Die Virgen de Guadalupe erschien 1531 einem indigenen Bauern in Mexico-Stadt. Wie sie seitdem zur Symbolfigur des Widerstands und Hoffnungsträgerin der Chicana-Bewegung wurde, beschreibt Hannah Pale in ihrem heutigen Beitrag.
Die Chicano-Bewegung entstand in den 1960er Jahren in den USA als Bürgerrechtsbewegung, welche gegen die Diskriminierung mexikanisch-stämmiger Amerikaner*innen kämpfte. Sie strebte danach, den Dissens zwischen amerikanischen Idealen und der tatsächlichen, reellen Diskriminierung von Minderheiten aufzuzeigen und anzuprangern. Kultureller Stolz und die Aufwertung des Mexikanischen waren zentrale Aspekte der Chicano-Bewegung. Dadurch wurde einerseits die „Heimat“ geehrt, mit der viele mexikanisch-amerikanische Personen noch eng verbunden waren, andererseits grenzte man sich dadurch auch von der anglo-amerikanischen „Leitkultur“ ab und intensivierte die eigene Identität.[1] In diesem Bestreben wurden Werte und Gemeinschaft des mexikanischen Katholizismus für die Chicanos zu einem kulturellen Marker, den sie den „barbarischen angloamerikanischen Zügen“ gegenüberstellten.[2] Allerdings trug die Version des Katholizismus, die die Chicanos zu sich in die Vereinigten Staaten holten, dazu bei, traditionelle und patriarchale Strukturen der mexikanischen-amerikanischen Gesellschaft zu verfestigen.[3] Erst mit der feministischen Wende in den 1970er Jahren begann sich das zu ändern. Die Chicanas ließen neue Ausdrucksformen aufleben, die spezifisch auf die weibliche mexikanisch-amerikanische Identität ausgelegt und von ihr inspiriert waren. Sie stellten sich gegen die patriarchalen Zwänge des Katholizismus und den stereotypen Machismo, den viele Männer innerhalb der Chicanos festigten.
Katholizismus und Feminismus: Die Rolle der Guadalupe
Eine zentrale Figur in der Neubestimmung der eigenen Identität der feministischen Chicanas war die Virgen de Guadalupe. Diese erschien im Dezember 1531 dem indigenen Bauern Juan Diego auf dem Hügel von Tepeyac in Mexiko-Stadt und hinterließ als Beweis ihrer Heiligkeit ihr Bild auf seinem Umhang.[4] Da sie einem Indigenen erschien, wurde die Virgen während der spanischen Besetzung als Fürsprecherin der Mestizos ─ „Personen aus Lateinamerika, die teils europäischer, insbesondere spanischer, und teils amerikanisch-indianischer Abstammung sind“[5] ─ verehrt. In der Chicana-Bewegung entwickelte sie sich zu einem Symbol des Widerstands gegen die doppelte Marginalisierung, die Chicanas sowohl als Frauen als auch als Zugehörige einer ethnischen Minderheit erfuhren. Dieses Konzept der „doppelten Kolonisierung“ wurde später von Kimberlé Crenshaw weiterentwickelt und als Intersektionalität bekannt, welche beschreibt, wie sich verschiedene Formen der Unterdrückung überlagern können.[6] Die Chicanas waren sich also ihrer Betroffenheit durch Mehrfachdiskriminierung bewusst, noch bevor der Begriff Einzug in den Sprachgebrauch fand. Ihre feministischen Überarbeitungen des patriarchalen Katholizismus leiteten sich nicht aus der westlichen feministischen Theorie ab, sondern aus den praktischen Realitäten und Lebenswelten und sind tief in der aztekischen und mexikanischen Volkskultur verwurzelt.[7] Ihre religiösen Praktiken vermischten oft katholische Bräuche und indigene oder andere Rituale und brachten so eine Neuinterpretation katholischer Glaubenssätze, Symboliken und, im Fall der Virgen de Guadalupe, Gnadenbilder hervor. Dadurch forderten die Chicana-Feministinnen patriarchale Strukturen und Hierarchien heraus, was eine Umdeutung von Geschlechterrollen und religiösem Handeln in Gang setzte, die bis heute Einfluss hat.
