„Die Sinnhaftigkeit und Berechtigung kontextueller Theologie sehe ich als tief im christlichen Glauben verwurzelt.“ Simon Jäger verbringt im Rahmen seiner großen Externitas ein Jahr in Kenia und reflektiert für y-nachten über die Rolle der afrikanisch-christlichen Theologie und den Alltag auf den Straßen Nairobis.
Vor einiger Zeit kam ich ins Gespräch mit Bischof Emeritus Rodrigo Meijia Saldarriaga SJ. Wir sprachen über die von ihm benannte Matatu-Theologie, die er in einem Vortrag am Hekima University College darlegen sollte. Bischof Rodrigo verbrachte fast sein gesamtes Leben als Missionar in Ostafrika und gründete unter anderem die Pfarrei St. Joseph the Worker in den Kangemi-Slums (in der ich lebe) sowie das Hekima College (an dem ich studiere), an dem er als Dozent für Pastoraltheologie tätig war. Mit der „Matatu-Theologie“ beschreibt er eben jene Tage am College, zu dem er jeden Tag mit dem Matatu aufgebrochen ist – den Kleinbussen, die den alltäglichen Personenverkehr Kenias stemmen. Ich lege momentan jeden Tag dieselbe Wegstrecke zurück wie Bischof Rodrigo damals. Nachdem ich die ersten Monate ebenfalls mit dem Matatu unterwegs war, besorgten wir uns für die Jesuitenkommunität ein kleines Motorrad, welches auf Kiswahili „Boda-Boda“ genannt wird. Bei meiner Begegnung mit Bischof Rodrigo und dem Gespräch über die Gastvorlesung „Matatu-Theologie“, scherzte ich, dass ich „Boda-Boda Theologie“ betreiben würde. Und der Gedanke einer Boda-Boda-Theologie, als einer Theologie, die von den Erlebnissen und Bildern auf den Straßen Nairobis ausgeht, fiel mir nicht schwer. Damit nähern wir uns einer kontextuellen Theologie, die besonders für die afrikanisch-christliche Theologie prägend ist.
Kontextuelle Theologie
Herbert Vorgrimmler definiert kontextuelle Theologie als einen
„Sammelbegriff [in welchem] die unterschiedlichsten theologischen Interessen und Methoden darin übereinkommen, dass die theologische Reflexion […] von einem jeweils genau zu bestimmenden sozio-kulturellen Umfeld ausgehen [muss] und in ihm ihren Lebensraum [hat].“1 Die Grundbedingungen für die Entstehung und Entwicklung kontextueller Theologie bildete das Zweite Vatikanische Konzil. Die Pastoralkonstitution Gaudium et Spes sagt bereits klar aus, dass „die angepasste Verkündigung des geoffenbarten Wortes […] ein Gesetz aller Evangelisation bleiben [muss]“.2
Afrikanisch-Christliche Theologie
Von diesem Fundament aus entwickelte und entwickelt sich afrikanisch-christliche Theologie in unterschiedliche Richtungen und geht unterschiedlichen theologischen Fragestellungen nach. John Mbiti widmete sich beispielsweise ausführlich den traditionell afrikanischen Gottesvorstellungen, um diese auf ihre Beziehung zum Gott der Heiligen Schrift zu untersuchen.3 Kofi Appiah-Kubi versuchte ausgehend von der Heiligen Schrift Christus in den Kulturen Afrikas zu verwurzeln.4 Nicht zu vergessen sind insbesondere in Südafrika befreiungstheologische Ansätze.5 Die Bandbreite der Themen und Fragestellungen entspricht hierbei der Definition Vorgrimmlers vollkommen. So befragt John Mbiti in seiner Suche nach dem Gott der Bibel und dem Gott Afrikas 270 unterschiedliche Stämme bezüglich ihrer traditionellen Gottesvorstellungen und begibt sich dabei in ihren religionsgeschichtlichen Kontext.6 Ebenso Kofi Appiah-Kubi der für seine Christologie aus den Traditionen Afrikas und somit eines bestimmten Kontextes schöpft.7 Die Befreiungstheologien gehen klar vom sozio-ökonomischen Kontext der Unterdrückten Afrikas aus und zielen auf eine Befreiung „von Allem, was den Afrikaner daran hindert wahrhaft Mensch zu sein.