige Moraltheologie bis heute prägt, auf dem Hintergrund der gesellschaftlichen Transformationen der Bundesrepublik in den 1960er Jahren. Mit der Einordnung in den „Demokratisierungsschub“ nach 1968 und die anlässlich der Enzyklika „Humanae vitae“ aufflammenden Debatten um die Tragfähigkeit lehramtlicher Moralverkündigung, gewährte er einen für die Moraltheologie nicht zu unterschätzenden Einblick in die Ergebnisse der DFG-Forschungsgruppe „Katholischsein in der Bundesrepublik Deutschland“4. Auch anhand der verschiedenen Normbegründungsverfahren kann die Geschichte der Ethik erzählt werden. Aus dieser Perspektive beschrieb schließlich Theresa Emanuel verschiedene, im Laufe der Geschichte etablierte Normbegründungsverfahren in ihrer je spezifischen Auswirkung auf die grundsätzlichen Fragestellungen der Medizinethik.
Mehr als reine Pflichtübung
Die vielfältigen Perspektiven, die auf der Tagung aufgezeigt worden sind, machen deutlich, dass der historische Zugang innerhalb der Theologischen Ethik mehr als nur eine leidige Pflichtübung sein kann. Indem die theologisch-ethische Reflexion der Gegenwart mit der eigenen Vergangenheit sowie mit geschichts- wie auch kulturwissenschaftlichen Erkenntnissen konfrontiert wird und Ethiker*innen die hinzugewonnen Erkenntnisse produktiv verarbeiten, lässt sich moraltheologische Erkenntnis besser fundieren.
Im Wissen um die Vergangenheit sucht Theologische Ethik nach begründeten Werten und Normen für Gegenwart und Zukunft.
Die Fundierung ethisch guten und verantwortlichen Handelns gewinnt dabei an Tragfähigkeit, wenn die sich stellende geschichtliche Situation mitbedacht und nach wirklichkeitsgemäßen Maßstäben sittlichen Handels gefragt wird. Theologischer Ethik gelingt es zudem, mit der historisch gewonnenen Einsicht in die Pluralitätsfähigkeit ethischer Entwürfe vor der einseitigen Verabsolutierung einzelner Sichtweisen zu warnen. Schließlich zeigt sich in der Geschichte der Theologischen Ethik die Erneuerungsbedürftigkeit und -fähigkeit des Faches und seiner tragenden Theorien und Methoden, die einen Gestaltungsauftrag für Ethiker*innen begründen.
Hashtag der Woche: #GeschichteUndEthik
(Beitragsbild: @umberto)
1 Zum „Netzwerk Moraltheologie“ vgl. https://www.domschule-wuerzburg.de/aufgaben/netzwerk-moraltheologie [Zugriff am 12.06.2024].
2 Zum Thema Theologische Ethik und Geschichte vgl. grundsätzlich Klöcker, K., Und die Geschicht‘ von der Moral? – Geschichtlichkeit als elementare Kategorie theologischer Ethik, in: Essen, G./Frevel, Ch. (Hg.), Theologie der Geschichte – Geschichte der Theologie (QD 294), Freiburg i.Br. 2018, 189-208.
3 Zur Ansprache vgl. https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1996/01/19960119_Rede.html [Zugriff am 12.06.2024].
4 Zur DFG-Forschungsgruppe „Katholischsein in der Bundesrepublik Deutschland. Semantiken, Praktiken, Emotionen in der westdeutschen Gesellschaft 1965 – 1989/90“ vgl. https://www.katholischsein-for2973.de/ [Zugriff am 12.06.2024].