Symbole des Widerstands
Die Chicana-Feministinnen waren jedoch nicht von Anfang an von der positiven Wirkkraft der Jungfrau von Guadalupe auf die feministische Bewegung überzeugt. Sie kritisierten besonders die Vermischung der Jungfrau von Guadalupe mit der aztekischen Göttin Tonantzín aufgrund der Ähnlichkeit ihrer Zuständigkeitsbereiche als Fürsprecherinnen und der Verbundenheit beider mit Fruchtbarkeit. Wegen ihres Fokus auf Körperlichkeit und Sexualität erfuhr die aztekischen Tonantzín eine Abwertung, während die Virgen de Guadalupe zur keuschen, schützenden Mutter stilisiert wurde.[8] Eine prominente Chicana-Schriftstellerin und Aktivistin, Gloria Anzaldúa, argumentiert, dass die spanischen Kolonisatoren die Figur der Guadalupe von sexuellen Konnotationen bereinigten, während sie andere weibliche Gottheiten, die mit Sexualität verbunden waren, als minderwertig betrachteten.[9] Die Chicana-Feministinnen stellten sich später bewusst der damit einhergehenden Abwertung der weiblichen Sexualität entgegen, indem sie die Jungfrau von Guadalupe aktiv ins spirituelle Zentrum der Bewegung rückten. Sie bewirkten, dass „verborgene Geschichten“ wiederentdeckt wurden, alternative Lesarten und Deutungsmöglichkeiten auflebten und sich der Widerstand gegen patriarchale und kolonialistische Strukturen verfestigte.[10] Ziel war es, dass die Virgen sowie weibliche indigene Gottheiten als Symbole des Widerstands anstatt rein passiver oder negativ konnotierter Figuren porträtiert werden.
Heteronormativität durchkreuzen
In der Kunst der Chicanas wird die Jungfrau von Guadalupe nun in ihrer vollen Weiblichkeit dargestellt, um Themen wie Intimität, Geschlechterrollen, Sexualität und Selbstbestimmung zu erforschen. Das Kunstwerk „La Ofrenda“ von Ester Hernandez aus dem Jahr 1988 vereint diese Motive wirkungsvoll. Es zeigt eine Chicana von hinten, deren Rücken ein großflächiges Tattoo der Jungfrau von Guadalupe ziert. Eine andere Person, die im Bild nicht vollständig sichtbar ist, reicht eine Rose, die der Jungfrau symbolisch dargeboten wird. Hernandez‘ Bild erschien auf dem Cover des Buches „Chicana Lesbians: The Girls Our Mothers Warned Us About“ und symbolisiert eine Hommage an lesbische und queere Chicanas.
Die Wissenschaftlerin und Professorin Irene Lara, selbst Chicana-Aktivistin, beschreibt das Bild als Werk, das die heteronormative Denkweise in der darstellenden Kunst durchbricht indem eine Chicana dargestellt wird, die nicht als klassisch feminin gelesen wird.[11] Der tätowierte Rücken selbst wird somit zum Schrein, der dem lesbischen Chicana-Körper gewidmet ist. Die ausgestreckte Hand einer unbekannten Person, die dem Tattoo der Jungfrau eine Rose entgegenstreckt, lässt Betrachtende an einer Art weiblichen Intimität teilhaben, die durch die Handlung selbst verkörpert wird. Die Künstlerin lädt dazu ein, eigene Vorurteile zu reflektieren und die im Bild dargestellte lesbische Frau entweder anzuerkennen oder abzulehnen.[12] Die Verbindung zwischen den beiden handelnden Personen im Bild sowie die zentrale Rolle der Jungfrau von Guadalupe verdeutlichen, dass Intimität für die Frauen der Chicana-Bewegung sowohl kulturell als auch spirituell tief verwurzelt ist. Dieses gemeinsame Verständnis von Intimität, ob hetero- oder homosexuell, ist für Chicana-Frauen eine Verbindung, die durch ihren Glauben gestärkt wird und in der Form der Virgen de Guadalupe Gestalt annimmt.
