Trauer ist ein Thema, welches den allermeisten Menschen in ihrem Leben begegnet. Trauer ist so gesehen etwas ganz Normales, etwas Alltägliches, Natürliches. Hannah Bilgeri wirft im Zuge ihrer Masterarbeit einen genaueren Blick darauf.
Trauer gehört zum Leben dazu. Es ist daher nicht ungewöhnlich, dass dieses Thema bereits durch einige Menschen erforscht wurde. Es ist auch nicht ungewöhnlich, dass es viele Rituale für den Umgang mit Verlusten gibt, jedoch wird der Begriff des Trauerns meist mit dem Tod einer nahestehenden Person verbunden. Der größte Teil der Forschung, und auch die Rituale sind darauf ausgerichtet. Ich habe mich bei der Befassung mit dieser Thematik auf einen anderen Bereich fokussiert: Trauer um Verschwundene.
Konkret habe ich mich mit der Trauer von Menschen beschäftigt, die in den deutschsprachigen Raum geflüchtet sind. Viele von ihnen vermissen Personen, die auf der Flucht verschwunden oder im Ursprungsland zurückgeblieben sind. Oftmals ist nicht klar, ob Freund:innen und Familienangehörige noch leben und in den meisten Fällen bleiben Menschen verschwunden. Eine klare Antwort über den Verbleib oder Tod der Person gibt es selten. Diese Trauer lässt sich nicht in den üblichen Trauerprozess einordnen. Die ausführlichen, bekannten Rituale greifen nicht. Betroffene haben meist kein bestehendes soziales Netzwerk, sprachliche Barrieren, finden sich in einem anderen Land und in einer anderen Kultur wieder, bringen Traumata mit und sind allein mit der Ungewissheit, mit der schmerzlichen Hoffnung und mit der Unmöglichkeit zu trauern.
Die vier Trauerphasen nach Verena Kast
Bevor ich genauer auf die konkrete Thematik eingehen kann, folgt ein grober Umriss des üblichen Trauerprozesses. Dadurch soll in den späteren Ausführungen verständlich werden, weshalb diese Situationen nicht in den üblichen Trauerprozess einzuordnen sind und welche Schwierigkeiten sich dadurch ergeben.
Trauer ist kein Gefühl, sondern ein Prozess, in dem verschiedene, scheinbar widersprüchliche, Gefühle ihren Platz haben. Dieser Prozess verläuft nicht geradlinig und sieht bei jeder Person anders aus. Dennoch gibt es Modelle, welche versuchen, diesen Trauerprozess zu beschreiben und greifbar zu machen. Verena Kast hat ein solches Modell konzipiert und beschreibt vier Trauerphasen.1
- Verlieren Personen einen geliebten Menschen, erleben sie anfangs einen Schock, der mit Empfindungslosigkeit einhergeht.
- Darauf folgt ein Einbruch verschiedener, starker Emotionen, welche die trauernde Person regelrecht überfluten.
- Anschließend beginnt die Phase des Suchens, Findens und Sich-Trennens. Trauernde suchen in Erinnerungen, Träumen oder an realen Orten nach der verstorbenen Person. Mit jedem vermeintlichen Finden geht die Erkenntnis des Verlustes einher. Dieser Wechsel von Suchen, Finden und Sich-Trennen läuft immer wieder ab und ist ein wichtiger Teil des Prozesses.
- In der letzten Phase akzeptieren Betroffene den Verlust und gehen neue Beziehungen ein. Sie können den Verlust anerkennen.2
Der Durchgang des eben skizzierten Trauerprozesses ist an sich schwer genug. Es gibt während des Durchgehens der Phasen immer wieder Punkte, an denen sich Trauernde verlaufen können. Natürliche Trauer kann zu komplizierter Trauer werden.3
Das Verschwinden einer Person erschwert die Trauer von Anfang an. Sie könnte nächste Woche wieder auftauchen, oder? Wenn Menschen einen Verlust verarbeiten wollen, müssen sie die Endgültigkeit akzeptieren lernen. Das ist in dieser Situation nicht möglich. Es gibt keine Gewissheit. Barbara Preitler spricht von einem inneren Trauerverbot. Hinzu kommt ein äußeres, da es kein angemessenes Ritualangebot gibt, welches Orientierung und Halt bieten könnte. Trauer wird von innen und außen unterdrückt, um das Weiterleben scheinbar zu erleichtern.4
Rituale und ihre Bedeutung im Trauerprozess
Rituale haben in diesem Zusammenhang eine Schlüsselfunktion. Stirbt ein Mensch, werden Betroffene von Emotionen überflutet. Modelle und Rituale bieten einen Rahmen und geben Halt, wenn rundherum emotionales Chaos herrscht. Sie können der rote Faden sein, der durch die Dunkelheit führt.5
Ein bedeutendes Ritual ist die Beerdigung. Finden grundsätzlich umfangreiche Beerdigungen statt, treten weniger lange Trauerprozesse auf. Es scheint daher einen besonderen Stellenwert zu haben, wenn es um die Verarbeitung des Verlustes geht. Auch individuelle Rituale erzielen eine ähnliche Wirkung. Das Aufsuchen des gemeinsamen Lieblingscafés, oder das Anhören des Lieblingsliedes kann beispielsweise ein wirksames Trauerritual sein.6
Es geht nicht darum, wie genau das Ritual aussieht, sondern dass es eines gibt. Sie ermöglichen eine aktive, bewusste Begegnung mit dem Verlust. Aufgeladene Emotionen können kontrolliert nach außen gelangen. Auf die Begegnung folgt die Realisation des Verlustes und die notwendige Trennung. Diesen Wechsel von Konfrontation und Distanzierung bezeichnet die Bestatterin Christine Pernlochner-Kügler als einen Wechsel von Arbeits- und Erholungsphase. Nach diesem Vorbild werden ihre Verabschiedungen strukturiert.7
Wenn Menschen verschwinden, kann kein Verlust akzeptiert werden. Es kann keine Beerdigung stattfinden. Auch das Erzählen über die vermisste Person unterscheidet sich stark vom Erzählen über eine verstorbene Person. Wie kann Trauer aussehen, wenn die Möglichkeit besteht, dass die Person plötzlich wieder auftaucht? Im deutschsprachigen Raum gibt es dafür kaum Anleitungen, keine Konvention, wie sich Betroffene verhalten sollen.