“8 Nach diesen Beispielen kommt die Frage auf, was nun wirklich den Kern einer kontextuellen Theologie bildet und ob Theologie nicht zwangsläufig kontextuell ist. Dass Dogma immer in einem historischen Kontext steht, bestätigt bereits das Zweite Vatikanische Konzil im Dekret über die Ausbildung der Priester Optatam Totius9 und ganz selbstverständlich ist auch, dass beispielsweise Clemens von Alexandrien oder die Kappadokier ihre Trinitätslehre auf der Basis und im Kontext ihrer Philosophie und der biblischen Tradition formulierten. Die Differenz zwischen den klassischen Debatten, modernen dogmatischen Abhandlungen und auch manchen lehramtlichen Schreiben liegt unter anderem in der Intentionalität begründet. So verbanden beispielsweise die Kirchenväter die ihnen zur Verfügung stehende Philosophie (Kontext/Kultur) mit dem geoffenbarten Wort Gottes, jedoch nicht mit der Intention es für die Menschen ihrer Zeit, ihres Kulturkreises und somit ihres Kontexts verständlich zu machen. Das Wort Gottes war bereits in die griechische Welt hinein geboren und somit inkulturiert. Ein weiterer Unterschied liegt darin begründet, dass Kontextuelle Theologie sich darum bemüht den Kontext eindringlich zu verstehen, was wie Vorgrimmler richtig bemerkt:
„große interdisziplinäre Anstrengungen [erfordert]“.10
Die Bedeutung kontextueller Theologie
Die Sinnhaftigkeit und Berechtigung kontextueller Theologie sehe ich als tief im christlichen Glauben verwurzelt. „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt“.11 Gott wird Mensch an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit, in bestimmte sozio-ökonomische Bedingungen und somit in einen konkreten Kontext. Das bedeutet, unser Kontext und unsere Erfahrung gewinnen an Bedeutung für Theologie, nicht nur in einem inkarnatorischen Sinn. Auch in einem soteriologisch-eschatologischen Sinn, indem Jesus Christus in seiner Erhöhung und Himmelfahrt seine menschlichen Erfahrungen, die in einem Kontext stattgefunden haben, in einem qualitativen Verständnis mit in die hypostatische Union hineinnimmt.12 Gemäß der zentralen Glaubensinhalte darf und kann uns eine kontextuelle Theologie auch in Europa aufmerksam machen und reizen, die Kontexte unserer Zeit besser zu verstehen und von ihnen heraus oder in Verbindung mit ihnen Theologie zu betreiben.
Schließen möchte ich mit einem Bild, das ich tagtäglich vom Boda-Boda aus sehe und das für mich Theologie wird: Die vielen Mütter auf den Straßen Nairobis, die ein Kind auf dem Rücken tragen, einen Korb mit Gemüse auf dem Kopf und gerade auf dem Weg nach Hause sind, wo sie das gesamte Familienleben tragen. Der Jesuit und Theologe A.E. Oroboator nutzt dieses in Afrika alltägliche Bild, um die Trinität verständlich zu machen.13 Er beschreibt es als keine Idealvorstellung, sondern viel mehr als eine Realität in afrikanischen Gesellschaften. In einem heilsökonomischen Sinn ist die Afrikanische Mutter (Obirin Meta) sehr hilfreich, um die Trinität für Menschen in Afrika greifbar und verständlich zu machen. So wie Gott Alles aus dem Nichts geschaffen hat, bringt auch die Obirin Meta Leben hervor. So wie Gott in Jesus Christus den Menschen einen Weg zum Leben in Fülle aufgezeigt hat, lehrt auch Obirin Meta ihre Kinder und versucht sie zur Fülle des Lebens zu führen. So wie der Heilige Geist als Paraklet tröstet und die Kirche zusammenruft, so schenkt Obirin Meta das gleiche, indem sie ihr Haus öffnet, für jeden der nach Hilfe sucht und schafft so für die Familie und alle die ihr verbunden sind einen Ort der Liebe und der Gastfreundschaft in Analogie zur Kirche.
Hashtag der Woche: #BodaBodaTheologie
Beitragsbild: @randominstitute
1 Vorgrimmler, Herbert: Neues Theologisches Wörterbuch, Neuausgabe 2008 (6. Aufl. des Gesamtwerkes), Verlag Herder, Freiburg.
2 Pastoralkonstitution: Gaudium et Spes: Über die Kirche in der Welt von Heute 44.
3 Vgl. Mbiti, John: Concepts of God in Africa, 1970, Praeger Publisher, New York.
4 Vgl. Appiah-Kubi, Kofi: Jesus Christ: Some Christological aspects from African perspective, 1977, Genf.
5 Vgl. Nyamiti, Charles: African christologies today, veröffentlicht in: Jesus in African Christianity, Hg.: Mugambi, J.N.K.; Magesa, Laurenti, 1989, Acton Publishers, Nairobi.
6 Vgl. Mbiti.
7 Vgl. Appiah-Kubi; Penoukou.
8 Nyamiti.
9 Vgl. Dekret: Optatam Totius: Über die Ausbildung der Priester 16.
10 Vorgrimmler.
11 Johannes 1, 14.
12 Vgl. von Balthasar, Hans Urs: Eschatologie in unserer Zeit: Die letzten Dinge des Menschen und das Christentum, 2005, Freiburg, Herder.
13 Vgl. Orobator, A.E.: Theology brewed in an African Pot, 2008, Orbis Books, Maryknoll, New York.