Von Hoffnung und Widerstand
Ein weiteres zentrales Thema des Kunstwerks ist die positive Darstellung des Körpers oder Body Positivity.[13] Es kontrastiert die typische Medienrepräsentation von Latinx-Frauen, die oft als „genau an den richtigen Stellen kurvig“ stilisiert werden, so etwa durch Schauspielerinnen wie Sofia Vergara oder Salma Hayek.[14] Stattdessen präsentiert Hernandez die Chicana mit kurzen, blau gefärbten Haaren und einem zwar nackten Körper, der aber nicht sexualisiert wird. Dies unterstreicht die Kernbotschaft der Body Positivity, die in Selbstliebe und Anerkennung der Vielfalt von Frauenkörpern liegt. Im Bestreben der Chicanas, ihre Körper gegen Kapitalismus und Patriarchat zu verteidigen, sind die Verbreitung von körper-positiven, politischen und teils radikalen Bildern ein wirkmächtiges Werkzeug.
Die Neudarstellungen der Virgen de Guadalupe sind Teil eines größeren Bestrebens der Chicanas, ihre Identität aktiv zu gestalten und ein starkes kollektives Bewusstsein zu schaffen, das auf soziale Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und das Ende der Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen abzielt. Die Jungfrau ist dabei für die Bewegung zugleich Hoffnungsbild, Zeichen des Widerstands und Fürsprecherin für sozial Schwache.
Hashtag der Woche: #virgendeguadalupe
Das besprochenen Kunstwerk findet sich hier.
(Beitragsbild: @JulianaSadanha)
[1] Marietta Messmer, „Transformations of the Sacred in Contemporary Chicana Culture.“ Theology & Sexuality, Band 14 (2008): S. 260.
[2] McCracken, Ellen. “New Latina Narrative: The Feminine Space of Postmodern Ethnicity.” University of Arizona Press (1999): S. 104.
[3] Messmer. “Transformations” S. 262.
[4] Jeanette Favrot Peterson, „The Virgin of Guadalupe,“ Art Journal, Band 51, Nr. 4 (Winter 1992): S. 39
[5] Real Academia Española. s.v. “Mestizo,” Zugriff am 5.5.2024, https://dle.rae.es/mestizo?m=form.
[6] Kimberlé Crenshaw, „Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics,“ University of Chicago Legal Forum, Band 1989 (1989): S. 139-167.
[7] Messmer „Transformations,“ S. 262.
[8] Gloria Anzaldúa, „Coatlalopeuh: She Who Has Dominion over Serpents,“ in Goddess of the Americas. hrsg. von Ana Castillo, (New York: Riverhead Books, 1996), S.51.
[9] Anzaldúa, „Coatlalopeuh,” S.53.
[10] Debra J Blake, Chicana Sexuality and Gender: Cultural Refiguring in Literature, Oral History, and Art. (Durham, NC and London: Duke University Press, 2008), S. 22.
[11] Irene Lara, „Goddess of the Américas in the Decolonial Imaginary: Beyond the Virtuous Virgen/Pagan Puta Dichotomy,“ Feminist Studies, Band 34, Nr. 1/2 (2008): S. 99-127.
[12] Lara. “Goddess,” S. 73.
[13] Murphy, Shelby L, „Spaces of Spirituality: Feminist Cultural Productions via the Virgin of Guadalupe,“ (2019): S.41.
[14] Murphy. “Spaces,” S.43.