Mir ist es ein Anliegen über dieses Thema zu sprechen, es sichtbar zu machen und mögliche Ritualbildung anzuregen. Es finden sich niederschwellig keine Angebote. Das ist eine große und schmerzliche Lücke.
Ritualelemente
Während der Auseinandersetzung mit der Thematik habe ich mich auf das Konzept der Gedächtnisfeier festgelegt. Es wurde bereits erwähnt, dass nicht die konkrete Form eines Rituales entscheidend ist, sondern dass es eines gibt. Für die konkrete Umsetzung gibt es viele verschiedene Möglichkeiten, welche an die Bedürfnisse der Betroffenen angepasst werden sollen. Es braucht keinen Beerdigungsersatz, sondern die Möglichkeit der Konfrontation mit dem Verlust innerhalb eines geschützten und geregelten Rahmens.
- Es braucht empathische, wertschätzende, qualifizierte Personen, die eine solche Gedächtnisfeier mitplanen und umsetzen.
- Es braucht einen Einstieg und ein Ende.
- Es braucht Ritualbausteine, die vorher besprochen werden, um eventuelle Trigger von Traumata zu vermeiden.
- Es braucht neben dem Hauptraum eine weitere Räumlichkeit, in der Menschen sich zurückziehen und erholen können.
- Es braucht möglicherweise Dolmetscher:innen usw.
Diese Liste ist unvollständig und zeigt lediglich einen kleinen Einblick. In meiner Masterarbeit findet sich eine detailliertere Aufzählung und Ausführung der einzelnen Punkte.8 Menschen mit Fluchterfahrung leben jetzt in Österreich und können nicht trauern. Es finden sich keine niederschwelligen Gesprächs- und Ritualangebote. Eine Lücke, die mit Mut, Kreativität, Flexibilität und Empathie möglicherweise gefüllt werden könnte.
Hashtag der Woche: #schmerzlicheluecke
Beitragsbild: @ann10
Der vorliegende Beitrag ist die Zusammenfassung einer Masterarbeit. Aufrufbar unter diesem Titel:
Bilgeri, Hannah. Kirchliche Trauerhilfen in der heutigen säkularen Gesellschaft: Wie können Menschen mit Fluchterfahrung in ihrer Trauer um Verschwundene unterstützt werden? Innsbruck: 2023
1 Vgl. Kast, Verena. Trauern: Phasen und Chancen des psychischen Prozesses. 1. Auflage. Freiburg im Breisgau: Verlag Herder, 2018, S. 83.
2 Vgl. Kast, Verena, S. 69-85.
3 Vgl. Rando, Therese A. „The Increasing Prevalence of Complicated Mourning: The Onslaught is Just Beginning.“ OMEGA – Journal of Death and Dying, 26(1) (1993): 43-59, S.44.
4 Vgl. Preitler, Barbara. „Wenn Menschen spurlos verschwinden: Psychotherapeutische Begleitung schwieriger Bewältigungsprozesse.“ Leitfaden 2014, Nr. 3: 64-67, S. 65f.
5Vgl. Frey, Dieter, Hrsg. Psychologie der Rituale und Bräuche: 30 Riten und Gebräuche wissenschaftlich analysiert und erklärt. 1. Aufl. 2018. Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg, 2018, S. 5f.
6 Vgl. ebd., S. 126.
7 Vgl. Pernlochner-Kügler, Christine. Du stirbst nur einmal – leben kannst du jeden Tag: Eine Bestatterin erzählt. Wien: Goldegg Verlag, 2021, S. 87f.
8Vgl. Bilgeri, Hannah. Kirchliche Trauerhilfen in der heutigen säkularen Gesellschaft: Wie können Menschen mit Fluchterfahrung in ihrer Trauer um Verschwundene unterstützt werden? Innsbruck: 2023, S. 63-70.